„Die Kraft, ordnungspolitische Rahmen zu verändern“
http://doi.org/10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2229
>> Was hat Sie bewogen, ganz aktuell das BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung, kurz bifg, als wissenschaftliches Institut und Kompetenzzentrum für Versorgungs- und Gesundheitssystemforschung Ihrer Kasse zu gründen?
Die BARMER hat eine lange und auch erfolgreiche Historie in der Versorgungsforschung. Der erste Arzneimittelreport ist bereits im Jahre 2001 von der damaligen GEK ins Leben gerufen worden. Darauf folgten Krankenhaus- und Arztreporte und bereits 2008 der erste Pflegereport, sowie ab 2011 der Zahnreport – ein Thema, das bis dahin kaum und von der Kassenseite eigentlich gar nicht dargestellt wurde.
Was hat Sie denn nun zur Gründung des bifg als eigenständiges Institut veranlasst?
Der Auslöser für die Institutsgründung war, dass wir einerseits selbst sehr viel publizieren und andererseits immer häufiger Anfragen an uns herangetragen werden, entweder von wissenschaftlichen Instituten oder auch aus Ministerien und der Politik. Auch die Gesundheitswirtschaft zeigt vermehrt Interesse, mit uns zu kooperieren. Für die hier geforderte wissenschaftliche Arbeit brauchen wir eine stringente Binnenorganisation, die in der Lage ist, einerseits nach außen ein klareres Bild dessen zu vermitteln, was wir tun und andererseits eine bessere Schnittstelle nach innen darstellen kann.
Die TK hat ihr WINEG eingestellt und das GeWINO der AOK Nordost ist praktisch nicht mehr aktiv. Nur noch die AOKs haben ihr gemeinsam getragenes WIdO. Warum gehen Sie mit dem bifg einen anderen Weg als andere große Kassen?
Das WINEG kannte ich aus der Gründungsphase. Die Erfahrungen, die ich damals im Vorstand der TK mit dem WINEG machen konnte, sind in die jetzige Gründung mit eingeflossen. Dazu gehört auch, dass wir das bifg eben nicht institutionalisiert haben, sondern das Institut durch die Zusammenlegungen zweier Fachabteilungen gegründet haben. Das bifg ist formal keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern eben eine neue Einheit innerhalb der BARMER.
Warum haben Sie sich so entschieden?
Weil ich weiß, wie schwierig es ist, für ein solches Institut die besten Knowhow-Träger zu gewinnen, die auch noch das eigene Geschäft kennen. Genau diese Leute braucht man aber auch für das eigene operative Geschäft, weil sie da die höchste Kompetenz haben. Darum hat man in einem institutionalisierten Institut immer einen immanenten Konflikt. Genau das wollten wir nicht. Darum haben wir das bifg als Teil der Linienorganisation eines BARMER-Fachbereiches geschaffen, die das, was wir bisher in der Forschung getan haben, bündeln soll, dies jedoch mit einer klaren Sonderrolle und auch Sonderfunktion.
Wie viele Leute arbeiten im bifg?
Zur Zeit arbeiten 23 Mitarbeiter im Institut, doch wurden nur vier Stellen im Zusammenhang mit der Institutsgründung neu aufgebaut; letzteres unabhängig von der Gründung, weil im Vorfeld Externe auf uns zugekommen waren, die ihr Interesse an einer aktiven Zusammenarbeit mit uns bekundet hatten. Ein wichtiger Punkt in dem Zusammenhang ist, dass das Ganze nur deshalb funktioniert, weil es auf unserem Wissenschafts-Datawarehouse aufbauen kann. Von den Jahren 2011 bis 2017 haben wir dieses Datawarehouse mehrfach umgebaut und ganz aktuell noch einmal stark modernisiert, um es viel effizienter als bisher nutzen zu können.
Will heißen?
Das heißt, dass unser Wissenschafts-Datawarehouse, auf welches das neue Institut mit seiner Arbeit an vielen Punkten aufsetzen kann, eine demilitarisierte Zone ist.
