Bei ZSE-DUO steuert ein fachärztliches Lotsenteam
http://doi.org/10.24945/MVF.02.20.1866-0533.2209
>> Zwar sieht das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (SE) die Versorgung der Betroffenen in spezialisierten Zentren vor, von denen es bislang in Deutschland immerhin 31 gibt. Doch obwohl es laut SE-Atlas 32 deren wichtigste Aufgabe ist, geeignete krankheits-übergreifende Strukturen und Abläufe zur Diagnosefindung bei Menschen mit unklarer Diagnose und Verdacht auf eine Seltene Erkrankung zu etablieren, gelingt das in der bisher etablierten Regelversorgung nur zum Teil. Das liegt vor allem an der Grundproblematik, dass Menschen, die sich mit Verdacht auf eine Seltene Erkrankung an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen wenden, zumeist schon eine diagnostische Odyssee hinter sich haben, bei der kein Arzt eine passende Diagnose und Behandlung für die Beschwerden finden konnte. „Die Erfahrungen haben gezeigt, dass bei Menschen mit sehr komplexen Beschwerdebildern häufig psychische Begleiterkrankungen bestehen, wobei die damit verbundenen Symptome wiederum die Anzeichen einer Seltenen Erkrankung verschleiern und so eine Diagnose und Behandlung erschweren beziehungsweise verzögern können.“ Damit verdeutlicht Prof. Dr. Helge Hebestreit, Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen – Referenzzentrum Nordbayern des Universitätsklinikums Würzburg, die Problematik ei-
ner Diagnosefindung.
Diese tritt immer dann auf, wenn Patienten ihre Symp-tome schildern, die primär organische oder auch psychiatrische Ursachen haben, und die psychiatrischen wiederum sekundär auf Grund oder als Teil einer Seltenen Erkrankung entstanden oder gar unabhängig davon erworben sein können. In der Regelversorgung trifft jedoch ein SE-Patient zuerst meist auf einen Mediziner, dem es extrem schwer fällt, bei einem somatisch geprägten Patienten bestehende Symp-tome ein- und zuzuordnen, gerade im Bereich der Neurologie, bei Schmerzen oder Erschöpfungszuständen oder gar Panikattacken, die eben primär Teil des Problems sein oder im Lauf einer langjährigen Patienten-Odyssee erworben sein können. Der aufnehmende Arzt wird darum, wenn er den Bedarf einer psychosomatischen, psychiatrischen oder einer Gesprächstherapie erkennt, den Patienten an einen entsprechenden Facharzt weiterleiten. Das Problem dabei: Der Patient fühlt sich missverstanden oder gar wieder einmal weggeschickt. Und muss im Zweifel zudem bis zu einem Jahr auf einen Termin bei einem niedergelassenen Psychosomatiker warten. „Damit verzögert sich für den Patienten die Zeitspanne bis zur Abklärung einer gesicherten Diagnose womöglich um Jahre“, gibt Hebestreit zu bedenken.
Mit und in der (wohl weltweit) neuen Versorgungsform ZSE-DUO soll das anders laufen. Es untersucht, ob durch die gemeinsame Patientenbetreuung – bestehend aus einem somatischen Facharzt, z. B. für Innere Medizin oder Neurologie, und einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – der Anteil der Patienten mit einer gesicherten Diagnose steigt und zudem die Zeit bis zu dieser Diagnose verkürzt werden kann. „Unser Lotsensystem soll einem Patienten mit einer Seltenen Erkrankung helfen, seinen Weg ins und durch das Medizinsystem zu finden und für seine ganz individuelle Krankheit den richtigen Ansprechpartner zu finden, egal wo dieser sitzt, eine Tür weiter, 3 oder auch 6.000 Kilometer weiter“, erklärt Hebestreit den Grundgedanken hinter ZSE-DUO.
Der primäre Endpunkt, auf den die statistische Power ausgelegt ist, ist die Zahl der begründeten Diagnosen, welche die Symptome der Patienten wirklich erklären können. Bisher können derartige sichere Diagnosen (Gendiagnose, organische Diagnose und zusätzliche psychiatrische Diagnose) bei 30% der Patienten abgegeben werden. Dieser Prozentsatz, so hoffen die Initiatoren, kann um 10% erhöht werden; wobei sie durchaus die Hoffnung auf deutlich mehr haben. Doch auch so wäre schon eine zehnprozentige Steigerung nicht nur statistisch, sondern auch klinisch relevant. „Wenn wir bei jedem zehnten Patienten eine sichere Diagnose stellen können, die wir sonst nicht gehabt hätten, ist das auf jeden Fall klinisch relevant“, gibt Hebestreit im Gespräch mit „Monitor Versorgungsforschung“ zu Protokoll. Über eine noch höhere Steigerung würde er sich zwar freuen, weiß aber auch genau, dass das nicht nur eine Frage des dafür einzusetzenden Aufwands ist, sondern vor allem auch den oft sehr diffusen Symptomen geschuldet ist, mit denen eine Vielzahl der Seltenen Erkrankungen einhergehen. Aber auch, dass man einfach etwas übersehen kann, „nicht häufig, aber auch nicht komplett auszuschließen“.
