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Die Risiken der Versorgungsforschung
Ausgabe 02 / 2013
Literaturrecherchen zum Thema „Risiken der Versorgungsforschung“ sind nicht ergiebig, weil das Thema bisher offensichtlich nur selten bearbeitet wurde. Um die Risiken der Versorgungsforschung von den Risiken anderer Formen der Forschung abzugrenzen, nehmen wir - ergänzend zu den bisher angebotenen Definitionen der Versorgungsforschung (1) - an, dass sich die primären Ziele der Forschung und der Versorgung grundsätzlich unterscheiden. Bei einem traditionellen Forschungsprojekt besteht das primäre Ziel im Erkenntnisgewinn, während bei einem Versorgungsprojekt das primäre Interesse die bestmögliche Versorgung betrifft, ohne dass gleichzeitig neue Erkenntnisse gewonnen werden sollen. Wenn dieses Konzept der primären Ziele von Forschung und Versorgung angewandt wird, zeichnen sich Projekte der Versorgungsforschung durch die Kombination beider Ziele aus.
Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse bei insulinbehandelten Typ-2-Diabetes-Patienten unter realen Versorgungsbedingungen
Ausgabe 01 / 2012
Trotz deutlicher Fortschritte in der Diabetestherapie haben Typ-2-Diabetespatienten ein erhöhtes Risiko kardiovaskuläre Folgekomplikationen zu entwickeln (1,2). Bei unzureichender Stoffwechselkontrolle unter nichtmedikamentösen Maßnahmen und oraler antidiabetischer Behandlung wird deshalb heute ein früher Einstieg in die Insulintherapie empfohlen (3). Unter den kurz wirksamen Insulinen zeichnet sich das Analoginsulin Glulisin durch eine besonders schnelle und hohe Absorption aus dem subkutanen Gewebe aus (4). Für Glulisin konnte im Vergleich zu kurzwirksamem Humaninsulin (Normalinsulin) eine stärkere Senkung des postprandialen Blutzuckeranstiegs sowie eine raschere Normalisierung der postprandialen Mikrozirkulation gezeigt werden (5). Antidiabetikabehandlungen, die auf die Beeinflussung postprandialer Glukoseexkursionen abzielen, haben auch einen positiven Einfluss auf klinische Parameter der koronaren Herzkrankheit und deren Folgen (6,7). Derzeit gibt es jedoch noch keine prospektiven Daten über die Auswirkungen kurzwirksamer Insuline auf das Risiko von kardiovaskulären Komplikationen bei Typ-2-Diabetes. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die pharmakologischen Vorteile von Glulisin unter realen Versorgungsbedingungen Auswirkungen auf das Auftreten kardiovaskulärer Komplikationen im Vergleich zu Normalinsulin haben.
Multi-disziplinärer Blick auf soziale gegenseitige Selbsthilfe und politische Selbsthilfeorganisation von Menschen mit chronischen und seltenen Erkrankungen
Ausgabe 01 / 2012
Selbsthilfe im Gesundheitswesen ist nicht individuelle Eigenhilfe, sondern selbstorganisierte Hilfe auf Gegenseitigkeit von Menschen, die die relevanten Merkmale und von diesen Merkmalen massgeblich geprägte Lebenslagen teilen und insofern, genossenschaftswissenschaftlich ausgedrückt, Deckung des Bedarfs der MitgliederInnen auf Gegenseitigkeitsbasis besorgen. Sie ist selbstorganisierte, aber soziale, das heißt hier: gemeinschaftliche Sorgepraxis. Dies gilt vor allem auf der Mikroebene der sozialen Gruppenaktivitäten. Besonderheiten von seltenen Erkrankungen (Achse 2010: 26) sind gleich noch zu berücksichtigen. Professionalisierungen und Formalisierungen beginnen im Zuge der Verbandsbildung auf Meso- und Makroebene (vgl. www.achse-online.de; www.namse.de, und paneuropäisch www.eurodis.org). Dies wiederum wird gleich noch vor allem in politikwissenschaftlicher Sicht interessieren.
Ergebnisse der AOK-Bundesauswertungen zur gesetzlichen Evaluation der DMP für die Indikation Diabetes mellitus Typ 2
Ausgabe 01 / 2012
Die Disease-Management-Programme (DMP) zielen auf die flächendeckende Verbesserung der medizinischen Versorgung chronisch kranker Patienten. Das Ziel des Behandlungsprogramms ist es, über den gesamten Verlauf einer chronischen Krankheit und über die Grenzen der einzelnen Leistungserbringer hinweg die Behandlung der Patienten zu koordinieren sowie die Gesundheit der Patienten auf der Grundlage medizinischer Evidenz zu optimieren. Einerseits geht es darum die „Varianz“ der Behandlung durch den Behandler zu minimieren (Glaeske 2011) und Behandlungsgrundsätze für die Behandlung durch die Ärzteschaft basierend auf der medizinischen Evidenz zu ermöglichen. Andererseits soll auch der Patient aktiv in den Behandlungsprozess eingebunden werden. In der Arzt-Patient Interaktion sollen Behandlungsziele in Bezug auf die Veränderung des Lebensstils oder auch das Erreichen medizinischer Werte festgelegt werden. Die Behandlungsschritte und der gesundheitliche Zustand werden in einem Dokumentationsbogen durch den behandelnden Arzt festgehalten. Im Rahmen der gesetzlichen Evaluation der DMP werden zudem für eine Stichprobe der Patienten Leistungsausgaben und Befragungsdaten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität erhoben. Diese Daten werden – in pseudonymisierter Form – auf Individualebene verknüpft und ausgewertet.