Warum das?
Ganz einfach deshalb, weil Daten, die im regulären Kassenbetrieb anfallen, gesetzlich bedingten Löschfristen unterliegen und wir bestimmte Daten nicht längere Zeit speichern dürfen, was longitudinale Auswertungen nahezu unmöglich macht. In unserem spezifischen Wissenschafts-Datawarehouse hingegen dürfen wir die Daten lange Zeit bevorraten, so dass wir dort heute schon auf Zeitreihen bis zu 15 Jahren zurückgreifen können, was für eine Kasse schon recht einzigartig ist.
Auch das WIdO hat viele tolle Daten.
Wir haben allergrößten Respekt vor der Arbeit des WIdO. Doch ist unser homogener Datenbestand schon eine Besonderheit, da diese Zeitreihe viele interessante Analysen zulässt. Ein zweiter Punkt ist, dass uns das Wissenschafts-Datawarehouse mit seinem eigenen Datenbestand der Pflicht enthebt, jedes Mal aufs Neue spezielle Datensätze zur Bearbeitung für Reporte aus dem kasseneigenen Datenbestand zu exportieren und dafür immer wieder neue Datenschutzfreigaben bekommen zu müssen.
Was sicher ein extrem aufwändiger Prozess ist.
Ganz genau. Und ein ebenso langwieriger. Es konnte in der Vergangenheit im Schnitt bis zu einem Dreivierteljahr dauern, bis wir überhaupt Daten exportieren konnten. Damit waren dann zwei interne Mitarbeiter/Innen gebunden, die sich nur darum kümmern konnten. Die Datenhaltung musste überprüft, die Löschungen dokumentiert und zudem pro Einzel-Anfrage recht komplexe Verträge geschlossen werden.
Und mit dem Datawarehouse?
Heute erlauben wir der Wissenschaft einen breiten Zugriff auf unser Wissenschafts-Datawarehouse. Doch können wir den Zugriff sehr genau steuern. Wir wissen, wer auf welche Daten zugreift und was anschaut. Doch ist dieser Prozess ganz wesentlich beschleunigt und auch viel einfacher als früher. Auch diesen Zugriff soll das bifg managen, weil wir seit Jahren ein immer stärkeres Interesse an unserem Datenbestand wahrnehmen, gerade wenn es um Versorgungsforschung oder auch Community Effectiveness geht. Mit dem bifg kleiden wir das Datawarehouse neu ein, machen es damit erkenn- und auch adressierbarer für alle Interessierten.
Von außen betrachtet, ist das schon eine klare Botschaft, die besagt, dass sich die BARMER aktiver für Versorgungsforschung stark macht, schon alleine dadurch, dass sie ihre verschiedenen Aktivitäten unter der neuen Marke bifg bündelt.
So kann man es sagen. Wobei wir aktuell gar nicht einmal so viel mehr forschen, als wir das vorher auch schon gemacht haben. Doch wird unser Ansatz, „Daten für Taten“ zu generieren, erkennbarer. Dazu wurde ein eigener Internetauftritt gestartet, in dem Analysen hinterlegt und frei zugänglich sind. Diesen werden wir in kontinuierlicher Folge weiter ausbauen.
Aus welchem Budget wird das bifg finanziert?
Aus einem Teil unseres Verwaltungskostenhaushaltes. Da das Institut keine eigene Rechtsperson ist, brauchen wir keine eigene Institutsfinanzierung. Zudem erfolgen die Tätigkeiten der dort Beschäftigten im Rahmen unseres gesetzlichen Auftrags. Was auch schon seit vielen Jahren so ist.
Wenn wir einmal auf das erste Arbeitsfeld des bifg blicken, das da heißt: „Finanzierung und der Versicherungssysteme“.