Doch beim Projekt ZSE-DUO eben weniger als bisher. Denn frei nach dem Motto, dass vier Augen mehr sehen als zwei, kann das erstaufnehmende Team (somatischer Arzt und Psychosomatiker/Psychiater) sehr schnell eine Unterscheidung treffen, welche Symptome zu einer SE gehören oder welche sich aufgrund des Leidenswegs entwickelt haben. Damit können Patienten von Beginn an und ohne weitere Wartezeit in eine „weiterbetreuende Versorgung, im wahrsten Sinne des Wortes“ (Hebestreit) überführt werden. Dazu wurde bei den teilnehmenden elf Zentren für Seltene Erkrankungen jeweils eine halbe Stelle für einen Spezialisten für psychiatrisch-psychosomatische Erkrankungen geschaffen, der von Anfang an und vor allem dauerhaft die Abklärung der Beschwerden begleitet. Ebenso wurde zudem ein zusätzlicher psychiatrisch/psychosomatischer Lotse installiert, der zum einen dem Patienten mit Rat und Tat zur Seite stehen, aber auch dem niedergelassenen Arzt Unterstützung anbieten soll, der auch nicht genau weiß, wo er einen Patienten mit einer Seltenen Erkrankung am besten hinschicken kann, vor allem dann, wenn dieser womöglich eine Multiorgan-Problematik hat. Der Lotse muss darum möglichst genau wissen, welche Kompetenzen im eigenen Zentrum vorliegen, aber auch einen guten Überblick regional, deutschlandweit oder gar weltweit besitzen, um für den jeweiligen Patienten die individuell besten Möglichkeiten zu finden.
Dass Patienten damit womöglich dem eigenen Haus verloren gehen könnten, davor haben die behandelnden Zentren keine Angst. Der Grund: Der Befroffene soll da betreut werden, wo man sich am Besten auskennt. Und auch finanzielle Zwänge gibt es nicht, da die Behandlung von SE-Patienten im aktuellen System nicht kostendeckend erfolgen kann.
Darum ist die neue Versorgungsform, die mit ZSE-DUO erprobt wird, auch relativ teuer. Zum einen muss ein zusätzlicher Psychosomatiker/Psychiater vorgehalten werden, zum anderen wird die Untersuchung und Anamnese sowohl von somatisch orientierten Mediziner(n), als auch dem Psychosomatiker/Psychiater geleistet. Das wirft Fragen auf: Wie viel Zeit soll/muss dieses Team gemeinsam mit dem Patienten haben? Wie und wer schreibt einen Arztbrief? Oder: Wie können etablierte, evaluierte Standard-Screeningfragebögen wie PHQ (Patient Health Questionnaire) oder EQ5D (European Quality of Life 5 Dimensions) den Bedarf an Zeit mit dem Psychiater abschätzen lassen? All das fließt in, im Rahmen von ZSE-DUO zu erstellendes Manual ein, in dem nicht nur das Ziel des Projektes erklärt, sondern auch die doppelte Lotsenstruktur (Nicht Psychiater und Psychiater) mit wichtigem Detailwissen angereichert wird. Damit soll die Überführung dieser neuen Versorgungsform in die Regelversorgung nach Beendigung des Projektes (inklusive Evaluation) Mitte 2022 erleichtert werden.
Wie das geschehen kann, ist völlig offen. Denn bislang ist ZSE-DUO als Selektivvertrag aufgesetzt. Die Eigenart dieses Vertragstypus ist es nun einmal, mit einer oder einigen, aber eben nicht allen Kassen geschlossen zu werden. „Wenn die duale Lotsenstruktur von ZSE-DUO irgendwann einmal verstetigt würde, sollte sie allen Patienten aller Kassen zur Verfügung stehen“, weist Hebestreit auf einen Widerspruch in sich hin: Denn genau das ist mit Selektivverträgen eben nicht möglich. Hier muss, wenn sie es denn will, die Politik, agieren.
Doch soweit ist das Projekt noch lange nicht. Zwar wurden seit Oktober 2018 all diejenigen Menschen zur Teilnahme am Projekt eingeladen, die sich wegen einer unklaren Diagnose an eines der elf teilnehmenden Zentren für Seltene Erkrankungen wenden und wenigstens zwölf Jahre alt sind. Doch konnten bis September 2019 erst 682 Patienten in die Kontrollgruppe (KG) eingeschlossen werden. Seit dem 1. Oktober 2019 läuft nun die Rekrutierung der gleichen Anzahl von Patienten für die Interventionsgruppe (IG) – rund 200 konnten bisher eingeschlossen werden. Dennoch hofft Hebestreit, die nötige Zahl bis zum Ende der schon verlängerten Rekrutierungszeit im September dieses Jahres zu erreichen, trotz der negativen Einflüsse des Corona-Virus.
Ist diese Phase abgeschlossen, werden die Patienten der Interventionsgruppe ein Jahr lang mit der neuen Versorgungsform betreut. Und dann, wenn es sinnvoll ist, an eine möglichst wohnortnahe Regelversorgung abgegeben. Da die Patienten häufig weit von den jeweils behandelnden Zentren entfernt leben und zum Teil mobil stark eingeschränkt sind, werden neben den etablierten Strukturen einer Präsenzsprechstunde bzw. psychosomatischen Betreuung im Rahmen der Regelversorgung zusätzlich telemedizinische Ansätze etabliert.
Mit Telemedizin soll aber auch die Überleitung in die Regelversorgung begleitet werden. Für die hier nötige Patientenkommunikation hat das Uniklinikum Würzburg (als eine von wenigen in Deutschland) schon seit Jahren Skype for Business etabliert, bei der die gesamte Kommunikation über und auf einem hochsicheren Server des Uniklinikums läuft. Diese Möglichkeit wurde innerhalb des Projekts allen zehn anderen beteiligten Zentren angeboten, damit diese die Software nutzen können. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Bei ZSE-DUO steuert ein fachärztliches Lotsenteam“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/20), S. 30-31, doi: 10.24945/MVF.02.20.1866-0533.2209