Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung I
http://doi.org/10.24945/MVF.02.18.1866-0533.2072
Räumliche Disparitäten der Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen sind eine zentrale Problemstellung sowohl des Gesundheitssystems im Allgemeinen als auch der raumbezogenen Versorgungsplanung im Speziellen. Das System der kassenärztlichen Bedarfsplanung ist hinsichtlich seiner diesbezüglichen Steuerungsfunktion regelmäßig in der Kritik. Die regionale (oder auch: geographische) Versorgungsforschung untersucht die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdienstleistungen und die damit einhergehenden räumlichen Disparitäten auf einer kleinräumigen Ebene und unter besonderer Berücksichtigung der Erreichbarkeit der relevanten Einrichtungen (z.B. Arztpraxen). Anhand eines regionalen Fallbeispiels (Südniedersachsen) zeigt der erste Teil dieses Beitrags zunächst die gängigen Analyseformen in der geographischen Versorgungsforschung auf und diskutiert ihre methodischen Grundlagen im Kontext der Nutzung Geographischer Informationssysteme (GIS) sowie die Verfügbarkeit hierfür notwendiger Daten. Hierbei wird aufgezeigt, dass der Aspekt des Raumbezugs einen großen Einfluss auf die Ergebnisse von Versorgungsanalysen hat und dass die Berücksichtigung der Verkehrserreichbarkeit wichtige zusätzliche Informationen bereitstellt. Jedoch sind auch diese konventionellen Ansätze mit theoretisch-konzeptionellen Problemen behaftet.
Model-based approaches and „big spatial data” in regional health services research
Regional disparities in healthcare provision are a significant problem of the whole healthcare system and, in particular, of the spatial healthcare planning system. The German planning system (“Kassenärztliche Bedarfsplanung”) is frequently criticized with respect to its locational scope and function. The subject of regional health services research (or: geographical health services research) is the analysis of healthcare provision and the related spatial disparities on a small-scale level with explicit respect to the accessibility of health locations (such as medical practices). This first part of this paper shows the typical analysis methods in regional health services research based on a regional example (South Lower Saxony, Germany) while discussing the methods used in Geographic Information Systems (GIS) and the availability of the related data. It is shown that the results of healthcare supply analyses are strongly affected by the regarded spatial scale. Also, taking into account the traffic accessibility of health locations improves the quality of these analyses. But also these geographical analysis approaches face some theoretical and conceptual drawbacks.
Keywords
health care in rural regions; provision planning; spatial healthcare research; accessibility; spatial interaction models; big spatial data; geographic information systems; optimization
Dr. rer. nat. Dipl.-Geogr. Thomas Wieland
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Zitationshinweis: Wieland, T.: „Teil 1: Modellgestützte Verfahren und big (spatial) data in der regionalen Versorgungsforschung I“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 02/18, S. 41-45, doi: 10.24945/MVF.0218.1866-0533.2072
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Modellgestützte Verfahren und „big (spatial) data“ in der regionalen Versorgungsforschung I: Raumbezug und Ereichbarkeit
Die regionalen Disparitäten der Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen sind insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussion über den demographischen Wandel in den Vordergrund gerückt. Im Fokus stehen hier vor allem bestehende und zu erwartende Versorgungsengpässe im ländlichen Raum (Greß/Stegmüller 2011, Lessing/Herr 2015, Ried 2016). Das System der kassenärztlichen Bedarfsplanung ist, gerade im Hinblick auf seine raumbezogene Steuerungsfunktion, in der Vergangenheit kritisiert worden, wobei die sowohl für Analyse- als auch Planungszwecke zu großräumig angesehen Planungsbereiche und die Nichtberücksichtigung der tatsächlichen Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen bemängelt wurde (Greß/Stegmüller 2011: 22ff.). Im Zuge der Reform der Bedarfsplanung im Jahr 2013 wurde diese Problematik bereits durch kleinräumigere Planungsebenen und die Möglichkeit regionaler Bedarfsanpassungen aufgegriffen (KBV 2013, Schulz et al. 2015).