„Politischer Wille zur Transparenz ist nötig“
Ausgabe 01 / 2012
Die größten Hindernisse sieht Prof. Dr. Karl Wegscheider, Direktor des Instituts für Medizinische Biometrie und Epidemiologie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf und u.a. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesversicherungsamtes (BVA) zur Evaluation der Disease-Management-Programme, nicht in der Frage der Studiendesigns, sondern in der weit verbreiteten Verfolgung von Partikularinteressen im Gesundheitswesen. Die Verbesserung der Versorgung steht nach Meinung Wegscheiders an zweiter Stelle hinter den eigenen wirtschaftlichen oder politischen Interessen der handelnden Parteien, die entgegen vielen Lippenbekenntnissen oft gar kein Interesse an Transparenz hätten. Sein Vorwurf: „Überlebte Strukturen werden abgeschottet und verteidigt, als wären sie nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst der Zweck des Gesundheitswesens.“ Entsprechend sei Forschung häufig nicht wirklich gewollt und Ergebnisse, die zu Konsequenzen führen müssten, würden ausgesessen.
Qualitätssteigerung durch Transparenz? Einsatz von Gütesiegeln im Gesundheitswesen
Ausgabe 04 / 2012
Als lange gefordertes ordnungspolitisches Leitbild soll mehr Wettbewerb zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, der Bedarfsorientierung und der Versorgungsqualität beitragen. Doch neben positiven Effekten führt die (bedingt durch die Wettbewerbsdynamik) erhöhte Angebotsvarianz zu einem Informationsungleichgewicht auf der Nachfrageseite, die eine vollständige Marktübersicht unmöglich macht. Immer mehr Gütesiegel, Zertifikate, Auszeichnungen und Ratings weisen als Orientierungshilfen den Verbrauchern den Weg, deren derzeitige inflationäre Ausuferung wiederum zu einer Verunsicherung führt. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Omnibus-Studie des Fachbereichs Prävention und Gesundheitsförderung der APOLLON Hochschule, der Standpunkt der Entscheider des Gesundheitswesens zum Einsatz und den Wirkungen von Gütesiegeln untersucht.
Impact der Versorgungsforschung für die Versorgungsrealität
Ausgabe 04 / 2012
Versorgungsforschung und Versorgungsrealität sind eng miteinander verwoben. Ein konstituierender Bestandteil der Versorgungsforschung ist es, Versorgungsrealität zu analysieren, zu bewerten und zur Optimierung beizutragen. Insbesondere im Kontext der Gesetzlichen Krankenversicherung erhält dies eine besondere Bedeutung. Die Umsetzung und Optimierung von Versorgungsmodellen gehört zu einer der Kernaufgaben einer Krankenkasse. Wissenschaftliche Evidenz und Versorgungsmanagement bilden damit eine quasi natürliche Einheit. Die Umsetzung von Erkenntnissen der Versorgungsforschung in den Versorgungsalltag bildet damit den direkten Nutzen für Versicherte der Krankenkasse als auch für die GKV ab.
Versorgungsstrukturen und Patientenrolle im Wandel der Medizin und des Gesundheitssystems
Ausgabe 04 / 2012
Aus heuristischen Gründen lohnt es sich für unsere Zwecke die primäre Organisationsform der Medizin in drei Phasen einzuteilen: I. die Medizin der traditionalen Gesellschaft, II. die Medizin der modernen Gesellschaft und III. die Medizin der nächsten Gesellschaft (s. ausführlich Schubert and Vogd 2008; Vogd 2011). Die Medizin der traditionalen Gesellschaft – man denke etwa an die höfische Medizin des 17. Jahrhunderts, man könnte aber ebenso die indigenen Heilkulturen von Stammesgesellschaften betrachten – war von ihrer Praxisorganisation primär eine interaktionsorientierte Medizin (vgl. Eckart 1998). Üblicherweise fand ein ausführliches Krankenexamen im häuslichen Kontext statt. Diagnose und Therapie wurden mit dem Patienten ausgehandelt, wobei der unmittelbare soziale Kontext berücksichtigt werden konnte. Die Bedeutung der interaktiven Aushandlungsprozesse war seitens des Behandlers allein schon deshalb unhintergehbar, um Folgeaufträge zu sichern.