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Herdenimmunität ist „ein gefährlicher Trugschluss“

07.12.2020 09:00
Mittlerweile haben knapp 5.000 Wissenschaftler und Healthcare Professionals das sogenannte „John-Snow-Memorandum“ zu Covid-19 mitunterzeichnet, das am 10. Oktober 2020 in der Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht worden, aber ebenso auf dem Onlineportal des gleichnamigen Memorandums zu finden ist. In diesem hochspannenden Statement fordern die Autoren „eine klare Kommunikation über die von Covid-19 ausgehenden Risiken und wirksame Strategien zu deren Bekämpfung“, warnen jedoch vehement vor einer „durch Infektionen erworbenen Populationsimmunität“, die zu einer Bevölkerung mit niedrigem Risiko führen würde. Dies sei, so die Autoren des Memorandums, „ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch wissenschaftliche Beweise belegt ist“. Zwei gewichtige Einwürfe aus Deutschland unterstützen diese internationale Initiative: Das ist zum einen ein Statement der Gesellschaft für Virologie (GfV), zum anderen die Autorengruppe um Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, die anlässlich der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 14.10.2020 ihre inzwischen sechs in „Monitor Versorgungsforschung“ publizierten Thesenpapiere um eine „dringliche Ad-hoc-Stellungnahme“ ergänzt.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2258