Die genannten Thesen sind aus einer quantitativ-geographischen Perspektive ausdrücklich zu begrüßen, da hier vergleichbare Diskussionen mit Bezug auf „big spatial data“ geführt werden (Graham/Shelton 2013, Kitchin 2013) und kleinräumige Versorgungsanalysen eine umfangreiche Datenverfügbarkeit voraussetzen. In diesem Beitrag wird daher, angelehnt an ein Projekt zur kleinräumigen Gesundheitsversorgung in Südniedersachsen (Wieland/Dittrich 2016), zum einen das Basiskonzept der geographischen Versorgungsforschung anhand von Beispielen erläutert. Hierbei liegt das Augenmerk darauf, die Notwendigkeit einer kleinräumigen Betrachtung sichtbar zu machen und einige generelle Aspekte zur Methodik und Datenverfügbarkeit zu erläutern. Da, wie gezeigt wird, die konventionellen Ansätze mit theoretisch-konzeptionellen Einschränkungen behaftet sind, werden im zweiten Teil des Beitrags zwei modellgestützte Ansätze zur Analyse bzw. Optimierung der kleinräumigen Versorgung mit Bezug auf Allgemeinärzte im genannten Untersuchungsgebiet vorgestellt.
Kleinräumigkeit und Verkehrserreichbarkeit als Schlüsselgrößen
Zur Relevanz der räumlichen Aggregationsebene
Die Bedarfsplanung operiert in der Bedarfsanalyse und der Festlegung von Arztsitzen mit insgesamt vier Ebenen von Planungsbereichen, wobei die 883 Mittelbereiche für die hausärztliche Versorgung die kleinräumigste Ebene darstellen. Die nächsthöhere Stufe für die allgemeine fachärztliche Versorgung bilden die 372 Kreise und kreisfreien Städte, während die spezialisierte fachärztliche Versorgung auf der Ebene der 97 deutschen Raumordnungsregionen und die gesonderte fachärztliche Versorgung auf insgesamt 17 Regionen der Kassenärztlichen Vereinigungen basiert (KBV 2013: 7). Die Mittelbereiche bestehen zumeist aus mehreren Gemeinden und entstammen dem Zentrale-Orte-Konzept der Raumordnung, das eine räumliche Hierarchie von Versorgungsstandorten (bezüglich privatwirtschaftlicher und öffentlicher Infrastruktur, z.B. Einzelhandel, Post- und Finanzwesen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen) postuliert. Die Mittelbereiche bilden hierbei die zentralörtlichen Bereiche, d.h. die Gebiete, die von Zentren über das eigene Gemeindegebiet hinaus mitversorgt werden, von Mittelzentren (Einig/Zaspel-Heisters 2016: 12ff.). Die Bedarfsplanung berücksichtigt also bereits eine überregionale Nachfrage von Arztpraxen, die in Abhängigkeit der ärztlichen Spezialisierung mehr oder weniger großräumig zugeschnitten ist.
Kleinräumigkeit stellt die wichtigste zentrale Analysegrundlage in der regionalen Versorgungsforschung dar, weshalb zumeist sehr lokale Raumebenen verwendet werden. Im folgenden Beispiel wird die kleinste Skalierung verwendet, für die weiträumig zumindest rudimentäre demographische Informationen (d.h. mindestens ungefähre Einwohnerzahlen) vorliegen, nämlich die Stadt- bzw. Ortsteile politisch definierter Gebietskörperschaften (Städte und Gemeinden, Samtgemeinden). In einem Forschungsprojekt an der Universität Göttingen wurden in Südniedersachsen (Stadt und Landkreis Göttingen, Landkreise Osterode am Harz und Northeim) alle Gesundheitseinrichtungen (Arztpraxen aller Fachbereiche, Apotheken, Pflegedienste, Krankenhäuser usw.) erfasst und jeweils dieser Gebietsebene zugeordnet. Die Einrichtungen wurden ausnahmslos aus öffentlichen Quellen (z.B. Arztsuche der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung) recherchiert, da eine vollständige Liste aller Arztstandorte, ebenso wie bei den meisten anderen Einrichtungstypen, aus Gründen des Datenschutzes nicht öffentlich zugänglich gemacht wird. Auf der Ebene der Teilgebiete (insgesamt 420 Stadt- und Ortsteile) wurden Versorgungsindikatoren (jeweilige Einrichtungen pro 1.000 Einwohner) gebildet (Wieland/Dittrich 2016: 11ff.).
