Perspektiven der stratifizierten Prävention: Chancen und Grenzen am Beispiel der kardiovaskulären Medizin
http://doi.org/10.24945/MVF.02.18.1866-0533.2073
Die Verhaltensweisen für ein gesundes Leben sind lange bekannt. Gegenwärtig wird das hergebrachte „Präventionssextett“ jedoch um eine neue Dimension erweitert: die stratifizierte Prävention. Diese, auf den Einzelnen zugeschnittene Prävention ermöglicht eine gezieltere, effektivere und risikoärmere Verhinderung und Behandlung von Krankheiten. Ihren immensen Chancen stehen jedoch insbesondere die Gefahren eines „gläsernen Menschen“, für die Chancengleichheit oder im Einzelfall gesundheitsgefährdenden Maßnahmen gegenüber. In dieser Ambivalenz fordert der vorliegende Beitrag, die stratifizierte Prävention auch in ihrem erheblichen interdisziplinären Forschungsauftrag zu stärken, Krankheitsbilder enger zu fassen, am Ausgangspunkt und Leitbild der eigenverantwortlichen Prävention festzuhalten, den Bildungsauftrag zur Prävention zu stärken, Biodatenbanken besser zu regulieren, eine Forschungs-Einwilligung zu ermöglichen und insgesamt die stratifizierte Prävention gesellschaftlich besser zu verankern.
Perspectives for stratified prevention in cardiovascluar medcine
Healthy behaviours that prevent chronic cardiovascular diseases have been known since the Middle Ages, feeding into the modern concept of the “preventive self”. Research into the complex interactions between inherited disease susceptibility, acquired behaviour, life events, and environmental factors have recently re-shaped our understanding of the development of such diseases. The ready availability of genomic information, physiological measurements, and detailed “real time” behavioural patterns provides enormous opportunities for precise disease risk estimation in the near future. Integrating this information could unlock a new paradigm of targeted, effective, and safe prevention of chronic cardiovascular diseases: Stratified prevention. Gathering and linking that information, however, is confronted with justified concerns around data protection and the loss of individual freedom, including problems of equality. This article summarises the outcome of a two-day interdisciplinary workshop exploring the opportunities and risks of stratified prevention, with input from cardiologists, epidemiologists, ethicists, experts in law, economists, and health managers. Together, these experts defined aims for stratified prevention, including a call for a new disease taxonomy, that is centred around autonomous patients who are engaged in a life-long process of learning and self-determination. A better use and improved governance of existing data sets and biosamples was identified as a priority to enable the development of stratified prevention concepts, including the possibility of donating data or biosamples “to science”. The participants acknowledged the need for a coordinated interdisciplinary research effort, as e.g. expressed in the current Präventionsgesetz, to enable the development of ethical, effective, and evidence-based stratified prevention.
Keywords
Prevention sextet, New disease taxonomy, Education, Autonomous patient-led prevention, Research consent
Prof. Dr. Gregor Kirchhof, LL. M. - Prof. Dr. Josef Franz Lindner - Prof. Dr. Paulus Kirchhof -
Arbeitsgruppe Prävention*
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Zitationshinweis: Kirchhof, G., Lindner, J., Kirchhof, P.: „Perspektiven der stratifizierten Prävention: Chancen und Grenzen am Beispiel der kardiovaskulären Medizin“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 02/18, S. 46-51, doi: 10.24945/MVF.0218.1866-0533.2073
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Perspektiven der stratifizierten Prävention: Chancen und Grenzen am Beispiel der kardiovaskulären Medizin