Dieses Thema ist ein ganz vitales Interesse unserer Kasse. Wir haben Gott sei Dank einige Experten, die mit diesem Thema umgehen und die routinemäßig für den laufenden Geschäftsbetrieb wichtige Analysen erstellen können. Die Mitarbeiter des Instituts arbeiten regelmäßig mit renommierten Wissenschaftlern zusammen, ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit einer unserer Mitarbeiterinnen mit einer Mitarbeiterin aus dem wissenschaftlichen Institut von Professor Wasem. Gemeinsam haben sie eine wissenschaftliche Arbeit publiziert. Diese wirklich hoch qualifizierten Menschen, die wir in dem Bereich beschäftigen – übrigens mehr Frauen als Männer – sind echte Kompetenzträger, weil sie nicht nur Routineauswertungen für den laufenden Geschäftsbetrieb machen können, sondern in der Lage sind, weiter zu denken und wichtige neue Schlüsse daraus zu ziehen. Genau diese Chance sollen sie mit und im bifg haben. Man könnte das daher auch als „Job-Enrichment“ bezeichnen.
Welchen Nutzen hat denn nun der BARMER-Versicherte davon?
Der erste Vorteil ist jener, das wir aufgrund unserer Größe und unserer Aufstellung dramatische Entwicklungen schnell detektieren, analysieren und dann mit geeigneten Maßnahmen reagieren können. Das mag auf den ersten Blick vielleicht etwas abstrakt klingen, weil der Einzelne nicht unmittelbar einen Vorteil hat, doch sieht es auf der Meta-Ebene anders aus. So haben wir zu Beginn der Corona-Krise mit den Ressourcen, die in unserem neuen Institut gebündelt sind, ein Corona-Dashboard aufgebaut. Wir haben hier einerseits Krankenhausaufnahmen monitoriert, um sehr schnell ein Bild zu bekommen, was in dieser Krise in der Versorgung passiert: Wo wird versorgt? Wie oft wird verlegt? Oder: Warum wird nicht verlegt? Wir haben nachgehend die in unseren Kassendaten dokumentierten Krankenhausentlassungen in gleicher Weise analysiert, um so ein möglichst gutes Bild über den Versorgungsverlauf der Krise zu bekommen. Auch das mag für den Einzelnen direkt keinen Nutzen haben, doch jeder Corona-Betroffene hat indirekt einen Nutzen davon, wenn er bei einer Kasse versichert ist, die in der Lage ist, zum einen derartige Daten auszuwerten und zum anderen die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ganz konkrete Nutzen für jeden Einzelnen haben hingegen unsere vielen Reporte, die schon immer auf Defizite hingewiesen – oder positiv formuliert – Verbesserungspotenziale in der Versorgung aufgedeckt haben.
Nennen Sie doch bitte ein Beispiel.
Wir haben beispielsweise vor zwei Jahren einen Pflegereport erstellt, in dem wir die Situation der pflegenden Angehörigen beleuchtet haben. Dazu wurden nicht nur Sozialdaten analysiert, sondern auch eine Befragung einer sehr hohen Anzahl von Betroffenen durchgeführt. Das Ergebnis, das uns sehr viele pflegende Angehörige signalisiert haben, war: Wir schaffen es nicht mehr lange, wir können nicht mehr lange so weitermachen wie bisher.
Eine Analyse alleine reicht aber nicht.
Genau. Darum haben wir aus den Erfahrungen dieses Reports interne Prozesse verändert. Aufsetzend auf einer Customer Journey, auf deutsch einer „Kundenreise“ – also aus der Sicht unserer Versicherten, die andere pflegen – haben wir unser kassenseitiges Angebot überarbeitet. So wurden zum Beispiel Anträge an die Kasse so gestaltet, dass auch der medizinische Laie sehr rasch einen Antrag ausfüllen kann. Wir haben zudem Angebote für pflegende Angehörige initiiert, in denen in Wochenendseminaren alle Aspekte des Pflegens – vom eigentlichen medizinischen Inhalt bis hin zum Selbstschutz und der Resilienzstärkung – vermittelt wurden.