Abbildung 1 zeigt die besagten Versorgungsgrade für die Allgemeinärzte im Untersuchungsgebiet, farblich in fünf Stufen abgegrenzt. Zusätzlich zeigen die dünnen schwarzen Linien die Gemeindegrenzen (Stand 2015) und die grauen Linien die Grenzen der Mittelbereiche (Stand 2010). Hierbei ist zunächst festzustellen, dass in vielen der Teilgebiete (303 bzw. 72,1 %) kein Allgemeinarzt vorhanden ist (rot eingefärbte Punkte). Weiterhin zeigen sich insbesondere im Oberzentrum Göttingen, das in 69 statistische Bezirke aufgeteilt ist, viele Teilgebiete mit mittleren Versorgungsgraden (orange und gelbe Punktsignatur). Insbesondere in den mittelzentralen Gemeinden wie Einbeck, Northeim oder Duderstadt zeigt sich eine enorme Heterogenität der Ausstattung mit Allgemeinärzten. Auch zeigt die Darstellung, wie heterogen die Mittelbereiche sind, auf deren Ebene die Bedarfsplanung für Hausärzte betrieben wird, wie sich etwa am Mittelbereich Einbeck (bestehend aus den Gemeinden Dassel und Einbeck) im Nordwesten des Untersuchungsgebietes zeigt: Das allgemeinärztliche Angebot ist auf wenige Teilgebiete konzentriert. Besonders hohe Versorgungsgrade (grüne Punkte) werden interessanterweise in einzelnen kleinen Ortsteilen meist großflächiger Gemeinden erreicht: Die Versorgung hier ist allerdings nur „gut“ in Relation zur Bevölkerungsgröße, da dort meist nur ein einzelner Arzt vorhanden ist, die Bevölkerungszahl jedoch nur bei wenigen hundert Einwohnern liegt. Dies offenbart bereits eine Schwächung der Aussagekraft dieses Vorgehens, zumindest wenn ausschließlich kleinräumige Dichtewerte berücksichtigt werden.
Die absoluten oder relativen Versorgungsgrade haben für sich genommen keine Aussagekraft im Hinblick auf die kleinräumigen Disparitäten der Ausstattung mit Allgemeinärzten. Hierfür werden zwei Indikatoren der Konzentration bzw. Streuung genutzt, die beide regelmäßig in der Analyse räumlicher und sozio-ökonomischer Disparitäten Verwendung finden, der Gini-Koeffizient und der Variationskoeffizient (Berthold/Müller 2010: 591f.; Leßmann 2005: 28f.). Der Gini-Koeffizient ist ein absolutes Konzentrationsmaß, mit dem die Verteilung bzw. Konzentration von Merkmalsausprägungen (z.B. Einkommen, Umsätze) auf Merkmalsträger (z.B. Haushalte, Unternehmen) dargestellt wird; er ist normiert auf einen Wertebereich von null (keinerlei Konzentration) und eins (vollständige Konzentration). Der Variationskoeffizient ist hingegen ein normiertes Streuungsmaß (einheitsunabhängige Normierung der Standardabweichung), dessen Minimalwert ebenso bei null liegt (keinerlei Streuung), jedoch keine Obergrenze hat. Im vorliegenden Fall wurden Gini-Koeffizienten (GK) für die Verteilung der Einrichtungen auf die Teilgebiete sowie Variationskoeffizienten (VK) für die Streuung der Versorgungsgrade berechnet. Dieselben Indikatoren wurden nochmals für darüber liegende Raumebenen berechnet (Gemeinden, Mittelbereiche und Landkreise). Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse dieser Streuungs- und Konzentrationsindikatoren für die Allgemeinärzte, psychologischen Psychotherapeuten und Apotheken. Die Berechnung in R (R Core Team) wurde mit dem Paket REAT (Wieland 2017) durchgeführt.
