„Daten und Evidenz für Health in all Policies“
http://doi.org/10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2229
>> Herr Professor Busse, Sie gelten seit Jahren als Apologet des Abbaus von Überkapazitäten in der stationären Versorgung. Unter anderem denke ich an einen Vortrag, gehalten im Mai 2018 unter dem Titel „Versorgungsziele – internationaler Diskussionsstand“ auf dem DNVF-Forum, in dem Sie das Dilemma der Krankenhausversorgung auf eine recht einfache Formel gebracht haben: Zugang mal Qualität gleich Versorgungsergebnis. Ich denke doch nicht, dass sich Ihre Einschätzung mit der Corona-Krise geändert hat, oder?
Es gibt keinen Grund, warum sich die geändert haben sollte.
In der tagtäglich über uns hereinbrandenden Medien-Pandemie zu Corona wurde doch sehr wohl der Eindruck vermittelt, dass uns in Deutschland alleine die real existierende hohe Anzahl von Krankenhäusern vor „italienischen“ Verhältnissen bewahrt hat.
Das ist barer Unsinn, was da vermittelt wird. In Deutschland wurde von Beginn der Pandemie an getestet und Infektionswege nachverfolgt. Damit wurde erreicht, dass Verdachtspersonen schnell eine richtige Diagnose bekommen und – bei milden Verlauf – möglichst lange außerhalb des Krankenhauses verbleiben konnten. In Italien gab es je nach Region unterschiedliche Ansätze, ganz extrem hingegen in Frankreich: Hier wurde am Anfang praktisch nur im Krankenhaus getestet. Das führte dazu, dass alle, die sich auch nur verunsichert fühlten, tatsächlich ins nächste Krankenhaus gegangen sind, um dort getestet zu werden. Hier kann man sicher nicht ganz unberechtigt die Hypothese aufstellen, dass viele derjenigen, die vor diesem freiwilligen Krankenhausbesuch noch negativ waren, sich erst im Krankenhaus angesteckt haben. Das führte zum Beispiel dazu, dass Frankreich das EU-Land mit den prozentual meisten stationär aufgenommenen Covid-19-Patienten war – mit 70 Prozent aller positiv getesteten Personen.
Und in Deutschland?
Durch meist konsequentes Contact Tracing wurde erreicht, dass bei uns Verdachts-Infizierte schlicht zu Hause geblieben sind, um sich in Selbst-Isolation zu begeben. Dazu wurde Anfang März – übrigens gerade noch rechtzeitig genug – das entsprechende Flussdiagramm des Robert Koch-Instituts geändert. Dieses sah bis dahin vor, dass Test-positive Patienten stationär eingewiesen werden sollten. Mit der Änderung wurde jedoch richtigerweise empfohlen, dass auch positiv-getestete Patienten so lange wie möglich ambulant behandelt werden sollen.
Die ambulante Schiene als zweite Säule der Corona-Versorgung.
Ja, neben den Testungen außerhalb der Krankenhäuser sowie dem Contact Tracing und der Selbst-Isolation. Man kann durchaus sagen, dass hierzulande die ambulante Behandlungsstrategie einer der Gründe war, warum wir so gut durch die Corona-Krise gekommen sind – bisher jedenfalls.
Weiß man inzwischen, wie viele Infizierte ambulant oder auch stationär behandelt worden sind?
Ambulant leider gar nicht – hier hängen die Daten ja leider mehrere Quartale hinterher. Stationär gibt es die Angaben des RKI – wonach 17 Prozent der Infizierten stationär behandelt wurden – und die Abrechnungsdaten der Krankenkassen. Aus beiden Quellen wird ersichtlich, dass rund 35.000 Patienten stationär behandelt worden sind, demnach so ungefähr einer von fünf oder sechs Infizierten. Was nichts anderes heißt, als dass es in Deutschland gelungen ist, über 80 Prozent der Infizierten aus den Krankenhäusern herauszuhalten. Das war unser Erfolgsrezept.
Was passierte mit den stationär aufgenommenen?