Das ist sicher toll, aber …
... klingt vielleicht banal, aber ist für unsere Versicherten in einer solchen außergewöhnlichen Lage ein absolut nutzwertiges Angebot. Gleiches gilt aber auch für medizinische Fälle, wie zum Beispiel bei bariatrischen Operationen. Wir konnten mit einer Analyse anhand unseres Datenbestandes ganz klar zeigen, dass es in jeder Hinsicht von Vorteil ist, sich in einem zertifizierten Zentrum operieren zu lassen: niedrigere Komplikationsraten, deutlich geringere Sterblichkeit und eine niedrigere Gesamtinanspruchnahme sind die Folge.
Da kommt dann sicher natürlich gleich der Einwurf, dass Sie das doch nur machen, um Geld zu sparen.
Natürlich ist ein niedriger Ressourcenverbrauch nach einer gelungenen OP ohne Komplikationen eine gute Sache für die Solidargemeinschaft der Versicherten, vor allem ist eine unproblematische Operation ein sehr klares Indiz dafür, dass es den Patienten besser geht, schlicht weil sie initial besser versorgt wurden. Das ist dann schon ein sehr direkter Nutzen. Das Gleiche konnten wir übrigens auch für die operative Versorgung von Baucharterien-Aneurysmen darstellen. Ebenso haben wir mittels Datenanalysen herausgefunden, dass gerade junge Menschen eine stark zunehmende Belastung mit Kopfschmerzen haben. Daraufhin haben wir für Studierende entsprechende Angebote entwickelt – zum einen ist das die App „M-sense“, mit der der User seine Kopfschmerzsituation dokumentieren und auslösende Muster erkennen und so vermeiden kann. Zudem werden über die App Informationen zur Verfügung gestellt, die zur Therapie notwendig sind.
Eben „Daten für Taten“, das ist übrigens ein Zitat, das Professor Glaeske zugeschrieben wird.
Das stimmt. Diese Deklination versuchen wir ganz regelhaft, indem – wo immer das möglich ist – aus Reporten Handlungen abgeleitet werden. So haben wir beispielsweise vor einigen Jahren anhand der uns vorliegenden Abrechnungsdaten zeigen können, dass beim zahnlosen Unterkiefer, der übrigens in höheren Altersklassen immer noch sehr häufig ist, eine Versorgung mit zwei Implantaten viel besser ist als das, was heute Leistungsumfang der GKV ist. Das ist doch für alle, für die Politik wie Gesellschaft ebenso wie für Ihre zahlreichen Leser aus Wissenschaft und Versorgung eine interessante Botschaft: Lasst uns jene Leistungen bezahlen, die vielleicht teurer sein mögen, aber die belegt sind durch wissenschaftlich gesicherte Versorgungsdaten. Nur so kommen wir nach und nach zu einer immer besseren Versorgung.
Wie sehen Sie die Rolle der Versorgungsforschung?
Da ich früher selbst einige Jahre in einem Institut für Gesundheitssystemforschung gearbeitet habe – der Institutsleiter war damals übrigens Vorsitzender des Sachverständigenrates – interessiert mich das Thema persönlich sehr. Die Versorgungsforschung hat meines Erachtens die Kraft, die ordnungspolitischen Rahmen zu verändern, die unser Gesundheitswesen betreffen. Dazu müssen ihre Protagonisten die durch Versorgungsforschung geschaffene Evidenz so vermitteln, dass sie Gesellschaft wie Politik auch versteht. Das mag noch nicht immer der Fall sein, doch gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer stärker herangezogen wird, um Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen. Ein konkretes Beispiel dazu ist der Auftrag an den Sachverständigenrat, sich mit dem Thema Notfallversorgung auseinanderzusetzen. Auch ist generell die Aufnahme von Inhalten der Sachverständigenrats-Gutachten in die Gesetzgebung deutlich nachzuweisen. Mein klares Votum, auch aufgrund meiner eigenen Biografie, ist natürlich, dass, wo immer dies möglich ist, die Erkenntnisse der Versorgungsforschung zur Grundlage jedweder Entscheidungen gemacht werden müssen; vor allem immer dann, wenn der ordnungspolitische Rahmen verändert wird.