Es ist hierbei deutlich zu erkennen, dass die Streuungs- bzw. Konzentrationsindikatoren umso geringere Werte annehmen (d.h. auf umso geringere räumliche Unterschiede hinweisen), je großräumiger die betrachtete Aggregationsebene ist: Im Hinblick auf die Allgemeinärzte wird auf der Ebene der Ortsteile, die die kleinste hier berücksichtigte Raumebene darstellen, ein Gini-Koeffizient von 0,839 für die Konzentration der absoluten Anzahl an Einrichtungen auf alle Ortsteile ermittelt. In Anbetracht der Normierung dieses Koeffizienten auf Werte zwischen null und eins stellt dies eine starke räumliche Konzentration dar. Der Variationskoeffizient der Ausstattungsgrade liegt auf dieser Raumebene bei 2,407. Auf der Gemeindeebene sinkt sowohl der Konzentrationsindikator als auch der Streuungsindikator auf 0,665 bzw. 0,821 ab. Die darüber liegende Ebene der Mittelbereiche stellt die für Allgemeinärzte relevante Ebene der Bedarfsplanung dar, auf der Versorgungsgrade ermittelt und Arztsitze vergeben werden: Die beiden Indikatoren liegen hier nur noch bei 0,477 bzw. 0,265. Nochmalig geringere Disparitätenwerte werden dementsprechend auf der Landkreisebene erreicht. Ein vergleichbares Ergebnis zeigt sich bei den anderen beiden Einrichtungstypen.
Das hier vorliegende Problem wird in der Geographie und in anderen Disziplinen mit quantitativ-raumbezogenen Fragestellungen als Modifiable Areal Unit Problem (MAUP) bezeichnet. Diese mögliche Verzerrung durch die Nutzung verschiedener räumlicher Aggregationsebenen kann sich in einem Scaling-Effekt (mit der Größe der räumlichen Aggregationsebenen zunehmende Homogenität der Raumeinheiten) und/oder in einem Zoning-Effekt (Zuweisung kleiner Raumeinheiten zu unterschiedlich zugeschnittenen Aggregationsebenen, z.B. Zuordnung von Ortsteilen zu Gemeinden, Vorwahlregionen oder Postleitzahlgebieten) ausdrücken (Manley 2014: 1158ff.). Im vorliegenden Fall sind die Raumebenen streng hierarchisch (Jeder Ortsteil ist exakt einer Gemeinde zugewiesen, jede Gemeinde exakt einem Landkreis usw.), so dass hier ein Scaling-Effekt zu beobachten ist: Die Versorgungsdisparitäten – gemessen in Form von Konzentrations- und Streuungsmaßen – werden immer geringer, je gröber die räumliche Auflösung ist.
Vergleicht man im Hinblick auf die Ärzte und Psychotherapeuten die Planungsebene (Mittelbereiche bzw. Landkreise) mit der untersten Ebene (Stadt- und Ortsteile), zeigt sich, dass diese Raumebenen offensichtlich nur sehr bedingt in der Lage sind, die tatsächlichen räumlichen Unterschiede in der ambulanten Ausstattung zu erfassen. Nun ist es sicherlich diskutabel, welche Raumeinheit die beste Alternative darstellt und ob eine solch kleinräumige Ebene notwendig oder gerechtfertigt ist, da in vielen Teilgebieten eine Praxis schlicht nicht wirtschaftlich zu betreiben wäre. Im vorliegenden Fall ist allerdings anzumerken, dass in 89 Teilgebieten (21,2 %) die Bevölkerungszahl oberhalb von 1.671 Einwohnern liegt, was in der Bedarfsplanung als Einwohner-Arzt-Relation (und somit auch als durchschnittliche Mindestnachfrage) für Hausärzte angesetzt wird (KBV 2013: 5).
In jedem Fall zeigen diese Ergebnisse, dass eine kleinräumige Ebene zur Analyse von Versorgungsstrukturen notwendig ist. Wie diese genau ausgestaltet wird, muss sorgsam diskutiert und entschieden werden: Abgesehen von einer Gemeinde- oder Ortsteilebene könnte beispielsweise auch die Aggregationsebene der im Kontext des Zensus 2011 in Deutschland eingeführten Zensus-Gitterzellen verwendet werden (Neutze 2015: 64ff.). Allerdings trifft diese Analyseform grundsätzlich keine Aussage zur tatsächlichen Erreichbarkeit der relevanten Einrichtungen. Dieses Manko wirkt sich zweifach aus: Einerseits werden hierbei reale Verkehrsverhältnisse nicht berücksichtigt, andererseits werden die Einrichtungen eindeutig einem Teilgebiet zugeteilt, wobei Mitversorgungseffekte ausgeblendet werden. Ein Ortsteil, in dem selbst keine Ärzte lokalisiert sind, kann dennoch über eine „gute“ Versorgung verfügen, wenn beispielsweise in mehreren Nachbarorten ein vielfältiges Angebot vorhanden und dieses günstig erreichbar ist.