Seit dem Mittelalter ist bekannt, dass hinreichend Bewegung und Schlaf, eine ausgewogene Ernährung, wenig Alkohol und ein angemessener Umgang mit Stress die Gesundheit schützen. Dieses hergebrachte Präventionsquintett, um den Nikotinverzicht zu einem Sextett ergänzt und durch die Herausbildung eines „präventiven Selbst“ im 20. Jh. besser umgesetzt, ist um eine Dimension zu erweitern: die stratifizierte Prävention. Insbesondere die Erkenntnisse, die auf großen biomedizinischen Datensätzen und physiologischen Messungen im Alltag beruhen, werden es in naher Zukunft erlauben, individuelle Gesundheitsrisiken präziser als bisher einzuschätzen und genauere Präventionsstrategien zu entwickeln. Den immensen Chancen dieser Entwicklung, die eine gezieltere, effektivere und risikoärmere Verhinderung von Krankheiten ermöglicht, stehen berechtigte Bedenken und beachtliche Gefahren gegenüber, wenn vor einem „gläsernen Menschen“, vor Problemen der Chancengleichheit oder vor medizinisch für die meisten sinnvollen, aber im Einzelfall gesundheitsgefährdenden Maßnahmen zu warnen ist. Der vorliegende Beitrag fasst die Diskussionen einer interdisziplinären Tagung in Augsburg unter Beteiligung von Kardiologen, Epidemiologen, Juristen, Techno-Ökonomen, Ethikern und Gesundheitsmanagern zusammen. Die Teilnehmer haben gemeinsam versucht, die Ziele der stratifizierten Prävention zu benennen. Diese Prävention verlangt, Krankheitsbilder enger zu fassen. Ausgangspunkt und Leitbild ist der eigenverantwortliche Patient, der in einem über die Schule hinausgreifenden, lebenslangen, in der digitalen Technik auch individualisierten gesundheitlichen Bildungsauftrag zu informieren ist. Zu Recht unterstreichen das Sozialversicherungsrecht und das neue Präventionsgesetz den erheblichen Forschungsbedarf, der nötig ist, um eine ethische, effektive und evidenzbasierte stratifizierte Prävention zu entwickeln und allgemein zugänglich zu machen. Die notwendige interdisziplinäre Forschung im Bereich dieser präzisierten Prävention, die erst am Anfang steht, sollte durch eine bessere Regulierung von Biodatenbanken und eine Forschungs-Einwilligung, die Spenden „für die Wissenschaft“ ermöglicht, wissenschaftlich gestärkt und gesellschaftlich besser verankert werden.
Grundlage einer stratifizierten Prävention sind altbekannte
Wahrheiten: Seit dem Mittelalter werden Verhaltensweisen für ein gesundes Leben beschrieben, die – ergänzt durch eine Nikotinkarenz – seit vielen Jahren und aufgrund zahlreicher Studien wissenschaftlich anerkannt sind (Textbox) (3).
Die Diskussion über den rechtlichen Rahmen, in dem diese Verhaltensempfehlungen umgesetzt werden sollen, richtet ein Augenmerk auf die Information, z. B. in Form von Warnungen oder sog. Gesundheitsampeln auf Lebensmitteln (4). Schwieriger werden die Rechtsfragen, wenn der Gesetzgeber versucht, Menschen zu einer Prävention anzuhalten, ohne das Ordnungsrecht zu bemühen und oft auch ohne es den Betroffenen bewusst zu machen („nudging“) (5), etwa durch rechtliche Vorgaben, Süßigkeiten und Alkohol in Supermärkten kaufvermeidend zu platzieren. Rechtsstaatswidrige Übertreibungen wären eine subliminale Werbung oder andere manipulative Maßnahmen der öffentlichen Hand für ein gesünderes Leben sowie – ordnungsrechtlich – die „Gesundheitsbeichte“ von Gottfried Wilhelm Leibniz (6, 7).
Das „präventive Selbst“
Vor allem die Verbesserung der Ernährung und Hygiene, die Entwicklung von Antibiotika und die Einführung von Impfprogrammen im 19. und 20. Jh. haben zu einer deutlichen Steigerung der Lebenserwartung und einem Wandel des Krankheitsspektrums („epidemiologische Transition“) und der Todesursachen geführt (8). Krebs und kardiovaskuläre Erkrankungen sind die häufigsten Todesursachen in industrialisierten Ländern. Gleichzeitig spielt der Erhalt der eigenen Gesundheit eine größere Rolle: Die Gesellschaft entwickelt und fordert ein „präventives Selbst“ (9). Wenn auch die gesellschaftlichen Folgen dieses Trends weiterer Analysen harren, ist das Ziel eines längeren und gesünderen Lebens und damit auch ein Anrecht auf Wissen um potenzielle Gefährdungen zu unterstützen. Die normative Folgerung, Einzelne müssten dieses Wissen in Präventionspraktiken umsetzen, kann aus diesen Kenntnissen jedoch nicht abgeleitet werden.