Hat da wirklich ein Bewusstseinswandel stattgefunden?
Ich denke schon. Gerade bei der Frage des Gleichgewichts der Sektoren lässt sich viel auf der Basis von Evidenz versachlichen oder auch korrigieren.
Ein konkreter Fall wäre?
Wenn man die Versorgung der Covid-19-Erkrankten in Deutschland betrachtet, ist ein Sachverhalt der, dass wir unter anderem nur deshalb so gut durch die Krise gekommen sind, weil der überwiegende Teil der Patienten im ambulant-vertragsärztlichen Bereich behandelt wurde. Auch wenn die Aussage auf noch keiner abschließenden, validierten Analyse beruht, war bei uns der Anteil der nicht-stationär behandelten Patienten im Vergleich zu anderen umgebenden EU-Ländern am höchsten. Erste Analysen zeigen jedoch, dass sich um die 40 Prozent der in Italien mit Corona-Erkrankten erst im Krankenhaus infiziert haben. Ich weiß, das ist eine polarisierende Aussage, doch ist für mich das Bild sehr deutlich. Diese Infektionen sind nicht aufgrund von schlechter Arbeit in Krankenhäusern aufgetreten! Immer dort, wo viele schon vorerkrankte Menschen relativ eng zusammen sind und vom Versorgungssystem bedingt Infizierte in die normale Krankenhaus-Versorgung eingebunden werden, steigt das Infektionsrisiko fast zwangsläufig.
Was fordern Sie?
Eine Erkenntnis aus der Krise ist für mich, dass bei aller Wichtigkeit des stationären Bereichs, die Hauptlast der Versorgung – wenn wir die Zahl der Patienten und nicht die Schwere ihrer Erkrankungen betrachten – in Deutschland der vertragsärztlich-ambulante Bereich sehr gut bewältigt. Das muss man anerkennen und auch entsprechend honorieren.
Und bei den Krankenhäusern soll etwa alles so bleiben wie es ist?
Aber nein. Die bisher ganz gut gelungene Bewältigung oder Eindämmung der Corona-Krise bei uns ist beileibe nicht der abschließende Beleg dafür, dass die Krankenhausstruktur in Deutschland zukunftssicher ist. Ich glaube, dass uns die Krise genau das Gegenteil lehrt. Nach ersten vorläufigen, auch nicht abschließenden Analysen haben rund ein Drittel der Kliniken in Deutschland überhaupt keine Corona-Patienten behandelt. Das waren fast durchgängig kleine Häuser der Grund- und Regelversorgung. Die Last der Versorgung von Corona-Patienten lag bei größeren Häusern mit mehreren Intensivabteilungen und entsprechenden Teams mit ausreichender Erfahrung mit Beatmung, was ja auch gut und richtig ist. Wenn wir die in der Krise geleistete Versorgung genau analysieren, muss ein erstes Fazit eben lauten: Die Corona-Krise hat nicht belegt, dass die bisherige Krankenhaus-Struktur richtig ist.
Wir haben zu viele Betten statt zu wenige, brauchen aber bessere Kompetenz-Center?
Das kann ich so unterschreiben.
Ein anderes aktuelles Thema ist das der Zurverfügungstellung von Patienten- und Versorgungsdaten durch die mit dem eben vom Bundestag verabschiedeten PDSG, das endlich die elektronische Patientenakte, kurz ePA, und die Möglichkeit der Datenspende einführt.
Nicht zu vergessen ist die Etablierung einer Forschungsdatenbank. Wir sollten den Vorteil, dass hierzulande 90 Prozent der Bevölkerung in einem System versichert ist, das im Vergleich zu anderen Industrienationen schon heute datentechnisch optimal, weil einheitlich aufgestellt ist, besser nutzen als bisher. Das betrifft den Teil der allgemeinen Versorgungsforschung und der Datenanalyse von Routinedaten. Ein Spezialthema ist hingegen die ePA und die Datenspende. Hier sehe ich ein wichtiges Entwicklungsfeld, in dem wir uns als Kasse engagieren, das aber bisher nicht im Rahmen des bifg. Wir haben als Kasse schon vorher eine Initiative gestartet, indem wir einen Innovationsfondsantrag intensiv unterstützen, der genau in diese Richtung zielt.
