Eckpfeiler für eine digitale Transformation des Gesundheitswesens
>> Die Erwartungen an die Digitalisierung im Gesundheitswesen sind dabei so vielfältig wie die Zahl der Beteiligten:
• Aus Sicht der Patienten geht es unter anderem um eine bessere Information über und ein stärkeres Einbeziehen in den Behandlungsprozess;
• Aus Sicht von Medizin und Pflege stehen eine bessere Diagnostik und Therapie sowie weniger Bürokratie im Mittelpunkt;
• Aus Sicht der Kostenträger sollen sich Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung entscheidend erhöhen;
• Aus Sicht von Politik und Gesellschaft sichert die Digitalisierung ein modernes Gesundheitssystem für alle mit Antworten auf die Fragen von morgen.
Doch ohne die Erwartungen dämpfen oder den Erfolg des bislang Erreichten schmälern zu wollen: Von einer konsequenten und flächendeckenden Digitalisierung des Gesundheitswesens kann keine Rede sein. Noch immer leistet die elektronische Gesundheitskarte nicht das, was sie eigentlich leisten soll. Noch immer gibt es zu viele Insellösungen, die zwar für sich genommen funktionieren, aber nicht mit den Angeboten anderer Akteure verzahnt sind. Noch immer trifft die elektronische Vernetzung auf Unwissenheit, Skepsis und Ablehnung – sei es aus Furcht vor Eingriffen in persönliche Grundrechte oder mangelnde Datensicherheit, sei es aus Sorge vor Veränderung, sei es aus Interesse am eigenen wirtschaftlichen oder politischen Vorteil.
Das muss sich ändern – denn die Patientinnen und Patienten müssen in Zukunft stärker als heute von den Chancen eines digitalisierten Gesundheitswesens profitieren können. Die oben genannten Verbände und Organisationen appellieren deshalb an die Politik, im Diskurs mit den Akteuren im Gesundheitswesen und den Bürgerinnen und Bürgern eine inhaltlich schlüssige Agenda für die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens zu erarbeiten und diese konsequent umzusetzen – insbesondere die drei Bundesministerien für Gesundheit, Wirtschaft sowie Bildung und Forschung sind hier gefordert.
Mit ihrer ersten gemeinsamen Erklärung wollen APS, BMC, BVdIG, DNVF, GRPG und VdigG zugleich einen inhaltlichen Impuls setzen und dokumentieren, dass trotz unterschiedlicher Interessenlagen die Verständigung auf Eckpfeiler für eine digitale Transformation des Gesundheitswesens fachlich-inhaltlich möglich ist.
Eckpfeiler für eine digitale Transformation des Gesundheitswesens
• Patientinnen und Patienten haben nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Paragraf 630g) schon heute einen Rechtsanspruch auf die digitale Verfügbarkeit ihrer Daten, der im Rahmen der Europäischen Datenschutz Grundverordnung (EU-DSGVO) ab Mai 2018 nochmals deutlich konkreter wird. Diesen Rechtsanspruch gilt es endlich umzusetzen.
• Digitale Anwendungen und Lösungen sind inter-
operabel und – wo möglich und sinnvoll – an internationalen Standards orientiert auszugestalten: EDV-technische Insellösungen, die nicht mit anderen Anwendungen vernetzt werden können, führen in eine Sackgasse. In der Konsequenz heißt das, den Paragrafen 291d im Sozialgesetzbuch (SGB) V um praxisrelevante und intersektorale Schnittstellenlösungen, die auch die Bereiche Apotheken, Pflege, Reha und Heilmittelerbringer umfassen, verbindlich zu ergänzen, insbesondere auch um Fragestellungen aus der Versorgungsforschung angehen und Lösungen für die digitale Arzt-Patienten-Kommunikation entwickeln zu können.
• Eine bundesweit einheitliche Lockerung des Fernbehandlungsverbotes für Ärzte und andere Berufsgruppen über Pilotprojekte hinaus ist überfällig und die Musterberufsordnung für Ärzte entsprechend anzupassen. Hier sollte der nächste Ärztetag ein Zeichen setzen! An der Digitalisierung sind über Ärzte und Bürger/Patienten hinaus alle Gesundheitsprofessionen sowie öffentliche und private Kostenträger – einschließlich der Beihilfestellen.
