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Breitenversorger und Versorgungsforschung

07.12.2020 09:00
Breitenversorger und Versorgungsforschung – das Verhältnis ist kompliziert. Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung möchte Versorgungspraxis und Versorgungsforschung besser verknüpfen. Geleitet von der Überzeugung, dass wechselseitiges Vorstellen und Dialog dazu beitragen können, strukturelle Restriktionen zu überwinden, fand im Rahmen des Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung 2020 eine Session mit dem Titel „Versorgungsforschung und Breitenversorger“ statt. Eingeladene Praktiker der Versorgung stellten für ihre Modelle und Projekte die Konzepte, Versorgungsrelevanz und Evaluationen vor und reflektierten auf Basis langjähriger eigener Erfahrung die Möglichkeiten und Grenzen von Breitenversorgern in der Versorgungsforschung.

http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2263

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Der Diskussionsfaden soll weitergesponnen werden – dazu dient der folgende Aufriss zu Problematik und möglichen Lösungsansätzen.
Unter Breitenversorgern verstehen wir die unmittelbar an der medizinischen Versorgung beteiligten Versorgungseinrichtungen außerhalb der universitären Medizin und alle Medizinerinnen / Mediziner und Psychotherapeutinnen / Psychotherapeuten, die in diesen Versorgungsorganisationen tätig sind. Über 95% der medizinischen Behandlungsfälle in Deutschland werden von Breitenversorgern verantwortet. Dazu kommt, dass die akuten Probleme in der Versorgung – wie zum Beispiel unzureichende Koordination, keine ausreichende Präsenz insbesondere in ländlichen Regionen oder Versorgungsabbruch an der Sektorengrenze – in der Breitenversorgung angesiedelt sind.
Eine Versorgungsforschung, die sich mit der „letzten Meile“ auseinandersetzt – wie also Versorgung zum Menschen kommt –, sollte sich u. E. intensiv mit den Strukturen, Prozessen und Ergebnissen von Breitenversorgung und Breitenversorgern befassen und die Akteure für das Fach gewinnen. Zieht man die Themen der Kongresse für Versorgungsforschung oder die Projekte zu „Neuen Versorgungsformen“ des Innovationsfonds als Maßstab heran, dann scheinen Breitenversorger in der Versorgungsforschung bisher eher unterrepräsentiert.
Warum sind Breitenversorger in der
Versorgungsforschung unterrepräsentiert?
Anders als bei Universitäten und Universitätsangehörigen gehört Forschung nicht zur primären Versorgungs- und Tätigkeitskultur von Breitenversorgern. Es fehlt ein Verständnis dafür, welchen Nutzen eine Erhebung in der eigenen Versorgungsorganisation für die patientenbezogene Versorgung oder für Strukturen bzw. Abläufe haben kann.
Die (versorgungs-)forschungsaffinen Breitenversorger nutzen häufig Studiendesigns (klinisch epidemiologische Studien mit retrospektivem und deskriptivem Studiendesign, Kohortenstudien und Registererhebungen), die als nicht methodisch anspruchsvoll (genug) wahrgenommen werden; resultierende Publikationen haben oft keine Chance auf Annahme in renommierten Zeitschriften oder als Beiträge auf Kongressen. Zudem haben Versorgungsforscher unter den Breitenversorgern – wie auch die universitäre Versorgungsforschung – damit zu kämpfen, dass englischsprachige Zeitschriften Publikationen ablehnen, da sich das Thema des Papiers nur auf das deutsche Gesundheitswesen bezieht und damit für eine internationale Leserschaft nicht interessant sei.
Selbst große breitenversorgende Krankenhäuser und vertrags(zahn)ärztliche bzw. vertragspsychologische Einrichtungen verfügen nicht über die Erfahrung / Kenntnis sowie das Personal und die Infrastruktur zur Umsetzung von Studien. Als Teil der Universität haben Universitätskliniken einen leichteren Zugang zum Know-how von für die Studiendurchführung komplementären Fachbereichen, universitätsnahen Institutionen wie z. B. ZKS und Kongresse. Zu den auf sich selbst referenzierenden Netzwerken ist der Zugang von außen schwierig.
Breitenversorgern fehlt oft die Erfahrung mit und der Zugang zur Forschungsförderung. Die formalen Anforderungen für Forschungsförderung sind (zu) hoch, und es fehlt eine Gegenfinanzierung von Kosten in der Antragsphase, bspw. wenn fremde Expertise eingekauft werden muss. Zum Teil scheitert eine Einbindung auch an formalen Hürden. So hören wir, dass GbR – die Rechtsform vieler MVZ und aller Gemeinschaftspraxen – nicht ohne weiteres von öffentlichen Geldgebern, wie BMBF oder DFG, als förderfähig akzeptiert werden.