Worum geht es?
Mit der elektronischen Patientenakte und der Telematikinfrastruktur werden wir in sehr kurzer Zeit eine international herausragende und auch technisch einmalige Basis haben, um Daten zu sammeln, zu kommunizieren und zu analysieren. Doch moderne Forschung braucht auch noch andere Daten als Routineabrechnungs- und Befunddaten, die über dieses System transportiert werden. Sie braucht je nach Fragestellung hochspezifische Daten, um in der immer rascheren Entwicklung vom Bench to Bedside im internationalen Wettbewerb erfolgreich mitarbeiten zu können. Mit der aktuellen Gesetzgebung können wir dem Ganzen noch mal einen richtigen Schub geben, wenn wir die technische Infrastruktur, die uns nun zur Verfügung steht, auch nutzen.
Und wie?
Meine persönliche Vorstellung ist eine Satelliten-ePA. Was wir in der Forschung brauchen, kann schlecht in die Standard-ePA integriert werden; was wir brauchen, ist ein Vehikel, mit dem man je nach Forschungsfeld spezifische zusätzliche und weitergehende medizinische Befunddaten erfassen und in den Netzwerken der forschenden Einrichtungen in Deutschland verwenden kann. Das Interessante ist, dass man eine bestehende und bald weit verbreitete Technologie als Basis nutzen könnte, um Patienten von einem Forschungsstandort aus datentechnisch in die jeweilige Routineversorgung vor Ort zu verfolgen – natürlich alles hochanonymisiert und pseudonymisiert.
Reine Zukunftsmusik?
Aber nein. Ein Beispiel, an dem wir bereits mitarbeiten, ist ein Projekt der Hauptstadt-Urologie der Charité, gemeinsam mit den Berliner und brandenburgischen Urologen. In diesem Netzwerk werden auf einer einheitlichen IT-Basis sämtliche Prostatakarzinom-Patienten erfasst, um diese nicht nur besser in Studien zu rekrutieren, sondern diese besser unterstützen zu können. Das Zweite ist der eben erwähnte Innovationsfondsantrag, der am Beispiel des Bronchialkarzinoms und gemeinsam mit dem Netzwerk genomische Medizin versucht, die technische Basis für eine Datenerfassung – angedockt an die Telematikinfrastruktur und die ePA – zu entwickeln. Wenn wir derartige Projekte aktiv angehen und nach vorne tragen, können wir den Forschungs-, Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland richtig nach vorne bringen. Und ganz nebenbei die deutsche Kleinstaaterei und das „Not Invented Here“-Syndrom vergessen, das immer eine große Rolle spielt, wenn mehr als drei Universitäten und drei Bundesländer oder drei Krankenkassen beteiligt sind.
Da sind auf einmal alle recht gleich.
Leider. Dabei müssen wir uns nur auf ein Ziel und auf die nötigen Standards einigen. Eines lautet: Es muss eine offene, transparente Technologieplattform geben, die von Wissenschaftlern frei genutzt werden kann.
Was wären denn interessante Fragestellungen, die man damit in Bezug auf Corona analysieren könnte, wenn solche Daten leichter zugänglich wären?
Der erste und wichtigste Schritt ist die nachgehende Analyse der Versorgung in der Krise. Hier gibt es eine ganze Reihe interessanter Aspekte. Einen hatte ich schon bewusst provokant angesprochen: Welche Rückschlüsse sollten wir auf die Angemessenheit der vorhandenen Strukturen ziehen? Während der Krise wurde beispielsweise ein Register zu Intensivbehandlungsplätzen geschaffen, indem täglich an die Behörden in den Ländern – dann kumuliert im Bund – gemeldet wurde, wo welche Behandlungskapazitäten vorhanden und wie diese belegt sind. Ich bin der Meinung, dass künftig nicht nur Intensivbehandlungsplätze monitoriert werden sollten, sondern auch wie im Nachfeld der Krise andere Behandlungsplätze und Klinikbetten belegt waren.