Die 35.000 wurden durchschnittlich vierzehn Tagen stationär behandelt. Daraus errechnen sich mit 35.000 mal 14 knapp 500.000 Patiententage, die auf die Covid-19-Pandemie zurückzuführen sind. Das wären genau alle vorhandenen Betten für einen Tag. Wenn man jedoch diese Zahl über die Zeit der Epidemie aufteilt, stellt man fest, dass damit pro Tag höchstens zwei Prozent der in Deutschland zur Verfügung stehenden Betten belegt waren. Will heißen: 98 Prozent aller Betten waren eben nicht mit Covid-19-Patienten belegt – und oft leer.
Und was geschah mit den 2 Prozent?
Die profitierten von den leeren Betten und dem damit verbesserten Betreuungsverhältnis, litten aber genau wie andere Patienten unter der fehlenden Steuerung. Wenn man sich die AOK-Zahlen genauer anschaut, fällt auf, dass die Beatmungs-Patienten – es war von vornherein klar, dass das die schwerer Erkrankten sind – zu 27 Prozent verlegt worden sind. Das ist eine erschreckend hohe Zahl.
Warum?
Weil das bedeutet, dass viele der stationär aufgenommenen, schwererkrankten Beatmungs-Patienten zu Beginn in falschen Krankenhäusern lagen; also solchen, die im Zweifel gar nicht beatmen konnten, entweder weil gar keine Geräte zur Verfügung standen oder weil nicht ausreichend ausgebildetes und vor allem erfahrenes Personal zur Verfügung stand. Wenn 27 Prozent verlegt werden, heißt das nichts anderes, als dass schwerkranke Patienten ungesteuert in irgendwelchen Krankenhäusern aufgenommen wurden – das war grundfalsch.
Eben Zugang mal Qualität gleich Versorgungsergebnis.
Die Formel ist, obwohl sie so einfach daherkommt, absolut richtig: Was nützt ein breiter Zugang zum nächsten Krankenhaus, wenn dort nicht die nötige Qualität erzeugt werden kann? Warum auch immer. Das kann man übrigens auch sehr schön (aber schlecht für den Patienten) beim Herzinfarkt und Schlaganfall sehen. Auch hier werden die Betroffenen zu oft ins falsche Krankenhaus aufgenommen, also solche ohne Herzkatheter bzw. Stroke Unit, nur weil der Zugang über die Qualität gestellt wird.
Wer hat denn die Verantwortung dafür, dass das entsprechende RKI-Flussdiagramm zum Umgang mit Covid-19 anfangs falsch gestaltet war?
Na, im Prinzip das RKI. Aber wenigstens wurde das recht schnell und eben auch rechtzeitig genug korrigiert. Zur Erinnerung: bis Ende Februar gab es gerade einmal 79 Infizierte in Deutschland. Allerdings hätte von Anfang an klar kommuniziert werden müssen, dass die ersten Covid-19-Patienten eigentlich nur aus reinem Forschungsinteresse ins Krankenhaus eingeliefert worden sind, jedoch nicht etwa, weil man sie stationär besser behandeln hätte können – schwere Verläufe natürlich ausgenommen. Das hat aber in der Öffentlichkeit – und wohl beim RKI selbst – durchaus den Eindruck erweckt, dass die Krankheit allgemein ins Krankenhaus gehört. Wie gefährlich das sein kann, hat dann das Ernst von Bergmann-Klinikum in Potsdam gezeigt: 47 Patienten sind gestorben, wobei nur drei als Covid-19-Patienten ins Krankenhaus eingeliefert worden sind. Die anderen 44 gehörten zu den 138 Personen, die sich im Krankenhaus infiziert haben.
Quasi ein Fall von systembedingter Übersterblichkeit.
Das war ein Desaster. Dass von Beginn der Krise die Krankenhausgesellschaft erklärt hat, dass Covid-19-Patienten in jedes Krankenhaus gehen sollen, ist für mich unerklärlich. Glücklicherweise haben sich die meisten Leute nicht daran gehalten, und sind eben nicht ins nächste Krankenhaus gegangen, sodass keine noch schlimmeren Folgen zu verzeichnen waren. Doch hätten 44 der 47 Toten im Ernst-von-Bergmann-Klinikum nicht sein müssen.
