„Jetzt ist die Zeit der Public Health gekommen“
http://doi.org/10.24945/MVF.03.20.1866-0533.2225
>> Aktuell veröffentlichen wir in dieser Ausgabe nicht nur Ihr erstes, sondern gleich auch Ihr zweites, noch sehr ausführlicheres Thesenpapier. Doch zuallererst die Frage: Welche Reaktion haben Sie denn auf Ihr erstes, kürzeres Thesenpapier zu SARS-CoV-2 bekommen?
Schrappe: Als wir das erste Thesenpapier verfasst haben, befanden wird uns in der Zeit einer noch ansteigenden Infektionswelle. Damit einher ging eine spürbare Beunruhigung der Öffentlichkeit, der Politik und der Medien. Mit unserem ersten Thesenpapier haben wir daher vor allen Dingen versucht, etwas Ruhe und mehr Evidenz zu schaffen. Basierend auf den zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Daten und Fakten, verfolgten wir das Ziel zu überlegen, welche Ansatzpunkte sich vor allem für die Pandemie-Prävention ergeben. Die vielen hunderte an Reaktionen, die wir bekommen haben, fand ich persönlich durchaus überraschend – sowohl auf die von uns vorgeschlagenen Präventionsstrategien für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, als auch auf generelle gesellschaftspolitische Einlassungen, beispielsweise zur möglichen Verstärkung sozialer Ungleichheiten. Aber auch die Thematik der Corona-App beziehungsweise der Grundrechte, eigentlich etwas untypisch für Wissenschaftler, die sich häufig eher nicht dazu berufen fühlen, über politische Implikationen nachzudenken, wurde besonders oft positiv gewertet.
Glaeske: Ich persönlich war sehr überrascht von der Vielfalt der Rückmeldungen – vom politischen bis hin zum wissenschaftlichen Umfeld. Das lag natürlich auch daran, dass unser Paper eines der ersten überhaupt war, das sich kritisch mit den bisherigen Entscheidungen der Politik auseinandergesetzt hat. So lauteten zumindest eine Reihe von Überschriften der Medien, die sich mit unseren Thesen und Erläuterungen befasst und teilweise die Autoren unserer Gruppe nach der Publikation auch noch ausführlich interviewt haben.
Woran lag das Ihrer Meinung nach?
Glaeske: Der Grund dafür war eindeutig, dass wir in unserem Beitrag eine offene, doch sehr konstruktive Kritik geübt haben, was die politische Einschätzung dieser Pandemie, besonders aber auch die damit verbundene Kommunikation betraf, die aus unserer Sicht für viele Menschen kaum verständlich und in den politisch verordneten Konsequenzen nicht immer nachvollziehbar war. Und dass unser Papier trotz des am Vortag veröffentlichten Gutachtens der Leopoldina auf so großes Interesse traf, hat uns gefreut und auch in unserer Arbeit bestätigt.
Schrappe: Zuerst haben wir gedacht, dass die beiden Papers miteinander konkurrieren würden. Doch wurde sehr schnell unterschieden zwischen unserem Papier, das von unserer Autorengruppe freiwillig und ohne jedwede finanzielle Unterstützung aus einer – wenn man so will – wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Verpflichtung heraus erstellt wurde, und dem offiziösen Papier der Leopoldina, das im Auftrag der Politik geschrieben worden ist.
Glaeske: Dieser deutlich erkennbare Unterschied hat dazu geführt, dass viele Menschen, die sich damit inhaltlich auseinandergesetzt haben, besonders aber viele Kollegen aus dem wissenschaftlichen und politischen Umfeld, sich sehr viel mehr mit unseren, doch recht konkreten Aussagen identifizieren konnten, als mit den eher allgemeinen Botschaften des Leopoldina-Papiers. Uns gegenüber wurde auch immer wieder bestätigt, dass wir eine Sprache gefunden hätten, die in der Lage sei, ohne irgendwelche Schuldzuweisungen eine offene, evidenzgeleitete und vor allen Dingen zukunftsgewandte Diskussion anzustoßen.
Schrappe: Der letzte Punkt ist mir sehr wichtig. Unserem Autorenteam geht es auch mit dem nun vorgelegten Thesenpapier 2.0 in keiner Weise darum, in irgendeiner Form Politik-Bashing zu betreiben. Wir wollen einzig und alleine dazu beitragen, dass nach der Zeit der Virologen, die zu Beginn der Pandemiekrise sicher absolut richtig und wichtig war, das Sichtfeld um andere Wissenschaftsfelder und -bereiche erweitert wird; allerdings mit der kleinen Randbemerkung versehen, dass man diese Sichtweisen eigentlich schon sehr viel früher hätte einbinden müssen.
Glaeske: Damit gemeint sind ganz explizit Bereiche wie die Sozio-logie, Ökonomie, Public Health und Versorgungsforschung, die allesamt eine wichtige analytische, aber auch aufdeckende Rolle spielen können. Damit wollen wir nichts gegen die Virologie an sich sagen, die zu Beginn einer Pandemie mit einem bisher unbekannten Virus eine wichtige Rolle gespielt hat. Doch wäre es unserer Ansicht nach fatal, sich bei all den bereits beschlossenen und künftig noch anstehenden politischen Entscheidungen alleine auf die doch recht
schmale Basis der Virologie – einer Laborwissenschaft – zu verlassen.
Und aufgrund des erfreulich großen medialen wie kollegialen Echos haben Sie dann Lust bekommen, ein noch weit ausführlicheres, zweites Thesenpapier zu verfassen.
Schrappe: So ungefähr. Das erste Thesenpapier kann man mit dem Begriff „akute Intervention“ umschreiben. Doch war uns angesichts der Dynamik der Corona-19-Epidemie absolut klar, dass man die im ersten Papier angesprochenen Punkte vertiefen und wissenschaftlich besser unterlegen muss. Dazu ein Beispiel: In dem ersten Thesenpapier wurde formuliert, dass neben der allgemeinen Entwicklung und Dynamik der nosokomialen Ausbreitung des Corona-Virus in der Bevölkerung bestimmte Besonderheiten zu beachten sind; insbesondere
diejenigen, welche die Institutionen des Gesundheitswesens und der Pflege betreffen. Wir haben es bei Corona eben nicht mit einem gleichförmigen Geschehen zu tun, sondern mit einem herdförmigen Auftreten in sogenannten Hotspots.
Das ist nichts allzu Neues.