• An der Digitalisierung sind über Ärzte und Bürger/Patienten hinaus alle Gesundheitsprofessionen sowie öffentliche und private Kostenträger – einschließlich der Beihilfestellen und Berufsgenossenschaften – zu beteiligen.
• Das informationelle Selbstbestimmungsrecht, Vorgaben der EU-Datenschutz-Grundverordnung und des Sozialgesetzbuches dürfen für die Bürgerinnen und Bürger dabei nicht aufgeweicht werden. Die Digitalisierung ist für die Leistungserbringer Pflicht, für die Patientinnen und Patienten freiwillig. Digitale Angebote müssen für Patienten und Bürger diskriminierungsfrei und ohne besondere technische Zugangshürden gestaltet sein – örtliche und zeitliche Einschränkungen etwa durch eine schlechte Breitbandverkabelung dürfen dabei keine Rolle spielen.
• Patientinnen und Patienten muss eine freiwillige Spende ihrer Daten zu Forschungszwecken nicht nur rechtlich, sondern auch technisch einfach möglich sein. Für Patienten müssen die damit einhergehenden Forschungsergebnisse unmittelbar im eigenen Lebenskontext greifbar sein: Nur konkreter, erlebbarer Nutzen motiviert auf Dauer zur Datenspende.
• Für die Akteure im Gesundheitswesen (Krankenkassen, Leistungserbringer etc.) ist ein dauerhaftes und angemessenes Innovationsbudget für digitale Versorgungsmodelle im Rahmen selektivvertraglicher Regelungen zu schaffen, um solche Angebote ausreichend und vergleichend (auch gegenüber analogen Versorgungsmodellen) auf Evidenz evaluieren zu können. Bei der weiteren Arbeit des Innovationsausschusses im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dessen Expertenbeirat ist eine wesentlich stärkere Beteiligung von Medizin-Informatikern aus Wissenschaft und Praxis erforderlich.
• Analog zu einem Ausbau der Gesundheitskompetenz („Health Literacy“) ist die „Digital Health Literacy“ zu fördern – nicht nur bei Patientinnen und Patienten, sondern insbesondere auch in der Politik und bei allen Akteuren im Gesundheitswesen. Patienten erwarten in erster Linie von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt sowie von den Heilberufen insgesamt eine entsprechende Beratung und Empfehlung hinsichtlich der für sie geeigneten digitalen Gesundheitsangebote. Hierzu sind adäquate Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote zu schaffen.
• Digitale Anwendungen müssen flächen-
deckend in ganz Deutschland verfügbar und zugänglich sein – insbesondere in ländlichen Regionen und strukturschwachen Gebieten. Darum müssen Bund und Länder für einen flächendeckenden Breitbandausbau und eine umfassende Internetverfügbarkeit sorgen, nicht zuletzt, um in strukturschwachen Regionen die Gesundheitsversorgung langfristig auch mithilfe von E-Health-Anwendungen aufrechterhalten zu können.
• Es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen ethischen Diskurses darüber, für welche Bereiche und Anwendungen der Digitalisierung, auch und insbesondere unter Beachtung der EU-Datenschutzgrundverordnung, künftig so genannte opt-in/opt-out-Lösungen festzulegen sind. Beispielhaft seien hier die Themen Organspende oder Patientenverfügung genannt, bei denen das Prinzip der freiwilligen Hinterlegung von Daten im Notfall an seine Grenzen stoßen kann.
Schlussfolgerungen
Mit ihrer gemeinsamen Erklärung wollen die oben genannten Verbände und Organisationen nicht zuletzt deutlich machen, dass eine Digitalisierung des Gesundheitswesens nur gelingen kann, wenn sich alle wichtigen Akteure dafür engagieren: Politik, Gesundheitsberufe, Kostenträger, Industrie, Wissenschaft, Gemeinsame Selbstverwaltung, Verbände und Organisationen aus dem E-Health-Sektor bis hin zu den Bürgerinnen und Bürgern bzw. den Patientinnen und Patienten. Welche Schritte im Einzelnen von wem erforderlich sind, ist noch diskutieren. <<
von:
Prof. Dr. med. Guido Noelle
(Korrespondenzautor: info@bvdig.de)