In vielen Ihrer Vorträge erwähnen Sie als Beispiel die Herzinfarktversorgung, die viele Krankenhäuser nicht adäquat darstellen können. Gilt das für Covid-19 im Endeffekt exemplarisch genauso?
Ja, klar.
Gibt es denn genaue Zahlen dazu, wie viele Krankenhäuser überhaupt Covid-19-Patienten behandelt haben?
Ich bin im Beirat zur Evaluation des Krankenhaus-Covid-19-Entlastungsgesetzes. Wir schauen uns in dieser Funktion alle diejenigen Krankenhäuser an, in denen Covid-19-Patienten behandelt worden sind. Anhand der AOK-Zahlen – das sind übrigens die einzigen, die uns hier vorliegen – erkennt man, dass die bis Mitte April aufgenommenen 10.000 stationären Fälle in über 900 verschiedenen Krankenhäusern behandelt worden, die Beatmungs-Patienten in rund 560 davon, also in 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser mit Intensivstation.
Es kommt also auf den Zufall an, ob man als Covid-19-Beatmungspatient überlebt?
So würde ich das nicht sagen, da wir noch nicht wissen, wie viele Patienten durch späte oder gar keine Verlegung unnötig gestorben sind. Ein wichtiger Faktor ist aber auf jeden Fall auch das Bundesland. Es gibt – wie etwa Berlin – einige Bundesländer, die die stationäre Aufnahme von Covid-19-Patienten steuern. In Berlin gibt es die Safe-Berlin-Initiative, die, ausgehend von der Charité und einigen Intensivmedizinern, verhindert hat, dass schwer an Covid-19-Erkrankte in Krankenhäuser eingeliefert werden, in denen keine Beatmungskapazitäten vorhanden sind oder die bewusst von Covid-19 freigehalten werden sollen. Denn Infizierte stellen eine Gefahr für alle anderen Patienten dar, da diese per se Vorerkrankungen aufweisen, sonst wären sie ja nicht stationär aufgenommen worden. Demnach ist diese Strategie richtig und wichtig.
Und ebenso eine Gefahr für das Personal und deren Angehörige.
Das Problem aus Covid-19-Sicht ist, dass alle Menschen, ob Patienten im Krankenhaus oder behandelndes Personal, mehr oder weniger Risikogruppen sind. Alleine von daher ist es unsinnig, Covid-19-Patienten auf alle Krankenhäuser zu verteilen und so absolut unnötige potenzielle Problemfelder und womöglich sogar Infektionsherde zu schaffen – siehe das Ernst-von-Bergmann in Potsdam. Eine schlaue Idee – siehe Berlin – ist die, ganz bewusst zu separieren: in einige ausgesuchte Krankenhäuser mit Intensivstationen, in denen Covid-19-Patienten versorgt werden, während alle anderen Häuser Patienten mit anderen Erkrankungen guten Gewissens behandeln können – jedoch ohne unnötig erhöhte Ansteckungsgefahr.
Nun kann es doch sein, dass Krankenhäuser vielleicht zu Recht befürchten, dass sie damit als Covid-19-Haus abgestempelt werden und andere Patienten von selbst aus lieber in andere Häuser gehen.
Was für erstere einen hohen finanziellen Schaden darstellt, der auszugleichen ist. Es hilft aber nichts, sich um die Entscheidung herum zu drücken. Nicht bei der hohen Fallsterblichkeit der Beatmungs-Patienten, die ungefähr 50 Prozent beträgt. Und selbst von den nicht beatmeten Patienten verstirbt jeder sechste im Krankenhaus. Diese extrem hohe Sterbezahl ist eine ganze Dimension höher als etwa beim Herzinfarkt oder beim Schlaganfall. Umso wichtiger ist es, diese Patienten in den Häusern mit der höchsten Expertise zu bündeln.
Gibt es dazu einen bundesweiten Konsens, oder kann jedes Bundesland in föderaler Eigenständigkeit machen, was es will?
Leider kann jedes Land tun, was es will. Wir sind noch nicht einmal so weit, dass über die grundsätzliche Strategie Einigkeit besteht, wie man mit Pandemien wie Covid-19 aktuell und vor allem zukünftig umgehen soll.