Gesundheit und Krankheit sind in einem Kontinuum zu verstehen, innerhalb dessen Abgrenzungen oft an den Extrema – sicher gesund oder krank – am einfachsten, im Übergang aber schwer zu definieren sind. Dies verdeutlichen über 40 Jahre Salutogeneseforschung, die u. a. durch die weite Gesundheitsdefinition der WHO angestoßen wurde. Die Krankheitswirklichkeit ist durch die biologische Krankheitsätiologie und die quantifizierbaren Krankheitsfolgen, aber auch durch das subjektive Krankheitserleben und die soziale Krankheitswahrnehmung geprägt. Bereits die allgemeinen Verhaltensempfehlungen (Textbox) zeigen die Bedeutung von Protektivfaktoren einerseits und Risikofaktoren andererseits auf. Sie zielen auf Verhaltensweisen, die dazu beitragen, den Gesundheitsstatus aufrecht zu erhalten oder zu verbessern. Erkenntnisse, die eine genauere Beschreibung von Krankheitsrisiken ermöglichen, verändern die klassische, aber schwierig durchzuhaltende Dichotomie von „gesund“ und „krank“ noch weiter zu einer fließenden Skala, auf der den Menschen ein berechenbares niedriges oder hohes Risiko für körperlichen oder psychischen Schaden zugewiesen wird. Das Wissen um die eigene Gefährdung oder um die Gefährdung anderer eröffnet neue Ansätze zur gezielten Krankheitsverhinderung, kann aber auch negative Folgen bewirken, wenn Angst und Unsicherheit, sogar Schäden der Gesundheit und ungleiche Behandlungen entstehen.
Information als zentrales
Instrument der Prävention
Das Anliegen der Prävention und die sinnvollen allgemeinen Verhaltensmaßnahmen sind anerkannt (Textbox), ihre Umsetzung ist allerdings mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden. Gründe hierfür liegen häufig in fehlender Motivation zur Verhaltensänderung, fehlender Bildung, in vorgegebenen oder angelernten Verhaltensmustern und Gewohnheiten, in der familiären Lebenssituation, dem weiteren sozialen Umfeld oder der Peergroup, die ein gesundheitsgefährdendes Verhalten aufrechterhalten oder verstärken kann (10). Hinzu tritt ein Informationsumfeld, das nicht von Gesundheitsinteressen geprägt ist, etwa durch die werbende Kommunikation über Massenmedien und zunehmend über digitale „soziale Medien“. Dementsprechend ist ein Recht auf korrekte Information und Wissen um Prävention zu betonen, wenn eine freie, auf Wissen und Willen beruhende, individuelle Entscheidung hinsichtlich der Prävention ermöglicht werden soll. Wird der hieraus folgende Informationsauftrag gegenwärtig erfüllt? Eine effektive und kontinuierliche Information über die wesentlichen Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu erhalten, verbunden mit einem gesellschaftlichen Konsens, dass jede und jeder Verantwortung für die eigene Gesundheit trägt, könnten hier helfen. Die bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass eine Unterdrückung von (Fehl-) Informationen (z. B. durch Einschränkung von Werbung) weniger zielführend ist.
Die Kultusministerkonferenz hat schon 1979 eine Empfehlung „Gesundheitserziehung in der Schule“ beschlossen und diese 2012 zur „Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule“ weiterentwickelt. Doch liegt die Verantwortung nicht einzig bei der schulischen Bildung, da Lebenswirklichkeit und Verhalten stark im außerschulischen Bereich geprägt werden und Gesundheitsförderung ein lebenslanger Prozess ist. Hervorzuheben ist hier vor allem, dass digitale Technologien (Internet, Smartphone, soziale Medien, die digitale „Vermessung des Selbst“) im modernen Alltag fest verankert sind und das Potenzial haben, auch der Prävention eher ferne Zielgruppen zu erreichen. Kontextabhängige Hilfestellungen könnten bereitgestellt und Informationsmaßnahmen auch in ihrer Wirksamkeit kontrolliert und optimiert werden. Wichtig für die Glaubwürdigkeit und den Erfolg solcher Informationen sind die Qualitätssicherung und eine Multi-Kanal-Architektur der Kommunikation mit individualisierter Aufbereitung. Denkbar ist auch, Biofeedback auf Basis z. B. von Smartphone-Daten oder Fitness-Trackern zu integrieren (11). Zudem bietet sich an, die Informationskampagnen evidenzbasiert kontinuierlich zu verbessern (12).