Schrappe: Aber leider allzu oft verdrängtes Wissen, das in der Infektiologie zum ganz normalen Handwerkszeug gehört – gewiss nicht nur in Zeiten einer Pandemie. In fast jeder Klinik gibt es irgendwann einmal emergente Phänomene, wie etwa einer nosokomialen Infektion auf einer Intensivstation. Das Problem dabei ist immer: Derartige Phänomene treten absolut plötzlich und natürlich meist am späten Freitagnachmittag auf und hinterlassen wie ein Blitzeinschlag tiefste Spuren. Mit derartigen Phänomenen habe ich mich fast mein gesamtes Berufsleben lang beschäftigt und viele Schlüssel in der evidenzbasierten Medizin, der Organisationstheorie und natürlich ganz besonders in der Versorgungsforschung gefunden.
Sie sprechen damit das bekannte Throughput-Modell an, das Professor Pfaff und Sie entworfen haben.
Schrappe: Genau. Die Frage, die wir uns gestellt und die wir meiner Meinung nach auch beantwortet haben, lautet: Wie ist es mit einem solchen Modell möglich, in die sehr komplexe Entwicklung einer Epidemie sinnvoll einzugreifen?
Die Antwort lautet?
Schrappe: In der Analogie zur Thematik nosokomialer Infektionen brauchen wir für Covid-19 nicht nur aufgerüstete Gesundheitsämter, sondern ganz spezifische Task Forces, die zum einen die Kenntnisse haben und zum anderen in der Lage sind, schnell steuernd einzugreifen. Es muss möglich sein, in einem höchstens dreistündigen zeitlichen Horizont kompetente und entscheidungsbefugte Teams vor Ort zu schicken, um plötzlich auftretenden Akutsituationen besser begegnen zu können. Dann wird das, was in Bergamo, Heinsberg oder in den diversen Pflegeheimen passiert ist, besser beherrschbar sein. Auch wird sich bei den Mitarbeitern und in der Bevölkerung aufgrund der unweigerlich stattfindenden medialen Berichterstattung nicht mehr das Gefühl einer nicht zu bremsenden Katastrophe ausbreiten.
Glaeske: Das bedingt jedoch ein sehr stringentes, auf Evidenz basierendes Kommunikationskonzept. Zu beachten sind hier auch Public-Health-orientierte und psychosoziale Aspekte, die im bisherigen Verlauf der Pandemie schon deutlich erkennbar aufgetreten sind, die Einsamkeit älterer Menschen ebenso wie die Abkoppelung von Schülern und Studenten von ihren Bildungseinrichtungen. Das war zum Zeitpunkt, an dem das erste Papier geschrieben wurde, noch nicht so dramatisch, weil sich diese Phänomene erst in den Tagen und Wochen mit den einsetzenden Lockdowns entwickelt haben. Das war übrigens ein Gesichtspunkt, den ich besonders wichtig an unserem zweiten Papier finde. Mich interessiert als Public-Health-Wissenschaftler ganz besonders die Fragestellung der psychosozialen Belastungen der Gesundheit von Menschen in solchen Situationen. Man muss sich dazu die Dramatik des Geschehens nur einmal deutlich über die Bilder ins Gedächtnis rufen, die immer wieder gezeigt wurden: Militärfahrzeuge in Bergamo, die Särge abtransportierten, total überfüllte Krankenhäuser in Norditalien, enorm viele Todesfälle in den USA und Leichen auf den Straßen in Brasilien – das alles wurde in den Medien brutal dargestellt. Und dass dann viele Menschen – auch nicht direkt Betroffene – Ängste, Panik und depressive Gedanken entwickeln und sich in der ihnen auferlegten Quarantäne letzten Endes persönlich eingeengt und alleine gelassen fühlen, kann nicht erstaunen und wurde in vielen Studien schon lange vor Corona beschrieben. Auch dass in solchen Ausnahmesituationen Aggressionen geschürt werden und unter anderem die häusliche Gewalt zunimmt, ist bekannt. Dennoch traten und treten diese Aspekte in der medialen Öffentlichkeit kaum in Erscheinung; auch in der politischen Kommunikation ist darüber wenig zu hören. Man zeigt und kommentiert zwar allenthalben das Verhalten der Bürger, ob und inwieweit sie sich an Abstandsregeln und Versammlungsverbote halten, doch wird die emotionale Lage der Bevölkerung weitgehend ausgeblendet. Doch gerade aus Public-Health-Sicht ist diese psychosoziale Situation der Menschen ein wichtiger Anteil gesellschaftlicher Gesundheit, die Gegenstand in der Versorgungsforschung sein muss, um zielgruppenspezifische Präventionsmaßnahmen planen zu können.
Es irritiert indes schon, dass in der ersten Zeit sowohl die Public Health als auch die Versorgungsforschung still war.
Glaeske: Das hat auch uns ausgesprochen gewundert. Wir haben uns immer gefragt: Wo sind die Public Healther und die Versorgungsforscher, die die Chance gehabt hätten, sich frühzeitig an den Diskussionen zu beteiligen? Wir waren sehr erstaunt darüber, dass sich zwar Kooperationen im Bereich Public Health gegründet haben, aber bisher eigene wissenschaftliche Arbeiten, die den Public-Health-Aspekt und damit den gesellschaftsorientierten Gesundheitsaspekt in den Mittelpunkt stellen, ausge-blieben sind.
Warten wir noch auf deutsche Studien?
Glaeske: Die werden sicher kommen. In der Zwischenzeit wurde bereits ein sehr schönes Papier von der Arbeitsgruppe um die Kollegin Riedel-Heller publiziert, das wir auch zitiert haben. Dabei handelt es sich um eine Überblicksarbeit von 13 internationalen Studien zum Thema psychosoziale Belastungen in Krisensituationen. Uns fehlen aber konkrete Erhebungen aus Deutschland. Das ist deshalb schade, weil es wichtig wäre, in der rückwirkenden Betrachtung der Pandemie auch deutsche Daten aus dem Bereich der Versorgungsforschung und Public Health für eine analysierende Aufarbeitung der derzeitigen Krisensituation heranziehen zu können.
Da prescht doch Ihr Autorenteam vorbildlich vor. Im ersten Thesenpapier hatten Sie drei Thesen mit diversen Unterthesen, im zweiten bereits 23. Wie kam es zu der doch enormen Ausweitung?
Schrappe: Das rührt ganz einfach daher, dass wir im zweiten Papier allen Thesen eine besondere Vertiefung erfahren haben lassen.
Zum Beispiel?
Schrappe: Unter anderem haben wir die Häufigkeitsmaße problematisiert und postuliert, dass sich an der Stelle leider nichts zum Guten gewendet hat.
Inwiefern?