Der 19. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung, dem Sie demnächst als Kongresspräsident vorstehen, ist überschrieben mit dem Titel „Gesundheitsversorgung international vergleichen und verbessern“. Was wurde denn zu Corona im internationalen Vergleich noch gelernt?
Wir haben unter anderem für das European Observatory on Health Systems and Policies eine Webseite erstellt. Hier können alle 52 Mitgliedstaaten der Europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation die gesundheitspolitischen Strategien der verschiedenen Länder analysieren. Diese Webseite umfasst sowohl Kennzahlen zur ambulanten und stationären sowie zur intensivmedizinischen Versorgung, aber vor allem auch die Daten der jeweils angewandten Präventionsstrategien von Shutdowns über diverse Lockerungen bis hin zu Verschärfungen. Das ist erst einmal rein deskriptiv, doch kann man damit sehr gut vergleichen, wie andere Länder agiert und reagiert haben.
Sie sind damit aber nicht die einzigen Datensammler zu Covid-19?
In der Tiefe für die europäischen Länder schon. Wir sind gerade dabei, den Datenschatz auszuwerten und damit ein Art Benchmarking-Instrument aufzulegen. Das wird wichtige Fragen beantworten können, zum Beispiel, welche Interventionen sich warum als erfolgreich oder weniger erfolgreich herausgestellt haben.
Ist das ein Thema des kommenden DKVF?
Der Kongress war zwar ursprünglich etwas anders geplant, also bezüglich „Zugang mal Qualität = Versorgungsergebnis“ im Allgemeinen, orientiert sich dabei jetzt aber stärker in Richtung Covid-19 – zumindest in den Plenarveranstaltungen und einem Session-Strang. Zum einen konzentriert sich das derzeitige Interesse darauf, zum anderen sind neue Dimensionen jenseits zu Zugang, Qualität und Beitrag zur Bevölkerungsgesundheit hinzugekommen – wie etwa das Thema der Resilienz.
Das besagt, wie gut beispielsweise Gesundheitssysteme auf Schocks vorbereitet sind.
Genau. Zu Covid-19 machen wir zwei Plenarveranstaltungen. Eine hat einen klar internationalen Fokus – wie es der Konferenztitel ja auch kommuniziert – mit zwei hochrangigen Sprecherinnen. Das ist zum einen Natasha Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme im Team des neuen WHO-Regionaldirektors. Zum anderen Francesca Colombo, die den Gesundheitsbereich bei der OECD leitet. Im Mittelpunkt ihrer Vorträge steht die Frage, wie die Bewältigung der Corona-Pandemie – eine Herausforderung für Gesundheitssysteme von Prävention bis Intensivmedizin – aus deren Sicht gelaufen ist und welche Informationen diese beiden großen Organisationen den Ländern zur Verfügung stellen konnten. In der zweiten Plenarveranstaltung wollen wir den Status-Quo in Sachen Covid-19 aus Sicht der Forschung beleuchten. Die Pandemie hat ja für die Wissenschaft einen ganz neuen, viel enger getakteten Rhythmus ausgelöst.
Mit oft unguten Ergebnissen, wie man am Beispiel des Bonner Virologen Streeck sieht.
Die Wissenschaft muss lernen, auch damit umzugehen. Darum wollen wird in dieser Sitzung explizit Versorgungsforscher zu Wort kommen lassen, die bereits Forschung zu Covid-19 gemacht und veröffentlicht haben. Die sollen schon vorher kurz darstellen, was sie gemacht haben, damit man während der Plenarveranstaltung gar nicht mehr so sehr auf die Inhalte eingehen muss, sondern über grundlegende Fragestellungen und Anforderungen an die Wissenschaft sprechen kann. Wie sind die Projekte entstanden? Hat man die selbst ausgedacht? Ist die Initiative von außen herangetragen worden? Wie wurde der Datenzugang beschafft? Wie war die Datenlage? Wie lange hat es gedauert, ein Ethikvotum einzuholen? Wie macht man das auf die Schnelle? Und vor allem: Wie lief die Kommunikation? Man sieht ja am Beispiel Streek, dass auch die Versorgungsforschung viel sichtbarer und damit auch angreifbarer geworden ist.