Stratifizierte kardiovaskuläre Medizin
Die Prävention und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Die kardiovaskuläre Mortalität hat populationsweit messbar abgenommen. Fortschritte sind auch bei der Beschreibung von Krankheitsmechanismen und der Entwicklung und Validierung von gezielten Therapien dieser Mechanismen in kontrollierten klinischen Studien zu verzeichnen. Die Lebenserwartung in Deutschland ist auch deshalb kontinuierlich gestiegen (13). Die eine Hälfte dieses Gewinns an Lebenszeit wird der Prävention, etwa die andere Hälfte der besseren Behandlung von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen zugerechnet, mit fließenden Übergängen zwischen Prävention und Therapie. Diese Erfolge haben jedoch eine „Evidenzspirale“ ausgelöst (14): Immer größere Studien sind erforderlich, um den Zusatznutzen neuer Maßnahmen und neuer Behandlungen nachzuweisen. Doch diese verlangsamen und verteuern die Entwicklung neuer Medikamente und Interventionen. Der Aufwand bei der Zulassung neuer Behandlungsformen, der durch eine höhere Patientensicherheit gerechtfertigt wird, führt teilweise schon heute dazu, dass kardiovaskuläre Forschungsprogramme reduziert oder abgebrochen werden (15). Zudem entsteht der fast paradoxe Anreiz, neue stratifizierte Behandlungen auch für Patienten zu prüfen und zuzulassen, obwohl die neu gewählte Therapie nicht ideal erscheint – einer der Gründe für „late phase failures“ bei der Entwicklung kardiovaskulärer Medikamente (15). Angesichts der erheblichen kardiovaskulären Morbidität und Mortalität in Europa sind diese Entwicklungen zu kritisieren. Unterschiedliche Pathomechanismen bewirken zudem ähnliche chronische kardiovaskuläre Krankheiten, etwa Herzinsuffizienz oder Vorhofflimmern. Diese pathophysiologische Heterogenität hat zu der Forderung nach einer neuen Krankheitstaxonomie geführt, die z. B. mehr auf Krankheitsmechanismen beruht als auf deren klinischer Manifestation (für Vorhofflimmern beispielhaft dargelegt in (16)). Die durch genomische und biomedizinische Unterschiede sowie den sozialen Kontext beschreibbaren Krankheitsursachen ermöglichen gezielte Präventionsmaßnahmen. Daher ist eine Beweglichkeit im Denken und Handeln der akademischen Kardiologie, der kardiovaskulären Industriepartner und der Forschungsförderer erforderlich. Die European Medicines Agency (EMA) und die Food and Drug Administration (FDA) haben bereits begonnen, die Anforderungen an die Zulassung neuer Medikamente an diese Konzepte anzupassen. Der klassische naturwissenschaftliche Ansatz des Erkenntnisgewinns – Nachweis von Assoziation von Merkmalen mit Krankheitsausprägungen, Identifikation von Krankheitsmechanismen und nachfolgend kontrollierte Interventionsstudien – ist jedoch auch auf stratifizierte Behandlungs- und Präventionskonzepte anzuwenden. Mögliche Risiken sind zu berücksichtigen.
Institutioneller Rahmen der Prävention
Medizinische Prävention ereignet sich im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, von Freiheit und Vorsorgepflicht. In einem freiheitlichen Rechtsstaat wird dieses Spannungsverhältnis vornehmlich durch die Grundrechte aufgelöst. Die Entscheidung des Einzelnen, ob und wie er sich an Prävention beteiligt, steht unter dem Schutz der Freiheitsrechte. Staatlicher Zwang zur Prävention ist grundsätzlich grundrechts- und damit verfassungswidrig. Privater, etwa von Versicherungen oder einem Arbeitgeber auferlegter Zwang muss in der Regel vom Staat unterbunden werden. Die öffentliche Hand ist verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zu schützen. Das bedeutet aber keineswegs, dass sich der Staat der Prävention nicht fördernd annehmen dürfte oder müsste. Gesundheit ist ein hochrangiges Gut. Sie entfaltet eine transzendentale Bedeutung, da sie eine Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben bildet. Zu der Vorgabe, den Raum der freien Selbstbestimmung zu achten, tritt der verfassungsrechtliche Auftrag, die Gesundheit des Einzelnen durch Information, Aufklärung und unmittelbare Hilfen zu fördern und zu schützen. Diese und vergleichbare Maßnahmen setzen das freie Individuum zuweilen erst in die Lage, eigenverantwortlich Prävention zu üben oder sich dagegen zu entscheiden.