Schrappe: Beispielsweise wird unsere Gesellschaft weiterhin mit Infektionszahlen konfrontiert, die fast tagtäglich ansteigen. Das kommt jedoch, was die wenigsten wissen, fast nur daher, dass ganz einfach der Stichprobenumfang ansteigt. Will heißen: Die tagtäglich vom RKI und dann den Medien berichteten Infektionszahlen steigen zum größten Teil nicht deshalb, weil eine wirkliche Zunahme an Infektionen gemeldet wird, sondern weil einfach mehr Leute getestet werden. Ähnliches gilt übrigens auch für die Sterblichkeitszahl. Ich bin in meiner ärztlichen Ausbildung in den 80er-Jahren noch dazu erzogen worden, bei jedem Todesfall, der möglicherweise auf eine bestimmte, im Fokus stehende Erkrankung zurückgeht, ganz penibel zu prüfen, woran der Mensch nun wirklich gestorben ist; und ob vielleicht nicht doch eine andere Sekundärerkrankung ganz zufälligerweise zum Tode geführt hat. Glücklicherweise haben wir in unserer Autorengruppe Professor Püschel aus Hamburg, der als Erster damit begonnen hat, die im Rahmen der Covid-19-Epidemie gestorbenen Hamburger Patienten zu obduzieren – obwohl das RKI damals noch ganz anders argumentiert hat. Man kann jedoch mit einer Obduktion einen covid-bedingten Todesfall von einem unter Umständen nicht-covid-bedingten Todesfall unterscheiden, was für die Erarbeitung tatsächlicher Sterblichkeitszahlen eine, wenn nicht die entscheidende Frage ist. Auch haben wir uns mit den eingesetzten Testinstrumenten beschäftigt, wie etwa der Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion, kurz RT-PCR, die bei uns als Goldstandard angesehen wird.
Bei der über die RNA nachgewiesen wird, ob ein Patient oder auch eine Türklinke infektiös ist oder nicht.
Schrappe: Exakt. Unsere Hypothese geht nun dahin, dass man vermehrt darauf schauen sollte, ob in der zweiten Krankheitsphase PCR-Tests nach Beendigung der Symptomatik noch etwas über die Infektiosität aussagen. In dieser Phase liegt in der Regel eine Antikörper-Antwort vor, und es ist nicht klar, ob man noch einen vermehrungsfähigen Virus replizieren kann. Wenn dem aber nicht so ist, gibt es eigentlich keinen Grund mehr, den betreffenden Menschen in Quarantäne zu schicken, weil einfach dessen Infektiosität nicht mehr gegeben ist.
Warum wird das nicht gemacht?
Schrappe: Weil es aufwändiger ist. Doch sollte man unserer Auffassung nach, wenn man schon einen Menschen in Quarantäne schickt und damit dessen Freizügigkeit massiv beschränkt, dies gut oder zumindest bestmöglich begründen.
Lassen Sie uns das Thema der Infektions- und Todesfallzahlen noch etwas vertiefen, die inzwischen durch die Reproduktionszahl etwas abgelöst oder auch ergänzt wurde. Warum argumentiert die Politik mit diesen Zahlen?
Schrappe: Es war zu Beginn der Pandemie das Einfachste. Durch ständig steigende Zahlen konnte in der politischen Kommunikationsstrategie sehr schnell der Ernst der Lage dargestellt werden.
Glaeske: Das war zu Beginn auch nicht falsch. Doch wurde meines Erachtens leider der Zeitpunkt verpasst, kritischer beleuchtete und hinterfragte und vor allen Dingen evidentere Zahlen in die Diskussion einzubringen. Wahrscheinlich hatte man jedoch auf politischer Ebene die Befürchtung, dass der einmal aufgebaute Druck auf die Menschen in unserer Gesellschaft zu schnell gemindert werden könnte.
Schrappe: Das ist aber jetzt nicht mehr tragbar. Dazu ein Beispiel: Wenn wir zu einem gewissen Zeitpunkt 160.000 Infizierte und 100.000 Genesene haben, liegt die Differenz bei 60.000 Erkrankten, was dann vom RKI auch so berichtet und von den Medien entsprechend aufgegriffen und kommentiert wird. In der Differenz-Gruppe finden sich jedoch zum betrachteten Zeitpunkt zum einen die tatsächlich Erkrankten, zum Zweiten aber auch all diejenigen, die nie eine Krankheit entwickelt haben – das sind die asymptomatisch Infizierten. Und drittens auch noch all diejenigen, die nur geringe Symptome ausgeprägt haben und vielleicht als grippale Infekte in irgendwelche anderen Statistiken eingehen werden.
Und damit ist die gesamte Differenz-Gruppe der Diagnostik entgangen.
Schrappe: Wichtiger ist, dass die darauf aufbauende politische Kommunikation – zu behaupten, dass die 60.000er Differenz-Gruppe erkrankt wäre – die Situation unnötig dramatisiert und eine grob falsche Darstellung ist.
Glaeske: Bei all dieser Zahlen-Fixiertheit wird auch vergessen, dass Häufigkeitsmaße wie Infizierten- oder Todesfallzahlen nach dem Throughput-Modell der Versorgungsforschung kein Outcome-, sondern ein Output-Faktor sind. Jedoch auch, dass es viel wichtiger ist, die wirklichen Outcomes zu erforschen und – sobald erkannt – zu verbessern. Damit sind wir schon wieder bei der Public-Health-Wissenschaft und Versorgungsforschung, bei der es weniger darauf ankommt, rein quantitativ infizierte oder an Covid-19 gestorbene Menschen zu zählen. Uns interessiert, wie Menschen mit der ihnen auferlegten Situa-tion zurecht kommen sowie wie und wo sie sich eingeengt fühlen. Unter Umständen mag es vielen Leuten wichtiger sein, die Eltern im Pflegeheim besuchen oder den Enkel umarmen und herzen zu können, als ständig jeden Tag schier unaufhaltsam anwachsende Zahlen anzuschauen. Das hilft auch keinem schwer an Covid-19 Erkrankten, der auf der Intensivstation liegt und nicht zu selten intubiert wird, obwohl das oft gar nicht nötig wäre, zumindest nicht über so lange Zeiträume. Aber das ist ein anderes Thema. Ich möchte damit nur zum Ausdruck bringen, dass für die Bevölkerung als Outcome nicht die Zahl als solche wichtig ist, sondern andere Themen: Ob sie ihre Autonomie behält, ob die Grundlagen des weiteren Funktionierens der Gesellschaft gewahrt bleiben oder ob die ökonomische Basis ihres zukünftigen Lebens gesichert ist. Wenn ein Mensch wegen Corona seine Arbeit verliert, das Unternehmen, bei dem er beschäftigt ist, Kurzarbeit anordnet oder gleich Insolvenz anmelden muss, ist das für das individuelle Outcome-Empfinden von viel entscheidenderer Natur als die ständige Konfrontation mit einer vom Einzelnen kaum konkret interpretierbaren Infektionszahl. Genau hier ist die Versorgungsforschung gefragt, die den Transfer vom Input-Faktor – hier des Corona-Erregers – über den Throughput bis zu den Output-Faktoren – wie viele Behandlungen werden durchgeführt, reicht die Zahl der Intensivbetten – bis zum patienten- und populations-spürbaren Outcome erforschen kann. Damit würden vermehrt unterschiedliche Blickwinkel in die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen eingebracht, die in der ersten, von der Virologie geprägten Pandemie-Zeit kaum vorkamen.