Gibt es denn genug Covid-19-Beispiele?
Ja, wie zahllose Projekte zeigen, was sich auch im „normalen“ Programm niederschlagen wird. Um dies widerspiegeln zu können, werden wir vom 20. Juli bis zum 10. August einen spezifischen Call zu Covid-19-Abstracts veröffentlichen, damit wir neben den bereits akzeptierten 9 Abstracts möglichst noch viele weitere aktuelle Arbeiten bekommen, bis Ende September dann der Kongress stattfindet.
Da wird man wohl viel rein forschergetriebene Versorgungsfor-schung sehen, weil es keine Versorgungsforschung-Strategie gibt. Sollte man nicht endlich wirklich das erforschen, was Top-down zu erforschen wäre?
Auf jeden Fall. Ich finde es ganz wichtig, dass wir neben die typische wissenschaftlergetriebene Forschung, für die klassischerweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft steht, und der schon eher zielorientierten Programmforschung, die eher vom BMBF gefördert wird, eine politikintendierte Forschungsstrategie setzen. Damit bekommt man vermehrt das, was wir zum Beispiel im European Observatory machen. Da arbeiten in einem Steering Commitee Vertreter der internationalen Organisationen wie WHO und Europäische Kommission sowie der nationalen Regierungen mit. Die wollen ganz explizit, dass wir mit deren Geld die Fragen erforschen, die aus Sicht der Politik wichtig sind.
Doch gibt es in Deutschland keine derartige politikintendierte Forschungslinie.
Früher schon. Im 6. Forschungsrahmenprogramm der EU zum Beispiel. Da hat die Politik die Forschungsfragen gestellt, auf die man sich dann bewerben konnte. Darüber haben wir 2009 bis 2011 ein Projekt zu den Fallpauschalensystemen in europäischen Ländern finanziert bekommen. Ich finde solche Ansätze sehr gut, doch sind diese inzwischen auch auf europäischer Ebene verwässert worden.
Man wundert sich, dass es so etwas auf deutscher Ebene nicht gibt. Es müsste doch genug Fragen geben, die Bundesgesundheitsminister Spahn umtreiben.
Wir müssen nach der Pandemie in Ruhe darüber reden, wie wir da zusammenkommen. Politikdefinierte Versorgungsforschung liegt fast auf der Hand. Doch dazu bräuchte man jemanden, der für die Versorgungsplanung und -steuerung zuständig ist, ein solches Forschungsprogramm aufsetzt und finanziert – und deren Ergebnisse dann auch in die Umsetzung einfließen, „Evidenz-informierte Gesundheitspolitik“ eben.
Bei all den Covid-19-Task-Forces der Länder und auch des Bundes war Versorgungsforschung schon mal nicht dabei.
Es kommt darauf an, wie man das definiert. Zum Beispiel ist mein Fachgebiet Teil der BMG-geförderten Steuerungs-Prognose von intensivmedizinischen Covid-19-Kapazitäten, kurz SpoCK.
Der Vulkanier lässt grüßen.
Der auch. Wir versuchen mit SpoCK, bei dem neben dem RKI u.a. die Medizininformatik in Freiburg, die DIVI und wir engagiert sind, die Notwendigkeit an stationären und insbesondere intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten für eine hoffentlich ausbleibende zweite Welle vorherzusagen. Dazu muss vor allem die Frage beantwortet werden, wie viele Kapazitäten wir eigentlich brauchen, wenn wir das regionale Geschehen miteinbeziehen. Eine weitere Frage lautet: Wie lange dauert es zwischen Testergebnis und dem Peak, den wir dann im Krankenhaus oder bis zur Aufnahme auf die Intensivstation sehen?
Soll das auch dazu führen, dass wir bei einer möglichen zweiten Welle etwas großzügiger gegenüber unseren europäischen Partnern sein können?
Auf jeden Fall! Als Europäer empfand ich das, was passiert ist, schon als traurig. Auch dass wir die Schutzausrüstung nicht mehr nach Italien gelassen haben. Da sollten alle Verantwortlichen ein schlechtes Gewissen haben.