Bei retrospektiven wissenschaftlichen Auswertungen von Patientendaten (Daten aus praxis- oder abteilungsinternen Patientenakten) wird mitunter bei der Frage, ob eine Patienteneinwilligung erforderlich ist oder nicht, differenziert, ob die Auswertung in einer Klinik oder einer Arztpraxis durchgeführt wird. Grundlage dafür sind datenschutzgesetzliche Regelungen, die es nur Kliniken erlauben retrospektive Auswertungen ohne Patienteneinwilligung durchzuführen. Wie stark diese Differenzierung bei der Beantragung von Forschungsvorhaben bei Ethikkommissionen verbreitet ist bzw. angewendet wird, scheint sehr unterschiedlich – auch aufgrund unterschiedlicher Umsetzungen in den spezifischen Landesdatenschutzregelungen – zu sein.
Die für Breitenversorger maßgeblichen Gebührenordnungen beruhen auf der Kalkulation der unmittelbaren Patientenversorgung; es sind keine Kostenpositionen und keine zeitlichen Puffer für Forschungstätigkeit vorgesehen. Verträge nach § 140a SGB V sollen neben der Wirtschaftlichkeit auch die Qualität und Wirksamkeit der Versorgung verbessern, die Kosten der Evaluation sind in der Kalkulation unzureichend berücksichtigt.
Breitenversorger in universitär aufgesetzten Projekten werden gelegentlich vor allem als Zulieferer von Daten verstanden – sie sind oft nicht an Konzeption, Formulierung der Fragestellung oder Steuerung beteiligt. Soweit aber Strukturen und Prozesse in der Breitenversorgung beforscht werden bzw. neue Versorgungsformen unter Mitwirkung von Breitenversorgern erprobt werden sollen, sollten sie eingebunden werden, nicht nur, weil sie als Know-how Träger eher einschätzen können, was möglich ist und was nicht. Ein gemeinsames Forschungsinteresse ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für größere Projekte – die Erfahrung aus Innovationfondsprojekten zeigt immer wieder, dass die Erwartung einer Aufwandsentschädigung keinen ausreichenden Anreiz für die „Datensammel-Dienstleistung“ bietet. Soweit sich universitäre Forschungsprojekte auch auf die Tätigkeit von Breitenversorgern erstrecken, sollten diese daher dringend auch in Konzeption und Steuerung eingebunden werden.
Wie erreicht Versorgungsforschung
Breitenversorger und vice versa?
Ziel einer Annäherung kann nicht sein, alle Breitenversorger zu Versorgungsforschern zu machen. Möglich scheint aber, die schon heute oder perspektivisch versorgungsforschungsaffinen Akteure zu fördern. Wichtig dazu ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was Breitenversorger motiviert, sich mit Versorgungsforschung zu befassen.
Eine erste Maßnahme sollte sein, diese versorgungsforschungsaffinen Akteure unter den Breitenversorgern zu identifizieren. Das sind typischerweise eher Netzwerke, Managementgesellschaften und Verbünde sowie größere Krankenhäuser, BAG und MVZ. Das Symposium beim Kongress des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung ist eine Plattform, Sichtbarkeit zu verbessern und sich vernetzen zu können. Ein Ausbau der Aktivitäten ist gut vorstellbar.
Versorgungsforschungsaffine Breitenversorger brauchen finanzielle, logistische, personelle und koordinierende Unterstützung, um eigene Projekte zu etablieren. Verschiedene Ansätze sind dabei vorstellbar, die von „Mentorenschaft“ über (kostenlose) methodische Beratung und Unterstützung im Studienmanagement bis zu speziellen Ausschreibungen für Breitenversorger reichen.
Wichtig wäre, die in der Praxis umsetzbaren Studiendesigns nicht im Sinne von „Methodik light“ zu diskreditieren. Retrospektive Kohortenstudien sind beispielsweise für viele Forschungsfragestellungen der Versorgungsforschung unter Real-World-Bedingungen geeignet.
Die Beforschung von Angebotsstrukturen und Wechselwirkungen mit Versorgungsgeschehen muss auch Breitenversorgern beziehungsweise ihren Verbänden möglich sein. Das setzt die Bereitstellung von Routinedaten (über Kassenärztliche Vereinigungen bzw. Kostenträger) und die Antragsberechtigung beim zukünftigen Forschungsdatenzentrum des BfArM voraus. <<













Mitunterzeichner:

Dr. Ulrike Lupke, MoVa Institut für Moderne Verhaltenstherapie: „Optionen und Hürden einer Versorgungsforschung in der ambulanten Psychotherapie. Erfahrungsbericht aus großen Versorgungseinrichtungen“
Peter Mussinghoff, Augenzentrum am St. Franziskus-Hospital Münster Gemeinschaftspraxis: „Patientenzentrierte Ergebnisse einer kooperativen Telemedizinlösung in der Augenheilkunde“
Dr. Andreas Rühle, ägnw eG Ärztegenossenschaft Niedersachsen-Bremen e.G.: „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung: die Begleitung Sterbender zuhause als koordinierte, sektorübergreifende und eigenständige Regelversorgung“.

Zitationshinweis:
Hahn, U., Hoffmann, W.: „Breitenversorger und Versorgungsforschung“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/20), S. 48-49, doi: 10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2263

Ausgabe 06 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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