Nun doch Virologen-Bashing?
Schrappe: Keine Spur. Die Virologie war in der ersten Phase enorm wichtig, doch ist in der Mittel- und Langfrist-Betrachtung die damit eingebrachte Laborperspektive einfach zu eng. Darum war mir nicht unsympathisch, was der Bonner Professor Streeck mit seiner einerseits virologisch, andererseits aber auch versorgungsforscherischen Arbeit am Hotspot Heinsberg/Gangelt für die Diskussion geleistet hat. Genau das braucht die Versorgungsforschung: Vor Ort zu forschen, eigene Primärdaten erheben, um diese dann methodisch sauber interpretieren zu können. Nun kann man durchaus kritische Anmerkungen zu den Ergebnissen und dem ersten medialen Auftritt machen, doch war die sogenannte Heinsberg-Studie aus unserer Sicht ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie haben sich in Ihrem Papier auch sehr intensiv mit der Effektiven Reproduktionszahl beschäftigt und detailliert ausgeführt, dass nach den ersten Versammlungsverboten die Reproduktionszahl schon unter Eins gefallen war, bevor die verschärfenden Lockdown-Maßnahmen erfolgt sind. Waren denn die Lockdowns überhaupt nötig, wenn man deren Wirkung an der Entwicklung der Effektiven Reproduktionszahl gar nicht so richtig ablesen kann?
Schrappe: Hier differiert unsere Aussage von dem Narrativ vieler anderer. Das RKI meint, dass der von Ihnen angesprochene Fakt geradezu ein Hinweis darauf sei, dass sich die von der Politik – auf Empfehlung der beratenden Virologen – getroffenen Maßnahmen schon sehr frühzeitig ausgewirkt hätten. Ebenso wird befürchtet, dass Infektionsraten wieder nach oben geschnellt wären, wenn man die Tatsache der schon länger unter Eins befindlichen Reproduktionszahl als Signal genutzt hätte, um vielleicht schon ab Mitte März bestimmte Lockerungen in Gang zu setzen.
Wollen Sie damit behaupten, dass die Politik ihre Lockdown-Situation bewusst nicht entspannt hat, obwohl man sie möglicherweise schon etwas früher hätte lockern können?
Schrappe: Da gilt der berühmte Spruch von Peer Steinbrück: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Will heißen: Vorher weiß man leider nie, was später exakt passiert, nachher eben schon. Ich bedaure jedoch, dass dieser Fakt so wenig kommuniziert worden ist. Im Grunde genommen muss man der gesamten politischen Kommunikation diesen Vorwurf machen. Damit meine ich nicht, dass sie aus vielerlei Gründen immer der jeweils aktuellen Entwicklung hinterherhinkt. Sondern, dass sie zu wenig erklärt und vor allem nicht den Mut hat, die verwandten Zahlen in den richtigen Kontext zu stellen.
Doch muss der Normalbürger die kommunizierten Zahlenwerke und deren Hintergründe erst einmal verstehen.
Schrappe: Und davon gibt es einige. Wir haben hier letztendlich drei quantitative Themen zu bearbeiten. Erstens: Die Maße für die Häufigkeit mit ihren Aussagen über den Stand heute und gestern. Zweitens: Das ausreichende Vorhandensein und die Nutzung von Testverfahren. Und drittens: Angaben, welche die Politik zum Steuern braucht, um die Dynamik der Epidemie überhaupt zu erfassen und dann kommunizierbar zu machen. Nehmen wir hier die Verdoppelungszeit und dann die Reproduktionszahl. Grob gesagt nimmt man dazu zwei Kollektive, die einen bestimmten Zeitraum auseinanderliegen. Im ersten, früheren Zeitraum misst man die Häufigkeit der Infektionen, in unserem Falle anhand der Zahl der gemeldeten Fälle. Dann wartet man ein paar Tage, solange theoretisch eben eine Ansteckung dauert, nimmt noch einmal eine Stichprobe und vergleicht diese mit der ersten. Das ist grundsätzlich keine schlechte Idee, wobei das Ergebnis immens davon abhängig ist, wie gut die Angaben in diesen beiden Zeiträumen abgesichert sind.
Sie haben in Ihrem Thesenpapier das Gedankenexperiment ausgeführt, dass die Zahl der Neuinfektionen auf Null fällt, wenn man im zweiten Zeitraum überhaupt nicht mehr testen würde.
Schrappe: Weil rein mathematisch der Quotient aus den beiden betrachteten Zeiträumen Null ergibt. Doch was passiert, wenn man die Anzahl der anlassbezogenen Tests im zweiten Zeitraum verdoppelt? Ebenso klar: Dann findet man mehr Fälle und die Reproduktionszahl steigt an. Genau das sieht man an den vorliegenden Zahlen: Die Reproduktionszahl hat in den vergangenen zwei Wochen die 1 nicht überschritten. Das kann man durchaus als verstärkten Hinweis darauf werten, dass wir – wenn selbst unter der aktuellen Maßgabe, die Zahl der Tests zu erhöhen, die 1 nicht überschritten wird – von einem sich abflachenden Infektionsgeschehen sprechen könnten. Das alles leider unter der Maßgabe, dass die Grundausgangswerte eben keine repräsentativen Stichprobenwerte sind, weil es sich um vorwiegend anlassbezogene Tests handelt, die man sowieso mit spitzen Fingern anfassen sollte. Darum kann man Ihre Frage so schwer beantworten: Die Zahlenbasis für eine solche Wertung ist nicht sicher genug. Aber es gilt eben auch: Nachher weiß man immer alles besser.
Wie schaffen wir denn eine Kohorte, um wirklich evidente Zahlen zu bekommen?