Modellierung der kleinräumigen Erreichbarkeit
Die Modellierung der kleinräumigen Verkehrserreichbarkeit von Einrichtungen hat sich mittlerweile fest als Analyseform in der regionalen Versorgungsforschung etabliert. Im Fokus steht hier in der Regel die Erreichbarkeit des jeweils am nächsten erreichbaren Anbieters (Augustin et al. 2015, Neumeier 2013, 2016, Pieper/Schweikart 2009, Stentzel et al. 2015). Auch die Erreichbarkeit anderer gesundheits- oder bildungsbezogener Einrichtungen der Daseinsvorsorge wird in der Raumordnung anhand der Fahrtzeit zum jeweils nächsten Standort operationalisiert, so etwa im Raumordnungsbericht des Bundes im Hinblick auf Krankenhäuser (BBSR 2012: 49). Durch die Berücksichtigung der Erreichbarkeit kann die im vorigen Kapitel angeführte Problematik der festen Ortszuweisung von z.B. Arztpraxen umgangen werden, wobei gleichzeitig die realen Verkehrsgegebenheiten berücksichtigt werden.
Erreichbarkeitsanalysen sind durch die Nutzung Geographischer Informationssysteme (GIS) mit einem akzeptablen Aufwand möglich geworden: Mit Hilfe einer GIS-gestützten Netzwerkanalyse ist es möglich, Straßenentfernungen und/oder Wegezeiten für verschiedene Verkehrsmittel auf der Grundlage eines realen Wegenetzes zu berechnen. Hierbei erfolgt eine Verknüpfung zwischen Start- bzw. Zielpunkten und dem sie verbindenden Wegenetz in einem Netzwerk, wobei alle einzelnen Objekte in diesem System attribuiert werden können (z.B. Geschwindigkeit auf einem Wegstück, Halt an einer Ampel). Die Ermittlung von Fahrtzeiten erfolgt meist in Form der kürzesten Route, ggf. unter Nebenbedingungen wie z.B. bestimmte Haltepunkte. Typische Formen von Netzwerkanalysen sind die Ermittlung optimaler Routen oder die Ermittlung (potenzieller) Einzugsgebiete von Standorten (De Lange 2013: 372ff.).
Für Netzwerkanalysen ist es notwendig, sämtliche relevanten Einrichtungen bzw. ihre Standorte in georeferenzierter Form (d.h. mit räumlichen Koordinaten) zu erfassen. Außerdem ist ein möglichst vollständiges Verkehrsnetz notwendig. Hierzu wird in Erreichbarkeitsanalysen im Gesundheitswesen und für verschiedene andere Zwecke (z.B. Nahversorgung im Lebensmitteleinzelhandel) immer häufiger auf Daten des OpenStreetMap-Projektes (OSM) zurückgegriffen (Augustin et al. 2015; Wieland 2011, 2015a). Abgesehen vom Aspekt der Anschaffungskosten gegenüber kommerziell vertriebenen Wegenetzen oder Routing-Software weisen die frei verfügbaren und verwendbaren crowdsourced-Daten (d.h. kollaborativ durch eine große Zahl an Freiwilligen erfasst) dieses Projektes auch eine hohe Qualität und Vollständigkeit auf: Die stetig weiter ausgebauten OSM-Wegenetze sind, wie bereits vor sechs Jahren in einer Studie festgestellt wurde, durchaus mit den Daten kommerzieller Anbieter vergleichbar (Neis et al. 2012: 5ff.). OSM stellt somit eine valide und zugleich frei verfügbare Quelle von „big spatial data“ dar, die für Erreichbarkeitsanalysen in der regionalen Versorgungsforschung großes Potenzial besitzt.