Den insoweit auch verfassungsrechtlich betonten breiten Bildungs- und Informationsauftrag suchen in dem durch seine föderale Vielfalt geprägten deutschen Gesundheitssystem unterschiedliche Akteure mit ihren jeweiligen spezifischen Verantwortlichkeiten zu erfüllen, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (eine Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit), der Öffentliche Gesundheitsdienst, Haus- und Fachärzte, Vereine und Initiativen sowie die Träger der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung. Das Präventionsgesetz (PrävG) verpflichtet die Sozialversicherungsträger im Bereich des Gesundheitswesens, allen voran die Krankenkassen, zur Entwicklung einer „Nationalen Präventionsstrategie“, an der zahlreiche Stellen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene mitwirken. Die Nationale Präventionskonferenz hat im Jahre 2016 erstmals bundeseinheitliche trägerübergreifende Bundesrahmenempfehlungen zur Gesundheitsförderung in Lebenswelten und Betrieben verabschiedet. Der kürzlich aufgelegte Innovationsfonds der Krankenkassen ermöglicht ebenfalls eine Umsetzung und Evaluierung neuartiger Präventionsansätze. Auch wenn insbesondere der Staat und die Krankenkassen diese Entwicklung fördern, ist unklar, ob eine bessere Prävention chronischer Krankheiten Kosten und Aufwendungen im Gesundheitssystem reduzieren oder erhöhen wird (14). Rechtfertigung beziehen diese Maßnahmen ohnehin zuerst aus dem Nutzen für die Bevölkerung, nicht aus der Ökonomie.
In Reaktion auf die Entwicklung der stratifizierten Medizin und – zuweilen unbewusst – auch der in diesem Sinne präzisierten Prävention betont die Rechtsordnung sodann den bestehenden Forschungsbedarf, wenn präventive Modellprojekte vorgesehen sind. Neben der allgemeinen Gesundheitsförderung sind die Primärprävention, Maßnahmen der Sekundärprävention sowie der Tertiärprävention rechtlich anerkannt. Von wenigen Ausnahmen wie z. B. Schutzimpfungen abgesehen werden die Inhalte der „[p]rimären Prävention und Gesundheitsförderung“ (so die Überschrift zu § 20 SGB V) gesetzlich nicht definiert. Welche Maßnahmen konkret gemeint sind, legt die einzelne Krankenkasse fest (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Modellprojekte (§ 20g SGB V) werden vielfach erst das Wissen generieren, das bislang im Bereich der Primärprävention fehlt. Der Innovationsfonds stellt erstmals ein Antrags- und Bewertungsverfahren vor die Umsetzung solcher Vorhaben einzelner Krankenkassen. Kritisch ist anzumerken, dass die aktuellen Modellprojekte nicht ausreichend wissenschaftlich evaluiert werden. Die bisherigen Formen der allgemeinen Information und Aufklärung reichen insgesamt nicht aus, um eine wirklich präzisierte Prävention sicherzustellen.
Den Erkenntnisgewinn, der eine stratifizierte Prävention ermöglicht, begleitet die berechtigte Sorge vor dem „gläsernen Menschen“, dessen Verhalten vorhersagbar und manipulierbar wird (4, 5, 6). Weitere Gefährdungspotenziale für die individuelle Freiheit und Unversehrtheit sind kumulativ wirkende Beschränkungen, wenn präventive Maßnahmen nicht ergriffen werden, die fehlende Anerkennung oder Umsetzung eines auch gesundheitsfördernden Rechts auf Nichtwissen sowie die ungewollte Gefährdung durch Fehldiagnosen und Überdiagnostik, die gerade in Bereichen niedrigen Risikos von ganz erheblicher Bedeutung sind. Präzise Einsichten über die individuelle Leistungsfähigkeit und spezifische Gesundheitsrisiken sind mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf gleiche Rechte und Pflichten für alle Staatsbürger in Einklang zu bringen. Im Extremfall mag der Staat gefordert sein, Gleichheit zu erhalten. Den rechtlichen Ausgangspunkt und das Leitbild bildet insgesamt der eigenverantwortliche, informierte Bürger.