Schrappe: Es ist meiner Meinung nach nicht entschuldbar, dass wir es versäumt haben, bereits früh mit einer Nationalen Kohorte zu starten. Im Gegensatz dazu wurde Ende der 80er Jahre für HIV sehr schnell eine Nationale Kohorte eingeführt. Das war auch völlig richtig, denn bei HIV – wie aktuell auch der Covid-19-Epidemie – steht die asymptomatische Übertragung im Mittelpunkt. Bei Masern, übrigens viel ansteckender als HIV und Corona, handelt es sich hingegen um eine Übertragung (z.B. Exanthem) durch Symptomträger, so dass man relativ schnell sagen kann, wo und wie die Ausbreitungswege verlaufen, indem man ganz einfach der Spur der Erkrankten folgt. Die hier zu Tage tretende, ganz grundsätzliche Unterscheidung und Fragestellung ist für jeden Infektiologen die wichtigste: Gibt es asymptomatisch infektiöse Träger oder nicht? Im Zusammenhang mit Covid-19 heute und HIV damals, müssten alleine darum schon alle Alarmglocken schrillen. Man braucht immer, um die tatsächliche Größenordnung eines solchen Problems abschätzen zu können, eine repräsentative, möglichst große Stichprobe, die zudem regelmäßig untersucht werden muss. Für mich ist kein Grund erkennbar, warum man in Deutschland Anfang März nicht sofort damit angefangen hat, eine Nationale Covid-19-Kohorte zu bilden. Beginnend mit der ausreichenden Zuweisung von Mitteln, aber auch mit der angesagten politischen Aufmerksamkeit für ein derartig wichtiges Basiszahlenwerk, für dessen Entwicklung und Mitarbeit die Virologen eigentlich hätten Schlange stehen müssen – mit eineinhalb bis zwei Meter Abstand natürlich.
Hätten sie es vor allen Dingen nicht auch anregen, womöglich gar erzwingen müssen?
Schrappe: Sie hätten. Sicher. Dann könnten wir heute sehr evident sagen, wie die Ansteckung in der Bevölkerung wirklich verläuft und – da wir jetzt über Antikörpertests verfügen – wie groß der Anteil der heute schon immunen Menschen tatsächlich ist.
Anstatt sich auf Hochrechnungen wie aus Heinsberg verlassen zu müssen.
Schrappe: Nationale Kohorten mit ihren repräsentativen Stichproben muss man immer um anlass- und Hotspot-Cluster-bezogene Interventionen ergänzen. Dabei handelt es sich um zwei grundverschiedene Maßnahmen. Die repräsentative Stichprobe beobachtet den generellen Verlauf der Infektion in der Bevölkerung – entsprechend der allgemeinen Präventionsmaßnahmen. Die Untersuchung der Cluster bezieht sich auf die Infektionswege im Rahmen eines Herdgeschehens und bereitet spezifische Präventionsmaßnahmen vor. Nicht unproblematisch ist es, aus einer Heinsberger Stichprobe auf die deutsche Gesamtbevölkerung hochzurechnen. Letztendlich ist das eine Frage, die wir auch schon im ersten Thesenpapier angesprochen haben: die des politischen Willens und der Weitsichtigkeit der beratenden Experten, bei denen vielleicht der Laborblick etwas zu sehr zu dominieren scheint.
Glaeske: Damit wollen wir keineswegs andeuten, dass der naturwissenschaftliche Blick nicht wichtig ist. Nur wäre es in der jetzigen Phase angebracht, Know-how-Träger zu Wort kommen zu lassen, die in der praktischen Ausbreitung von Infektionen Erfahrung haben. Da denke ich speziell auch an Wissenschaftler aus dem Infection-Control-Bereich, die aber bisher nicht beratend hinzugezogen worden sind. Hier hat die politische Ebene vielleicht eine Art Blindheit für diese Option, vielleicht weil die schiere Zählung der Infektionszahlen eine gewisse Scheinsicherheit erzeugt hat und darum auch kein Druck gemacht worden ist. Oder man hat einfach die erweiterten Handlungsoptionen und auch Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, nicht gesehen. Leider ist das Robert Koch-Institut, das muss man wirklich offen sagen, von sich aus nicht – zumindest nach außen nicht erkennbar – in dieser Richtung aktiv geworden. Eigentlich verwunderlich, weil die Infektiologie- und Public-Health-Nähe des RKI dazu dringenden Anlass gegeben hätte.
Hätte, hätte heißt auch: Man hat es versäumt, zum richtigen Zeitpunkt adäquat und konsequent zu agieren.
Glaeske: Unser Papier könnte auch den Aufruf wie „be prepared“ unterstützen, der ja nichts anderes ausdrückt, als sich rechtzeitig auf weitere solcher Epidemien oder auch Pandemien vorzubereiten. Wenn wir zum Beispiel die Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2013 zur Hand nehmen und nachlesen, was seinerzeit alles zur Vorsorge gegen kommende Epidemien akribisch geplant wurde, dann muss man heute konstatieren, dass Vieles über die Jahre nicht ausreichend beachtet und vorbereitet wurde. Herr Spahn betont immer wieder, dass wir täglich dazulernen. Das ist sicherlich richtig. Richtig ist aber auch, dass wir schon einiges seit der Vogel- und Schweinegrippe wussten und auch beschrieben haben, dass diese Planungen jedoch nur halbherzig berücksichtig wurden. Möglicherweise wirkt der Föderalismus in Deutschland in diesem Bereich auch als Bremsschuh, um möglichst rasch zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Dennoch geht meines Erachtens kein Weg daran vorbei, gemeinsame Strategien und Maßnahmenpläne zu entwickeln, um auf derartige Epidemien oder Pandemien ausreichend vorbereitet zu sein, sowohl personell als auch in der Ausstattung mit Schutzkleidung und Masken vor allem für Krankenhäuser, Arztpraxen sowie Alten- und Pflegeheime.
Herr Schrappe, die Frage ist nun etwas gemein: Welche der 23 Thesen des zweiten Thesenpapiers ist die wichtigste und warum?
Schrappe: Das ist ganz eindeutig das Thema spezifischer Pandemie-Präventionsansätze. Zur Zeit sehen wir international hauptsächlich zwei Präventionsansätze und empfinden den von uns vorgeschlagenen Präventionsansatz als den dritten Weg. Zum einen haben wir den Ansatz der sogenannten Herdenimmunität, die fast schon zum Schimpfwort geworden ist, weil sie leider meist stark vereinfachend dargestellt wird, obwohl diese Art der Prävention in Schweden sehr differenziert verfolgt wird. Zum Zweiten haben wir die große Gruppe an Staaten, die der Mitigation-Strategie folgt und versucht, die Infektionskurve abzuflachen, um möglichst Überforderungen und vor allem keine katastrophalen Zuspitzungen im Gesundheitswesen zu erzeugen.
Wo ist das Problem?
Schrappe: Ganz einfach. Je besser die Mitigation-Strategie funktioniert, desto weniger kann man damit aufhören. Und unweigerlich kommt – wie jetzt spürbar – die Angst vor der zweiten und dritten Infektionswelle. Darum wird bei uns wie in einigen anderen Ländern dieses Vorhaben ergänzt durch die Suppressions-Strategie. Damit möchte man versuchen, durch die Detektion und Kontrolle sämtlicher Infektionswege den Erreger quasi doch auszurotten, um so die mit der Mitigation erzielte Abflachung der Infektionsrate ganz auf Null zu bringen.