PDF

>> „Jede Pandemie-Management-Strate-gie, die sich bei Co-
vid-19 auf eine Immunität gegen natürliche Infektionen stützt, ist fehlerhaft.“ Das postulieren die Autoren des John-Snow-Memorandums. Sie begründen diese harte  Aussage mit einem in „Nature“ veröffentlichten Editorial sowie zwei wissenschaftlichen Artikeln von Chen, Tong, Li et al.  sowie Parry, die beschreiben würden, dass „eine unkontrollierte Übertragung bei jüngeren Menschen das Risiko einer erheblichen Morbidität“ berge, die Infektion „zu persistierenden Erkrankungen, auch bei jungen, zuvor gesunden Menschen“ führen (1) würde. Zudem sei es „unklar, wie lange die protektive Immunität“ anhalte (2). Ebenso sei SARS-CoV-2 wie andere saisonale Co-
ronaviren „in der La-
ge, Menschen, die be-
reits an der Krankheit erkrankt waren, erneut zu infizieren, doch sei die Häufigkeit einer erneuten Infektion unbekannt (3)“.
Als Fazit warnen die John-Snow-Autoren, dass eine längere Isolierung großer Teile der Bevölkerung praktisch unmöglich und zudem höchst unethisch sei. Auch würden empirische Erkenntnisse aus vielen Ländern zeigen, „dass es nicht machbar ist, unkontrollierte Ausbrüche auf bestimmte Teile der Gesellschaft zu beschränken“. Ein solcher Ansatz berge nach Ansicht der Autoren auch die Gefahr, dass sich die sozioökonomischen Ungleichheiten und strukturellen Diskriminierungen, die durch die Pandemie bereits offengelegt wurden, noch weiter verschärfen. Besondere Anstrengungen zum Schutz der Schwächsten seien unerlässlich, müssten aber mit „mehrgleisigen Strategien auf Bevölkerungsebene“ einhergehen.
Stellungnahme der Gesellschaft
für Virologie (GfV)
Ganz speziell auf diese Aussage reagiert eine aktuelle Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie (GfV), die „zu einem wissenschaftlich begründeten Vorgehen gegen die Covid-19-Pandemie“ rät. Die Unterzeichner* nehmen darin „mit Sorge zur Kenntnis, dass erneut Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen“. Die GfV bezieht sich dabei auf die „Great Barrington Declaration“ (4), welche die sofortige Aufhebung aller Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens, einschließlich aller Abstandsregeln und der Maskenpflicht fordert. Um Morbidität und Mortalität in vulnerablen Gruppen (Ältere, Vorerkrankte) abzumildern, schlagen die Autoren der
Deklaration besondere Schutzmaßnahmen für diese Personen vor und gingen, so die GfV, dabei „bis hin zur Quasi-Isolierung“ („Menschen im Ruhestand, die zu Hause wohnen, sollten sich Lebensmittel und andere wichtige Dinge nach Hause liefern lassen“).
Die Vorstände der GfV und deren Mitunter-
zeichner lehnen „diese Strategie entschieden“ ab, obwohl sie durchaus die enorme Belastung der Bevölkerung durch einschneidende Eindämmungsmaßnahmen an-
erkennen. Dennoch zeigen sich die GfV-
Autoren überzeugt, dass die Schäden, die im Falle einer unkontrollierten Durchseuchung unmittelbar, aber auch mittelbar drohen, die Belastungen um „ein Vielfaches überträfen und in eine humanitäre und wirtschaftliche Katastrophe münden“ können. Deshalb sei mit allem Nachdruck von der Verfolgung der in der „Great Barrington Declaration“ propagierten Strategie der unkontrollierten Durchseuchung abzuraten. Denn eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer
eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, da selbst bei strenger Isolierung der Ruheständler es noch weitere Risikogruppen gebe, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt sind, um aktiv abgeschirmt werden zu können.
Ferner, so die GfV, wüsste man noch nicht zuverlässig, wie lange eine durch eine Infektion erworbene Immunität anhalte. Es werde zunehmend klar, dass gerade die wenig symptomatischen Infektionen, wie sie bei jüngeren Menschen vorherrschen, keine stabile Immunität verleihen würden. Der GfV-Vorstand unterstützt daher ausdrücklich die Position der Unterzeichner des „John-Snow-Memorandums“ und hält das Anstreben der Herdenimmunität ohne Impfung für „un-ethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant“.
Stellungnahme der Thesenpapier-Autorengruppe Schrappe et al.
„Unter dem Strich bleibt also nur die Erkenntnis: in Deutschland wird ein Konzept angewandt, das sich durch die Beschränkung auf allgemeine Präventionsmaßnahmen samt Drohung eines Lockdowns und durch den weitgehenden Verzicht auf spezifische Präventionsansätze paradoxerweise genau zu dem Konzept entwickelt hat, das eigentlich vermieden werden sollte, nämlich dem Konzept der Herdenimmunität.“ Das schreibt die Thesenpapier-Autorengruppe Schrappe et al. in einer „dringlichen Ad-hoc-Stellungnahme“ (5), die sich vor allem auf die Ergebnisse der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 14.10.2020  bezieht. Ihre Befürchtung: Das Konzept der Herdenimmunität  sei „ein Konzept, das den Durchmarsch der Epidemie nur begleitet, aber ohne den dringend notwendigen Schutz der verletzlichen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt zu stellen.“ Ein solches Vorgehen habe die Autorengruppe immer kritisiert, und ein solches Vorgehen sei auch in Zukunft scharf zu kritisieren.
Das Ergebnisprotokoll der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten vom 14.10.2020 veranlasst die Autorengruppe jedoch auch, auf weitere „besorgniserregende Fehlentwicklungen“ hinzuweisen, die alle drei Sachgebiete betreffen würden, zu denen sich die Autorengruppe bislang in ihren bisherigen Thesenpapieren geäußert hat: Epidemiologie, Präventionskonzept und gesellschaftspolitische Implikationen.
In den bisherigen, in „Monitor Versor-gungsforschung“ veröffentlichten Thesenpapieren sei streng analytisch herausgearbeitet worden, dass
• die SARS-CoV-2/Covid-19-Epidemie durch asymptomatische Träger weiterverbreitet wird und nicht durch lineare Konzepte zu erfassen ist,
• die Epidemie aus diesem Grund nicht zu eradizieren ist, sondern sich bei Ermangelung von Impfung und Therapie in der Bevölkerung homogen ausbreitet (sporadische Ausbreitung), wobei es zusätzlich zu Herdausbrüchen kommt,
• Häufigkeitsangaben auf Grundlage anlassbezogener Stichproben mit äußerster Vorsicht zu verwenden sind und es die vordringliche Aufgabe sein muss, mit Kohortenstudien zu verlässlichen, repräsentativen Daten zu kommen und klinische Daten zur Beurteilung heranzuziehen,
• Testverfahren vor allem hinsichtlich der Infektiosität validiert werden müssen,
• allgemeine Präventionsmaßnahmen und Nachverfolgung von Infektionen eine wichtige Rolle spielen, letztlich aber der Erfolg der Prävention nur durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen erreicht werden kann, die vor allem den Schutz von verletzlichen Personengruppen zum Ziel haben (zahlreiche konkrete Beispiele wurden vorgeschlagen, weitere folgen im nächsten Thesenpapier (ab S. 69 ff.),
• die Präventionsmaßnahmen nicht auf Kosten von Humanität und Würde der Person gehen dürfen,
• die Grundsätze der Risikokommunikation beachtet werden müssen,
• Einschränkungen der Grundrechte jederzeit hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit begründbar sein müssen, und
• eine Vermengung von Gesundheitsschutz und Eingriffen, die den Anschein obrigkeitsstaatlichen Handelns erwecken können (z. B. Standortbestimmung durch Corona-App, Eingriff in den privaten Bereich zur Kontrolle von „Besuchsregelungen“), unter keinen Umständen statthaft ist. <<

Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Herdenimmunität ist ,ein gefährlicher Trugschluss‘ “, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/20), S. 20-21; doi: 10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2258

Ausgabe 06 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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