Um so quasi eine Landkarte der aktuell behandelten Erkrankungen und deren Verbreitung zu bekommen?
Ganz genau. Ein zweiter Aspekt, den man sich nach der Corona-Krise anschauen sollte, ist jener, dass epidemiebedingte Veränderungen und Einschränkungen in der Versorgung häufig dazu führen, dass diese mit einer schlechteren Versorgung für andere Patienten „erkauft“ werden. Dies führt dazu, dass in Epidemiezeiten häufig chronisch Kranke Nachteile erleiden und aufgrund der schlechteren Versorgung in einer solchen Krise sogar zu Schaden kommen können. Diese
Kollateralschaden einer sicher richtigen Fokussierung auf das Thema Covid-19 muss man unbedingt analysieren, aber nicht aufgrund einer wie immer gearteten Schuldzuweisung, sondern um daraus zu lernen, wie man das Versorgungssystem künftig besser aussteuern kann.
Es heißt, dass in der Corona-Hochphase auf einmal deutlich weniger Herzinfarkte, Schlaganfälle und deutlich weniger Oberschenkelhalsfrakturen aufgetreten sind. Wie kann das sein?
Warum sollte sich das alles in der Krise verändert haben? Eine Hypothese mag sein, dass es weniger Herzinfarkte gab, weil das Arbeiten im Homeoffice weniger Stress auslöst oder übermäßige sportliche Belastung einfach nicht stattfand. Aber dass es weniger Oberschenkelhalsfrakturen gegeben haben soll, ist für mich erst mal ganz unplausibel. Darum müssen wir evident wissen, was in dieser Krise passiert und warum etwas passiert ist. Und vor allem: Welche Wirkungen es auf die einzelnen Patienten und auf Gesundheitssystem hatte? Daraus sollten wird dann wieder Schlüsse ziehen, zum Nutzen aller.
Untersucht werden sollen, so steht es auf der bifg-Homepage geschrieben, „insbesondere Fragen der Gesundheitsversorgung, der Finanzierung und der Versicherungssysteme“. Welche Themen sind das genau?
Ein aktuelles Beispiel hatte ich bereits genannt: den Aufbau eines Corona-Dashboards, das Datenquellen identifizieren, sichern und validieren und daraus eine laufende Statistik für eine gewisse Phase aufstellen soll. Ein weiteres Thema ist der große Bereich RSA. Hierzu haben wir ein kassenübergreifendes Projekt mit einigen Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen. Im Bereich der Klassifikationssysteme allgemein sind wir auch schon in Innovationsfondsprojekten aktiv, zum Beispiel in einem konkreten Projekt zu Populationsgroupern, das heißt zur Entwicklung eines Verfahrens zur Messung des Versorgungsbedarfs der Bevölkerung. Ein weiterer Bereich widmet sich der auch schon angesprochenen Systemfrage der ambulant-stationären Versorgung, generell jedoch Versorgungssystemfragen jeder Art, die sich dann auch auf einzelne Krankheitsentitäten beziehen können, oder auch auf dem Einsatz von telemedizinischen Verfahren für die Versorgung bestimmter Patienten.
Was die Zahl der Köpfe angeht, ist der größte bifg-Bereich „Medizin und Versorgungsforschung“.
Dort werden die Reporte inhaltlich begleitet und viele Fragen beantwortet, die sich aus dem operativen Geschäft ergeben. Auch wird hier die Gestaltung von Selektivverträgen sowie die Innovationsfondsprojekte analysiert und begleitet. Wir sind immerhin an rund 20 Prozent aller Innovationsfondsprojekte beteiligt und mussten lernen, dass es nicht nur um die Anfangsbegleitung eines Antragsverfahrens geht, sondern in aller Regel auch um die laufende Begleitung der Projektarbeit, auch um sicherzustellen, dass es am Ende gute Ergebnisse gibt.