So jedenfalls hat es Kanzlerin Merkel in einer Pressekonferenz beschrieben.
Schrappe: Wenn das funktioniert, kann man davor nur den Hut ziehen. Doch das ist eine schon sehr riskante Strategie. Sie unterstellt, dass unsere moderne Gesellschaft mit ihren 83 Millionen Individuen in ihrem sehr hohen Vernetzungs- und Komplexitätsgrad so zu kontrollieren wäre, dass letztendlich auch noch der letzte Infektionsfall frühzeitigst entdeckt, isoliert oder entsprechend behandelt werden kann. Man kann jedoch an diesem hehren Vorhaben, wenn man sich mit Infektionskrankheiten ein bisschen auskennt, durchaus begründete Zweifel haben: Es wird immer irgendwo Personen oder Orte geben, mit und an denen sich eine Infektion asymptomatisch ausbreitet, sozusagen überwintert und dann irgendwann wieder auftaucht.
Glaeske: Das würde, wenn man diesen Ansatz weiterdenkt, eine ewige oder zumindest lang andauernde Kontrolle der Gesellschaft erfordern, was absolut unbekannte, sehr weitreichende Folgen und Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben haben würde.
Und der dritte, der Mittelweg?
Schrappe: Der dritte Weg zur Prävention liegt eben genau zwischen Herdenimmunität auf der einen, und Mitigation/Supression auf der anderen Seite. Wir haben schon im ersten Thesenpapier die Behauptung aufgestellt, dass die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (social distancing etc.) durch spezifische, zielgruppenorientierte Präventionsstrategien ergänzt werden müssen. Hierzu haben wir im Kapitel 3.4 unseres zweiten Thesenpapiers konkrete Vorschläge gemacht, z. B. haben wir das Konzept regionaler Corona-Task-Forces weiter ausgearbeitet und versucht, an einem Beispiel zu zeigen, wie man den Schutz von vulnerablen Bevölkerungsgruppen, die einem besonderen Risiko unterworfen sind, verbessern könnte.
Glaeske: Der wichtigste Punkt dabei ist allerdings die Konnotation und das Framing. Bloßes Wegsperren vulnerabler Subgruppen wird nicht funktionieren und stellt auch einen Akt der Unmenschlichkeit dar.
Schrappe: Es ist indes bezeichnend für die derzeitige Geisteshaltung, dass beim Begriff „Schutz von unter hohem Risiko stehenden Bevölkerungsgruppen“ als erstes der Begriff des „Wegsperrens“
assoziiert wird.
Was wäre denn besser?
Glaeske: Zum Thema Risikokommunikation haben wir ein ganzes Kapitel geschrieben. Beschrieben wird hier, wie mit politischer Kommunikation das Framing, also der Interpretationszusammenhang, so gestaltet werden kann, dass sich die Bürger informiert und in ihrer Autonomie gestärkt fühlen können.
Ein Beispiel?
Schrappe: Nehmen wir dazu zum einen eine Bevölkerungsgruppe, die weniger gefährdet ist, wie zum Beispiel Kinder. Und auf der anderen Seite die Gruppe mit einer enormen Gefährdung – insbesondere ältere Personen mit mehreren Krankheiten gerade des kardiovaskulären Systems, solche, die sich in einem Pflegeheim, in der ambulanten Pflege oder im Krankenhaus befinden oder in einem Hotspot-Cluster wohnen. Für diese beiden Gruppen schlagen wir ein Punkte-System vor, mit dem sich ein detaillierter Risikoscore entwickeln lässt. Der Unterschied ist, dass damit ein Mensch mit individuell erhöhtem Risiko an Covid-19 schwer zu erkranken, nicht per se zum langwährenden Aufenthalt in seinen eigenen vier Wänden verdonnert wird, sondern ein Hilfsangebot bekommt, das auf seinen persönlichen Risikoscore zugeschnitten ist. Damit ist jedoch nicht nur ein Zwei-Stunden-Einkaufsslot am frühen Vormittag gemeint, sondern zum Beispiel kostenlose Schnelltests auf PCR-Basis für die Enkel, wenn sie ihren 80-jährigen Opa besuchen möchten: Heute der Test für alle Angehörigen und morgen geht es zum lang ersehnten Familien-Besuch. Warum können wir im Sinne eines Generationenvertrags diesen Risikogruppen nicht einen prioritären Zugang zu Impfstrategien versprechen, falls es diese einmal gibt?
Glaeske: In diesem Zusammenhang ist mir die Tatsache sehr wichtig, dass die Corona-Pandemie viele sogenannte Kollateralschäden mit sich bringt. Ich bin zwar an sich ein Gegner dieses viel zu oft benutzten Begriffs, doch ist er gerade an der Stelle richtig für die Beschreibung der entstandenen Veränderungen: Gesellschaftliche Ängste, persönliche Gefühle des Isoliert- und Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Entwertung müssen in die Diskussion eingebracht werden. Nur so kann Souveränität auch in den Entscheidungen der Einzelnen ermöglicht und Vertrauen in Politik wie Gesellschaft aufgebaut oder wiederhergestellt werden. Das bedeutet jedoch auch, dass die Politik dafür sorgen muss, dass mögliche Bewegungsspielräume zum frühestmöglichen wissenschaftlich vertretbaren Zeitpunkt gewährt werden müssen. Wir müssen auch daran denken, dass solche Ausnahmesituationen immer auch Ungleichheiten verstärken können. Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status oder mit einem Migrationshintergrund, die es ohnehin schon schwer in der Schule hatten, mitzukommen, werden durch Schulschließungen noch stärker abgehängt als sie dies bisher schon erlebt haben. Daher muss zum Beispiel insbesondere die Situation dieser Kinder und Jugendlichen unter dem Aspekt des Kommunikations- und Gruppenverlustes aufmerksam beachtet werden.
Wäre das nicht ein Musterbeispiel für die Public-Health-Forschung, mit der solche Szenarien abgeschätzt werden können, um damit den Politikern für das, was sie tun wollen, eine Handreichung zu geben?
Glaeske: Da sprechen Sie ein Thema an, das mich schon lange umtreibt. Die Fragestellung des Umgangs mit einer derartigen Situation ist in der Tat ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt von Public Health, um einen Schutz der Bevölkerung gewährleisten und den Schutz vor bestimmten Risiken umsetzen zu können. Es ist völlig klar, dass es für eine solche Pandemie, wie wir sie derzeit haben, eine Risikokommunikation geben muss. Nur darf sie sich nicht unterscheiden zwischen dem, was beispielsweise in Nordrhein-Westfalen gesagt, getan und entschieden wird und dem, was in Bayern passiert. Das heißt: Wir brauchen eine von allen Bundesländern konsentierte Risikokommunikations-Strategie, die sowohl auf das jeweilige Problem als auch auf die durchzusetzenden Maßnahmen zur Prävention zielgruppenspezifisch abgestimmt ist. In einer solchen Gesamtstrategie kann es dann durchaus regionale und lokale Varianten geben, mit denen sich Regelungen in Hotspots oder Niedrigrisikogebieten unterscheiden.