Mit Recht!
Darum soll das künftig verhindert werden. Doch dazu braucht man erst einmal Daten und Evidenz für „Health in all Policies“. Nun haben wir Aufmerksamkeit für Gesundheit, quasi die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf ein Metathema. Das müssen wir nun auch sinnvoll nutzen.
Und eigentlich wäre auch genug Geld da.
Das man aber vernünftig nutzen muss, sonst verpufft es. Man darf aber nicht zu sehr meckern, es geht ja voran.
Wo zum Beispiel?
Unter anderem bin ich im Beirat zum Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz. Zur Evaluation bekommt das InEK inzwischen von den Krankenhäusern schon unterjährig die §21er Daten. Das ist völlig neu. Ohne Corona würden wir die erst viel später zur Auswertung bekommen – wenn wir sie überhaupt jemals gesehen hätten. Das zeigt, dass sich hier das Bewusstsein, dass man aktuelle Daten für Erkenntnisse und Steuerung braucht, schon geändert hat. Hoffentlich bleibt in den Köpfen der Politiker erhalten, dass Forschung eben entsprechende Rahmenbedingungen braucht.
So führt das eben verabschiedete Patientendaten-Schutz-Gesetz die Datenspende und eine Forschungsdatenbank ein. Das sind doch Schritte, bei denen man automatisch denkt: Mein Gott, warum erst 2020?
Aber man fängt endlich damit an, das ist doch schon etwas. Gleiches gilt auch für die Digitalisierung, die anscheinend erst eine Pandemie brauchte, um Fahrt aufzunehmen.
Womit wir beim Format Ihres Kongresses angekommen sind, der erstmals rein online durchgeführt wird. Sie sind der erste Kongresspräsident eines DKVF, der unter dem Vorzeichen digital steht. Ist das mehr Arbeit?
Die inhaltliche Arbeit ist im Endeffekt die gleiche. Ein bisschen mehr Arbeit kam schon auf, weil wir durch Covid-19 quasi einen Neustart machen mussten, zumindest was die Plenarveranstaltungen angeht. Eigentlich war die Planung schon abgeschlossen und die Vortragenden eingeladen – das haben wir ein bisschen anpassen müssen. Dazu kommt natürlich auch eine gewisse Nervosität, ob das online alles so funktioniert, wie es soll. So viele rein virtuelle Kongresse gab es ja noch nicht. Doch gehe ich davon aus, dass alles klappt – trotz aller Unwägbarkeiten technischer Art.
Das Format hat aber auch Vorteile.
Sicher. Man kann Vortragende aus der Politik oder aus Fachgesellschaften schnell zu einzelnen Sessions dazu bekommen, weil man sie online erreichen und einbinden kann. Auch kann es dazu führen, dass wir vielleicht sogar mehr Teilnehmer als bei früheren Kongressen motivieren können. Andererseits: Wer tut es sich an, den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu sitzen, um von Session zu Session zu switchen?
Die Cafeteria in der Urania war auch voll, trotz laufender Vortragsessions.
Nun kann man im Online-Kongress all das nachholen, was man versäumt hat, weil alles aufgenommen und gespeichert wird.
Es ist eine tolle Chance, wenn man solche Online-Formate etabliert, und dann vielleicht die Hälfte oder sogar acht von zehn Veranstaltungen substituieren kann, was Reisekosten und Reisezeit minimiert.
Es ist schon gut, Kollegen und viele andere Gesprächspartner aus Politik und Verbänden und vielen anderen Gruppierungen live zu treffen. Doch muss das eigentlich nicht jedes Jahr sein. Wir sollten für die Zukunft überlegen, ob man Live-Events nur alle zwei Jahre veranstaltet und dazwischen Online-Formate wählt. Solch gemischte Modelle hätten schon ihre Vorteile.
Herr Prof. Busse, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski, Bearbeitung: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis:
Busse, R., Roski, R., Stegmaier, P.: „Daten und Evidenz für Health in all Policies“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/20), S. 6-9; doi: 10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2229