Rechtlich begrenzte Möglichkeit der Einwilligung in Forschungsvorhaben
Eine bessere Information, die sozialversicherungsrechtlichen Modellprojekte, die Präventionsstrategie des neuen Präventionsgesetzes und insgesamt das Wissen um die Chancen und Risiken der stratifizierten Prävention unterstreichen den breiten interdisziplinären Forschungsauftrag. Der rechtliche Rahmen für die notwendige Forschung sollte durch eine Forschungseinwilligung oder -vollmacht verbessert werden. Die Einwilligung des Probanden in die Teilnahme an einem Forschungsprojekt ist zentraler Ausdruck seiner Selbstbestimmung, die auf grundrechtlicher und menschenrechtlicher Ebene vielfach garantiert wird (Art. 2 und Art. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 EuGRC, Art. 5 Übereinkommen des Europarats über Menschenrechte und Biomedizin). Anders als bei der Einwilligung in eine therapeutische ärztliche Maßnahme ist bei einem Forschungsvorhaben der gesundheitliche Nutzen für den Probanden ungewiss. Das Wesen der Forschung besteht darin, nicht im Voraus zu wissen, welche Ergebnisse erzielt werden. Darüber hinaus kann sich durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse die Notwendigkeit ergeben, auf bereits vorhandene Daten noch einmal unter einem anderen als dem ursprünglich geplanten Forschungszweck zuzugreifen. Die fortschreitende Forschung kann es daher sinnvoll erscheinen lassen, bereits existierende Datenbestände erneut zu prüfen oder den ursprünglich geplanten Forschungsverlauf einschließlich der erwogenen Methoden zu verändern. Dies gilt insbesondere angesichts der rasanten Entwicklung im Bereich der stratifizierten Medizin. Solche Ergänzungen oder Abweichungen vom ursprünglichen Forschungsplan sind aber von der Einwilligung in eine wissenschaftliche Studie nicht abgedeckt und würden häufig eine erneute Aufklärung und Einwilligung des Patienten oder Probanden erfordern – was gerade bei großen Datenmengen kaum durchzuführen ist. Es bedarf daher einer neuen allgemeinen Einwilligungserklärung, die es dem Betroffenen ermöglicht, der Forschung als Prozess, auch der Reevaluation und erneuten Untersuchung der den Forschern überlassenen Daten vorsorglich zuzustimmen: verständlich, zielgerichtet und abgestuft. Die Abstufung will eine allgemeine oder nur teilweise Zustimmung zu den Forschungsplänen nach einem vorgegebenen Schema ermöglichen, das Ausschlusspunkte vorsehen kann. Diese allgemeine Einwilligung vertraut den Forschern und den mit der Forschung befassten Institutionen. Teilnehmer an einer Forschungsstudie sind besonders schützenswert, da ein individueller gesundheitlicher Nutzen die Versuchsteilnahme oft nicht ausgleichen kann. Der Schutz des Probanden und die Ergebnisoffenheit eines anvisierten Forschungsziels müssen sich in der Einwilligungserklärung widerspiegeln. Die allgemeine Forschungsregulierung (Good Clinical Practice – GCP, International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use – ICH) bleibt erhalten. Das bedeutet,
• dass der Proband in eine Teilnahme an einem Forschungsvorhaben mit nur eingeschränkt voraussehbarem und im Studienprotokoll bestimmbarem Forschungsziel allgemein einwilligen kann,
• dass die Einwilligung in die Weiterverwendung seiner individuellen Daten durch Dritte einer besonderen Zustimmung bedarf, die im Vorhinein eingeholt werden kann
• und dass drittbezogene Informationen (Genanalysen) nur unter Berücksichtigung der Belange der Betroffenen (und mit Zustimmung aller Beteiligten) weitergegeben werden dürfen.
Aufgrund der allgemeinen Einwilligung in die Studienteilnahme und die mit ihr verbundenen Maßnahmen ist die mündliche und schriftliche Aufklärung auf die wesentlichen Umstände der Studie zu beschränken wie z. B. die Forschungsziele, den Ablauf, die voraussehbaren Risiken und den Umgang mit den gewonnenen Daten. Die Einwilligungserklärung muss es – dieser Aufklärung und ggf. einem vorgegebenen Schema mit Ausschlusspunkten folgend – dem Betroffenen ermöglichen, den Prozess zu verstehen und ihm zuzustimmen. Überflüssige und zu detaillierte Aufklärungsbögen und Einwilligungserklärungen sind auch hier zu vermeiden.