Warum hat man denn aus vorausgehenden Ausnahmezuständen wie etwa BSE (1990), der Geflügelpest (2005/2006) oder der Schweinegrippe (2008) wenig oder auch gar nichts gelernt?
Glaeske: Das habe ich mich auch in den vergangenen Wochen gefragt. Ich bin immer davon ausgegangen, dass man übereingekommen ist, in derartigen Situationen den Rat von Experten zu suchen und diese Ratschläge dann abzuwägen, bevor politische Entscheidungen getroffen werden. Solche Experten sind Kommunikationswissenschaftler, Menschen, die Risikobewertungen betreiben und all diejenigen, die etwas von Aufklärungsstrategien verstehen. Dass man sich nach wie vor darauf beschränkt, Politiker und Virologen die Basis für die Kommunikation entscheiden zu lassen, ist im Sinne einer Public-Health-Orientierung viel zu eng gedacht. Für mein Verständnis ist es daher durchaus zu kritisieren, dass man hier nicht frühzeitiger eine breitere Basis gefunden hat, in der natürlich alle nötigen virologischen Erkenntnisse hätten einfließen können und müssen. Nur hätten Kommunikationsexperten die Vermittlung der virologischen Erkenntnisse sicher etwas anders gestaltet, als das zu Beginn der Pandemie der Fall war. Anzuraten wäre hier auch eine Task-Force, die in einem solchen Fall der Nukleus für einen kontinuierlichen Expertenrat bilden würde – dies allerdings letzten Endes unabhängig von dem, was vielleicht das RKI oder die BZgA als sehr regierungsnahe Institutionen auf den Weg bringen würden.
Könnte das nicht auch als ein Vorwurf an die Public-Health-Wissenschaft verstanden werden, dass es bislang weder Folgen-Abschätzungen gibt, was beispielsweise Kita- oder Schul-Öffnungen betrifft, noch Forderungen, wie Sie sie eben gestellt haben?
Glaeske: Völlig richtig. Das ist durchaus ein Vorwurf, der an die wissenschaftlichen Fachgremien und -richtungen adressiert ist. Aber auch an die in Deutschland fast völlig vernachlässigte Translations- und Implementationsforschung. Dabei braucht die Wissenschaft die Politik und die Politik die Wissenschaft – das wäre an sich ein sich gegenseitig befruchtender Austauschprozess, der in Deutschland aus verschiedensten Gründen nicht so recht funktionieren will. Vor allem muss ein solcher Austauschprozess aktiv von beiden Seiten gewollt, gelernt und dann auch umgesetzt werden. Aber eins muss klar sein: Wissenschaft kann unterstützen, sie soll aber keine politischen Entscheidungen vorgeben. Dies ist in unserer Demokratie allein Aufgabe der Politiker, schließlich leben wir nicht in einer Expertokratie, obwohl sich dieser Eindruck in den vergangenen Wochen ab und an aufgedrängt hat.
Kommen wir zu den Kindern. Diese sind im Zeichen von Covid-19 eine Gruppe, die eine ganz besondere Rolle spielt. Sie behaupten in einer Ihrer Thesen, dass gegen die Öffnung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder aus wissenschaftlicher Sicht nichts spreche. Damit werden Sie wahrscheinlich auf Widerspruch stoßen – zum Beispiel von Professor Drosten, der zur Infektiösität von Kindern eine eigene Studie aufgelegt hat.
Schrappe: Es gibt große populationsbezogene Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder nur ganz wenig mit Covid-19 infiziert werden und fast nie an der Infektion versterben. So berichtet das RKI für die Altersgruppe 0-10 und 10-19 nur jeweils einen einzigen Todesfall – bei immerhin rund 6.000 Infizierten in Deutschland. Auch ist in der isländischen Random-Kohorte – ein Beispiel übrigens, dass solche Kohorten einen hohen Nutzen haben – kein einziges Kind infiziert, geschweige denn gestorben oder erkrankt. Auch haben wir in unserem Thesenpapier 2.0 sehr ausführlich die Studie Jones/Drosten diskutiert. In dieser Studie wurde ein Surrogatparameter betrachtet – der Virus-Load, gemessen mit PCR. Dagegen ist an sich nichts zu sagen, nur sollte man wissen, dass es sich dabei eben um keinen Outcome-Parameter, sondern um ein Surrogatmarker handelt, der per se nur ein sehr indirektes Zeichen ist. Zudem weist die Studie erhebliche methodische Mängel auf. Das beginnt dabei, dass – anders als die Studie interpretiert wurde – Kinder mit 2,4% ein deutlich geringeres Infektionsrisiko hatten als die Vergleichsgruppen der Erwachsenen in höheren Altersgruppen (um 10 Prozent). In den Vergleich der Viruslast waren deswegen nur 49 Kinder beteiligt, die durchaus eine niedrigere Viruslast hatten, dabei aber nicht das Signifikanzniveau erreichten. Bei solch ungleichen Häufigkeitsverteilungen muss man eine Fallzahlschätzung und eine Power-Einschätzung erstellen sowie dem geneigten Leser mitteilen, ob es sich um einseitige Überlegenheits-, Unterlegenheits- oder eine Gleichheitsfragestellung handelt. Dazu kommt, dass die infizierten Kinder ja bereits eine gewisse Viruslast als Einschlusskritierium in den Vergleich mit einbrachten, was wiederum eigene Probleme statistischer Art verursacht, die auszuführen den Rahmen unseres Gesprächs sprengen würde. Das alles will sagen: Die Studie sollte man methodisch an einigen Stellen nachbessern, damit sie die notwendigen Standards erfüllt.
Herr Professor Glaeske, postuliert wird unter anderem, dass wir in Zukunft unsere Gesundheitssysteme resilienter machen müssen gegen derartige Pandemien. Wie?
Glaeske: Von solchen Ereignissen erwarte ich immer, dass die einzelnen Staaten daraus Lehren ziehen. Dazu muss man eine Analyse der Schwachpunkte erstellen und herausfinden, was genau zu den detektierten Schwachpunkten geführt hat und wie sie zu beheben sind. Nun muss man wissen, dass in vielen neoliberalistischen Staaten viele Gesundheitssysteme unter starken ökonomischen Druck geraten sind, zugespitzt gesagt: Manche wurden kaputt gespart. Darum müssen wir sowohl aus staatlicher wie auch aus Sicht des einzelnen Bürgers eines Staates diskutieren, wie notwendige Vorsorgemaßnahmen für derartige Krisenzeiten aussehen müssen. Hier kann die Gesundheitssystemforschung – ein wichtiger Teilbereich der Versorgungsforschung - weiterhelfen, weil sie Konzepte für ein Gesundheitssystem vorschlagen kann, das in der Lage ist, auch solche akute, chronische, aber eben auch emergente Problemlagen zu meistern.