Bei dem großen Themenbereich „Medizin und Versorgungsfor-schung“ könnte man auch annehmen, dass es bei diesem Themenspektrum darum geht, die originäre Arbeit der Leistungserbringer zu erledigen.
Wir haben nicht den Anspruch, Medizin besser zu können oder besser beurteilen zu können als die, die Tag für Tag die medizinischen Leistungen erbringen. Wenn hier Medizin steht, dann signalisiert das lediglich nach außen, dass wir eine Stelle vorhalten, an die sich alle mit medizinischen Fragestellungen wenden können und dort auf ärztliche Kollegen treffen, die ihre Sprache sprechen, aber eben auch die kasseninterne Welt kennen, die vielen eher verschlossen ist.
Wie zum Beispiel auch die kasseneigene Datawarehouse-Struktur.
Und vor allem dem sachgemäßen Umgang damit. Wenn man nicht die Gesetzesänderungen der letzten 15 Jahre kennt, kann man bei Analysen im Datawarehouse ganz schnell über die eigenen Füße stolpern, sprich die falschen Schlüsse ziehen.
Warum ist das so?
Weil sich mit jeder Gesetzesnovelle auch Veränderungen in Abrechnungs- und/oder Vergütungssystem ergeben können, was aber rein gar nichts mit einer etwaigen Veränderung in der Medizin oder dem Krankheitsstatus von Patienten zu tun hat. Genau das wissen unsere Fachleute sehr genau. Auch das war mit ein Grund für die Gründung des Institutes. Denn eine Standarderfahrung mit Externen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, ist, dass es eben zu vorschnellen Hypothesen und Schlüssen kommen kann.
Welche Erkenntnisse versorgungsforscherischer Art wären für Sie im Bereich der Pflege besonders wichtig?
Hier arbeiten wir mit Professor Rothgang* aus Bremen zusammen, der den Pflegereport herausgibt, ein ohne Zweifel sehr versierter Wissenschaftler in diesem Bereich. Wir haben uns in den letzten acht Jahren unterschiedlichste Themen in den jeweiligen Reporten angeschaut. Ein Beispiel dafür ist die Situation junger Dauerpflegebedürftiger. Diese haben wir im Jahr 2017 analysiert.
Mit welchen Fragestellungen?
Wie werden sie gepflegt? Wo werden sie gepflegt? Was sind ihre Präferenzen? Wie gut werden diese Präferenzen berücksichtigt? Natürlich ist das Thema Pflege vor allem ein Problem höherer Altersklassen, aber eben nicht nur. Es gibt leider eine durchaus große Zahl jüngerer dauerpflegebedürftiger Menschen, über deren Situation bisher wenig bekannt ist. Das werden wir ändern, indem wir valide Zahlen und Daten schaffen und damit Fakten als Basis für eine qualifizierte Diskussion. Auch die allgemeine Pflege, für die durch den Gesetzgeber schon einiges im Rahmen der Pflegestärkungsgesetze getan wurde, werden wir über unsere Versorgungsforschung weiter begleiten.
Da die Pflege bisher relativ schwach vertreten ist, braucht sie umso mehr Evidenz, um ihren Nutzen zu beweisen.
Und um entsprechend wahrgenommen zu werden. Doch gibt es bislang leider zu wenig gute Versorgungsforschung in der Pflege.
Damit eben nicht nur am offenen Fenster geklatscht oder mit Bratpfannen und Töpfen Krach gemacht wird.
Das war schon richtig und wichtig. Nur muss der damit gezeigte Good Will nun tatsächlich in eine strukturell stärkere Stellung der Pflege münden, bis hin zu Budgets und Gehältern. All das braucht eine Unterlegung mit evidenzbasierten Fakten. Darum werden wir uns auf diesem Gebiet ganz besonders engagieren.
Herr Prof. Straub, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski, Bearbeitung durch MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis:
Straub, C., Roski, R., Stegmaier, P.: „Die Kraft, ordnungspolitische Rahmen zu verändern“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/20), S. 12-16; doi: 10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2235