„Governance“ von stratifizierten
Forschungsvorhaben und Biobanken
Die Unbestimmtheit der Vorgehensweise und der Ergebnisse der Forschung erfordert insgesamt eine definierte „Governance“ von Forschungsvorhaben, die regelt, wie geforscht wird und auf welche Weise Ergebnisse behandelt und kommuniziert werden. Dieser Lenkungsbedarf erfasst insbesondere epidemiologische Daten- und Biobanken. Die Regulierung von Biobanken muss einerseits die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. Abs. 1 GG, Art. 7 f. EuGRC, Art. 8 EMRK) und vor genetischer Diskriminierung (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 21 EuGRC) schützen und andererseits die biomedizinische Forschung (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 13 EuGRC) gerade mit Blick auf die individuelle wie öffentliche Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 35 EuGRC) fördern. Ansatzpunkt für die Regulierung von Biobanken ist in der Bundesrepublik das Datenschutzrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 1
GenDG). Die primär datenschutzrechtliche „Governance“ wird jedoch den Anforderungen einer ausdifferenzierten Forschungsinfrastruktur nicht gerecht: zum einen aufgrund der altruistischen Spenden vieler tausender Bürgerinnen und Bürger; zum anderen mit Blick auf ihre Funktion, die individuelle und öffentliche Gesundheit zu fördern. Dies legt einen umfassenden Regulierungsansatz nahe, der das Selbstbestimmungsrecht der spendenden Personen effektiv schützt, das Biobankgeheimnis gewährleistet, Einrichtung und Betrieb, Zugangsrechte und die Überwachung von Biobanken regelt sowie strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte vorsieht (17).
Der weiterreichende Regulierungsbedarf lässt sich am Beispiel des Selbstbestimmungsrechts der Spenderinnen und Spender veranschaulichen: Grundsätzlich muss nach dem aktuell herrschenden Verständnis eine Spende für eine Biobank mit einer möglichst präzisen Zweckbindung für bestimmte Forschungsvorhaben erfolgen. Doch dies schränkt die Forschungsmöglichkeiten mit Blick auf künftige, zum Zeitpunkt der Einwilligung nicht absehbare wissenschaftliche Fragestellungen unverhältnismäßig ein. Eine Biobank wird ihrer Funktion als gemeinwohlbezogene Forschungsinfrastruktur nur dann gerecht, wenn auch Spenden „für die Wissenschaft“ im Ganzen möglich sind. Es ist hierbei nicht zielführend, dass man eine generalisierte Einwilligung („Consent“) mit Verweis auf das Datenschutzrecht verbietet. Viele Teilnehmer an Biobanken sind von einem allgemeinen Willen angetrieben, „der Forschung zu helfen“. Die diesem Willen entsprechende allgemeine Einwilligung ist rechtlich durch formelle Verfahren und materielle Standards einzuhegen („Governance“). Durch einen, aktuelle Entwicklungen der Forschung begleitenden Gesetzgeber können Bürgerinnen und Bürger das rechtlich gerechtfertigte Vertrauen entwickeln, dass mit ihrem generalisierten Consent verantwortungsvoll umgegangen wird. Hier ist eine effektive, forschungsfreundliche und Grundrechte sichernde „Forschungsgovernance“ in Kooperation zwischen forschenden Institutionen, Ethikkommissionen sowie staatlichen Aufsichts- und Datenschutzbehörden zu entwickeln.
Interdisziplinärer Forschungsauftrag
Hinreichend Bewegung und Schlaf, eine ausgewogene Ernährung, wenig Alkohol, der Verzicht auf Nikotin und ein angemessener Umgang mit Stress schützen die Gesundheit. Dieses „Präventionssextett“ ist lange anerkannt. Gleichwohl besteht bis heute ein weiterer Bedarf, die Vorgaben insbesondere in sozial und anderweitig definierten „präventionsfernen Bereichen“ besser zu befolgen. Das Recht setzt hier vor allem auf Information, damit der die Prävention kennzeichnende Balanceakt gelingt: Der Raum des eigenverantwortlichen Menschen ist zu wahren und gleichzeitig die Gesundheit jedes Menschen zu schützen und zu fördern. Zu Recht wird der schulische Auftrag der Gesundheitsbildung hervorgehoben und verbessert. Vermehrt sollten außerschulische Informationskampagnen im Sinne eines lebenslangen Lernens hinzutreten. Auch in diesem Bereich erlaubt die digitale Technik einen vielleicht entscheidenden Schritt hin zu leicht abrufbaren, stratifizierten, kontextabhängigen und sodann auch evaluierten Gesundheitsinformationen, die auch „präventionsferne“ Bevölkerungsschichten erreichen könnten.