Zur Erinnerung: Es wurde erst Mitte letzten Jahres von der BertelsmannStiftung gefordert, rund die Hälfte der Krankenhäuser zu schließen.
Glaeske: Das Schließen von Krankenhäusern ist immer wieder ein Thema. Es wird aber meines Erachtens vielfach zu vereinfacht dargestellt. Wir brauchen eine schlüssige Krankenhausplanung, die sowohl eine Basisversorgung vor Ort und eine Zentrumsbildung für die kompetente Behandlung schwerwiegender internistischer, chirurgischer, neurologischer und psychischer Probleme bietet. In diesem Zusammenhang muss auch an Reservekapazitäten gedacht werden, die in Zeiten wie diesen besonders wichtig sind. Ebenso sollte man aber auch darüber nachdenken, wie andere wichtige Strukturen unseres Gesundheitssystems zu verbessern sind. Ich denke hier vor allem an Alten- und Pflegeheime, in denen rund eine Million vor allem ältere Menschen leben, und die offenbar zu wenig auf die Probleme einer Pandemie vorbereitet waren; Schutzkleidung und Masken waren in diesen Einrichtungen kaum verfügbar. Das alles zeigt, dass wir die Defizite der jetzigen Zeit aufarbeiten müssen, dass wir Dinge, die gut und schlecht gelaufen sind, sorgfältig analysieren müssen. Die Versorgungsforschung hat hier schon jetzt, erst recht aber in der Zukunft eine wichtige Aufgabe zu bearbeiten.
Zum Schluss: Was halten Sie von einer Corona-App?
Schrappe: Die Frage ist, ob eine solche App überhaupt die richtige Art der Intervention ist, schon alleine deshalb, weil ein solches Instrument immer Gefahr läuft, in einer technisch-technokratischen Sackgasse zu enden. Wir kennen das doch aus dem Krankenhausbereich: Wenn der Anästhesist und der operierende Arzt nicht miteinander sprechen wollen und die OPs deswegen schlecht liefen, hat man ein sündteures OP-System gekauft.
Was hat es denn gebracht?
Schrappe: Auf alle Fälle weniger als ein zweistündiges Gespräch, respektive Kommunikationstraining beider Herren, was die eigentliche und wesentlich günstigere Lösung des Problems gewesen wäre. Bei den Corona-Apps wird es ähnlich sein, weil deren Nutzung nicht nur von bestimmten technischen und eben nicht immer gegebenen oder zumindest oft suboptimalen Voraussetzungen abhängig ist, sondern weil es sich hier um eine monodimensionale Intervention handelt. Diese scheitert fast immer, wie viele Beispiele aus dem Bereich komplexer Multikomponenten-Interventionen zeigen. Wer mit Hilfe einer solchen App zu einer wirklichen Verbesserung und Veränderung in der Prävention kommen möchte, muss diverse organisations- und management-theoretische Elemente mit berücksichtigen. Eine rein technische Herangehensweise lässt hingegen die Menschen, Organisationen und Systeme in ihrer Unfähigkeit, mit Emergenz umzugehen, alleine und verpufft damit in Wirkungslosigkeit.
Und es gibt Bedenken hinsichtlich der Frage der Grundrechte.
Glaeske: Damit haben manche andere Staaten keine Probleme: China, Singapur, Südkorea oder auch Indien haben eine umfassende Kontrolle ihrer Bevölkerung. Sie versuchen über die im Allgemeinen ubiquitär mitgeführten Smartphones, eine darauf aufsetzende Eins-zu-eins-Kontrolle individueller Kontakte und davon womöglich ausgehenden Infektionsketten zu ermöglichen – das ist eine absolut technikzentrierte Herangehensweise in einem schier überbordenden Maß der Einschränkung oder Gefährdung von Freiheits- und damit Grundrechten. Ich wünsche mir, dass sich die deutsche Gesellschaft daher zunächst die folgende Frage beantwortet: Wollen wir in einem Staat leben, der solche individuellen Kontrollmöglichkeiten einführt und im Zusammenhang mit einer Epidemie legitimiert? Da ist man schnell bei Weiterentwicklungen wie Verhaltenssteuerungs-Elementen und Social Scores. Wie etwa: Wer anderen infizierten Menschen einmal zu oft zu nahe gekommen ist, bekommt dann plötzlich – beispielsweise beim Versuch, ein Bahnticket zu buchen – die Systemansage: „Nicht möglich bei ihrem derzeitigen Score.“ Meiner persönlichen Überzeugung nach ist das ein Weg, der mit unserem Verständnis eines demokratischen, auf die persönliche Freiheit ausgerichteten Systems nicht vereinbar ist und auf seine Verhältnismäßigkeit geprüft werden muss.
Die Frage ist, ob das ein guter Ansatz zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens ist?
Schrappe: Hier möchte ich eine persönliche Erfahrung aus der Mitte der 80er-Jahre einfließen lassen, als junger Arzt mit an der ärztlichen Front in der Universitätsklinik Köln stehend, als die HIV-Epidemie aufkam: Wir hätten damals keine Chance zur Bewältigung der Krise gehabt, hätten wir nicht auf das hohe Gut der absoluten Schweigepflicht bauen können. Das war eine Kernerfahrung für mich. Wir werden uns noch vor Entsetzen die Augen reiben, wenn die nächste Epidemie kommt und wir weder ausreichenden Datenschutz, noch Vertrauensschutz und womöglich auch keine Schweigepflicht mehr haben. Dann werden uns die Patienten Antworten geben, die womöglich nur zur Hälfte der Wahrheit entsprechen. Wir werden dann keine Mittel zur Verfügung haben, zu erkennen, woher eine Epidemie kommt, welche Gestalt sie annimmt und wie sie sich ausbreitet. Aus Sicht der Infektiologie und der Epidemiologie ist es höchst riskant, in das, sich über viele Jahrhunderte entwickelte hohe Gut des Vertrauensverhältnisses zwischen Patienten und Ärzten einzugreifen.
Die Herren Professoren, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis:
Schrappe, M., Glaeske, G., Roski, R., Stegmaier, P.: „Jetzt ist die Zeit der Public Health gekommen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/20), S. 6-13; doi: 10.24945/MVF.03.20.1866-0533.2225