Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber ist gefordert
>> In Deutschland leiden rund zwei Millionen Menschen an chronischer Herzinsuffizienz. Die Mortalität, der Leidensdruck und die Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen sind hoch. Und die medizinische Versorgung dieser Patientengruppe kostet circa drei Milliarden Euro pro Jahr; hauptsächlich verursacht durch Behandlungen im Krankenhaus (1). Die Nationale Versorgungs- Leitlinie chronische Herzinsuffizienz emp- fiehlt daher für Patienten mit einem erhöhten Mortalitäts- oder Hospitalisierungsrisiko eine strukturierte telefonische Betreuung und Tele-Monitoring, da die Teilnahme an Telemedizinprogrammen zu einer nachweis- lichen Reduktion der Sterblichkeit und der Anzahl Krankenhaustage führen kann (2,3,4).
Nun ist es jedoch so, dass die Kassen sehr gut wissen, dass die Teilnahmequote bei lediglich 2% ohne vorrangig telefonische Information liegt, aber bis auf 20 oder gar 30% steigen kann, wenn eine vorrangig telefonische Information eingesetzt wird.
Die Aufsichtsbehörde begründet ihr Verbot damit, dass Telefonanrufe (damit auch die der Krankenkassen) eine unzumutbare Belästigung im Sinne des § 7 Absatz 2 UWG („Telefonwerbung“) seien. Doch: Was hat ein Telefonanruf mit vielleicht sogar lebenswichtigen Informationen oder dem Angebot eines für den individuellen Patienten absolut nutzwertigen Versorgungsangebots mit Werbung zu tun?
Nun kann man den Aufsichtsbehörden der Krankenkassen konzedieren, dass sie in durchaus guter Absicht eine telefonische Ansprache von Versicherten ohne vorherige schriftliche Einwilligung untersagt haben. Möglicherweise wollten sie Aktivitäten unterbinden, die vorrangig im wirtschaftlichen Interesse der Kassen lagen (z.B. Krankengeldmanagement). Doch haben sie eben nicht bedacht, dass die Versicherten selbst ein Interesse haben können, vor einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bewahrt zu werden, zum Beispiel wenn
• Patienten mit einem sehr hohen Risiko nach Krankenhausaufenthalten entlassen werden
• Lebensrettende Versorgungsmöglichkeiten vorhanden wären, diese aber noch nicht genutzt werden
• Etwaige Probleme beim Entlassmanagement auftreten
• Datengestützte Erkenntisse vorliegen, dass die Arzneimitteltherapie-Sicherheit gefährdet ist
• Hochrisikofaktoren vorliegen, weil Menschen mit bestehenden Vor- und Grund- erkrankungen ein deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der Covid- 19-Erkrankung aufweisen (WIdO, s. S. 22).
In vielen Fällen würde das Einholen ei- ner schriftlichen Erklärung womöglich zu viel Zeit kosten oder vielleicht sogar überhaupt nicht möglich sein, so dass die Informatio- nen die Patienten nicht erreichen können. Daher bedarf es – um womöglich Menschenleben retten zu können – einer dringenden Klarstellung durch den Gesetzgeber: Die Versicherten haben das Recht, von ihrer Krankenkasse über potenziell lebensrettende Versorgungsangebote – auch vorrangig tele- fonisch – informiert zu werden. Dabei könnte es sich eben um eine nutzwertige Leistung der Krankenkasse für ihre Versicherten handel, die keineswegs eine unlautere geschäftliche Handlung im Sinne des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) darstellt.
Einen Vorstoß in diese Richtung hat bereits der Spitzenverband Bund unternommen und versucht, diesen in den Entwurf des „Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ einzubringen. Der Verband der Ersatzkassenen (vdek) (5) hat diesen Vorschlag kommentiert und auch befürtwortet, weil gerade in der aktuellen Corona-Krise „deutlich werde, dass die Krankenkassen Versicherte mit konkreten Gesundheitsrisiken nicht zeitnah und hinreichend beraten und gezielt geeignete Gesundheitsleistungen anbieten können“.
Darum sollten nach Ansicht des vdek gesetzliche Anpassungen im §11 SGB V vorgenommen werden, um kurzfristig Handlungsmöglichkeiten zu realisieren. Der vdek-Vorschlag, nach dem Krankenkassen Versicherte „beim Vorliegen von konkreten Gesundheitsrisiken gezielt beraten und im Rahmen des Versorgungsmanagements individuell geeignete Gesundheitsleistungen sowie darüber hinaus Leistungen zur allgemeinen und individuellen Gesundheitsvorsorge anbieten“ können sollen, ging jedoch dem damit konfrontierten BMG anscheinend noch etwas zu weit und wurde denn auch nicht in das eben beendete Pandemie-Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Dennoch: Dafür sollte in den kommenden Gesetzgebungsverfahren ganz dringend eine Lösung gefunden werden. <<
Literatur:
1: DESTATIS Statistisches Bundesamt. Krankheitskostenrechnung, 2015; Neumann et al. 2009 Dtsch Ärzteblatt 106:269-79.
2: Version 1, 3. Auflage, 2019, AMWF-Register-Nr. nvl-006; Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (Träger: Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), Empfehlung 12-14
3: Kloss C.; Ergebnisse des Mecor-Programms der Knappschaft; Berlin, Hauptstadtkongress 2019
4: Liersch S. et al.; Telemonitoring reduziert signifikant die Mortalität von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz: eine Sekundärdatenanalyse auf Basis von Krankenkassendaten; Clin Res Cardiol 108 Suppl 2, October 2019 – Beitrag P558
5: https://www.vdek.com/content/dam/vdeksite/vdek/politik/stellungnahmen/20200422_vdek_Stn_COVID-Bevoelkerungsschutzgesetz%20II.PDF