Bereits die allgemeinen Verhaltensempfehlungen des „Präventionssextetts“ verwischen die ohnehin schwer zu ziehende Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, wenn Personen, die nicht „krank“ sind, ihr Verhalten zum Erhalt der Gesundheit ändern sollen und auf einer gesundheitlichen Risikoskala eingeordnet werden. Diese Unsicherheiten werden durch die stratifizierte Prävention intensiviert: Die Auswertung insbesondere von breiten Studien, großen biomedizinischen Datensätzen und physiologischen Messungen werden in naher Zukunft erlauben, individuelle Gesundheitsrisiken besser vorherzusagen und präzisere Präventionsstrategien zu zeichnen. Diese Entwicklung birgt immense Chancen, eine gezieltere und bessere Gesundheitsförderung zu ermöglichen. Allerdings ist die Prämisse, medizinische Maßnahmen müssten zur Sicherheit der Patienten in großen Studien mit vielen Probanden erprobt werden, zu hinterfragen. Denn die Pointe der stratifizierten Prävention liegt gerade in der Individualisierung, die breiten Studien den Weg versperrt. Krankheitsbilder und weitere Befunde, die zu medizinischen Handlungen führen, sind daher enger zu fassen. In Reaktion auf die Entwicklung der stratifizierten Medizin und – zuweilen unbewusst – auch der präzisierten Prävention betont die Rechtsordnung zu Recht den allgemeinen Informationsauftrag, sodann aber auch die Notwendigkeit der interdisziplinären Forschung, wenn präventive Modellvorhaben vorgesehen sind.
Forschung ist notwendig offen, weiß nicht, welche Ergebnisse erzielt werden. Dies gilt insbesondere angesichts der rasanten Entwicklung im Bereich der stratifizierten Medizin. Es bedarf daher – wie dargelegt – einer neuen allgemeinen Einwilligungserklärung, die dem Betroffenen ermöglicht, der sich entwickelnden Forschung, also auch einer Reevaluation von Daten und eines Methodenwechsels, zuzustimmen. Auch der gegenwärtige, primär vom Datenschutz geprägte Umgang mit Biodatenbanken wird der dynamischen Wissenschaft nicht gerecht. Die allgemeine Einwilligung sollte auch hier Umgangsschranken aufheben, dabei aber rechtlich durch Verfahren und materielle Standards eingehegt werden. Es bedarf einer effektiven, forschungsfreundlichen und Grundrechte sichernden „Forschungsgovernance“.
Die stratifizierte Prävention bietet immense Chancen, Krankheiten gezielter, effektiver und risikoärmer zu verhindern. Die notwendige interdisziplinäre Forschung muss sich diesen elementaren Zielen, aber auch den Gefahren widmen, wenn zu Recht vor einem „gläsernen Menschen“, vor schwierigen Fragen der Chancengleichheit oder medizinisch im Regelfall zwar sinnvollen, aber im Einzelfall gesundheitsgefährdenden Maßnahmen gewarnt wird. Das Ziel ist, eine ethische, effektive, evidenzbasierte und grundrechtskonforme stratifizierte Prävention zu entwickeln und allgemein zugänglich zu machen. Ungewiss ist, ob eine solche Entwicklung die Kosten im Gesundheitssystem reduzieren oder erhöhen wird. Die präzisierte Prävention verfolgt aber ohnehin nicht in erster Linie ökonomische Ziele, sondern will zuvörderst der Gesundheit der Betroffenen nachhaltig dienen. <<
Verhaltensweisen für ein gesundes Leben
Ausgewogene Ernährung
Hinreichender Schlaf
Moderater Alkoholkonsum oder Alkoholverzicht
Stressvermeidung oder -ausgleich
Nikotinverzicht
*Arbeitsgruppe „Prävention“
gehören an: Gregor Kirchhof, Josef Franz Lindner, Stephan Achenbach, Klaus Berger, Stefan Blankenberg, Heiner Fangerau, Henner Gimpel, Ulrich M. Gassner, Jens Kersten, Dorothea Magnus, Herbert Rebscher, Heribert Schunkert, Stephan Rixen, Paulus Kirchhof. Die drei im Header genannten Mitglieder sind die Korrespondenzautoren. Siehe für den vorliegenden Text bereits Dt. Ärzteblatt 2018 Feb. 115 (8): A324 - A327 und Clin. Res. Cardiol. 2018 Mar. 107 (3): 193-200.