Auch im Fall der genannten Studie zur kleinräumigen Gesundheitsversorgung in Südniedersachsen wurden OSM-Daten verwendet, wobei die Erreichbarkeit in Form der kürzesten PKW-Fahrtzeit zur jeweils nächsten Einrichtung modelliert wurde. Hierbei wurde sowohl die Erreichbarkeit von den Gesundheitseinrichtungen aus in kartographischer Form dargestellt als auch die Erreichbarkeit ausgehend von den Ortsteilen tabellarisch aufgearbeitet (Wieland/Dittrich 2016: 17f.). Tabelle 2 zeigt die Erreichbarkeit von Allgemeinarzt- und Psychotherapiepraxen sowie Apotheken ausgehend von den 420 Teilgebieten und aufgeschlüsselt nach vier Erreichbarkeitsstufen (PKW-Fahrtzeit bis 5 Minuten, 5 bis 10 Minuten, 10 bis 15 Minuten und 15 bis 20 Minuten). Karte 2 zeigt die PKW-Erreichbarkeit der Apotheken ausgehend von den Standorten selbst in Form derselben vier Erreichbarkeitsstufen.
Hierbei zeigt sich, dass im gesamten Untersuchungsgebiet jede der drei genannten Gesundheitsbetriebe innerhalb einer PKW-
Fahrtzeit von maximal 20 Minuten erreichbar ist. Tabelle 2 ist zusätzlich die Einwohnerzahl der jeweiligen Fahrtzeitstufe zu entnehmen: Beispielsweise ist der jeweils nächste Allgemeinarzt aus 255 Teilgebieten mit einer Bevölkerung von 407.061 Einwohnern innerhalb von 5 PKW-Minuten erreichbar. Aus weiteren 149 Teilgebieten mit insgesamt 64.366 Einwohnern ist der Zugang zur nächstgelegenen Allgemeinarztpraxis in einem Zeitraum von fünf bis zehn Minuten PKW-Fahrtzeit zugänglich. Fahrtzeiten oberhalb von zehn PKW-Minuten sind insgesamt nur bei 16 Gebieten mit insgesamt 6.737 Einwohnern festzustellen. Entsprechend der räumlichen Konzentration bzw. Streuung der Einrichtungen fällt die Verteilung auf die Erreichbarkeitszonen bei Apotheken und Psychotherapeuten anders aus, wobei in beiden Fällen zumindest die Mehrheit der Bevölkerung des Untersuchungsgebietes die nächstliegende Einrichtung des jeweiligen Typs innerhalb von fünf PKW-Minuten erreichen kann.
Zwar zeigt sich diese verkehrsbezogene Erreichbarkeit als bessere Alternative zu reinen Dichtewerten, jedoch weist dieses eindimensionale Konzept der kleinräumigen Erreichbarkeit mehrere theoretisch-konzeptionelle Probleme auf, die seine Aussagekraft deutlich schmälern: Einerseits berücksichtigt das Erreichbarkeitsmodell stets nur den jeweils nächstgelegenen Standort und ignoriert hierbei jede andere Destination, die sich auch nur wenige Meter oder Sekunden weiter entfernt vom Ausgangspunkt der Nachfrager befindet. Erreichbarkeit wird somit operationalisiert als die Erreichbarkeit des nahesten Anbieters, womit impliziert wird, dass die räumliche Nähe einer beliebigen Einrichtung des jeweiligen Typs (z.B. Hausarztpraxis) das einzig relevante Versorgungskriterium darstellt. Dies zeigt sich auch daran, dass nicht einzelne Ärzte als Destinationen berücksichtigt werden, sondern die (Punkt-)Standorte ihrer Praxen: Im Fall von Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften werden diese Kombinationsstandorte in der eindimensionalen Erreichbarkeitsanalyse nur einmalig gezählt.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die räumliche Bezugsebene einen entscheidenden Einfluss auf die Analyseergebnisse hat und dass die Aussagekraft in puncto raumbezogener Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen durch die zusätzliche Berücksichtigung der verkehrlichen Erreichbarkeit verbessert werden kann. Beide Verfahren weisen spezifische Schwächen auf: Während Dichtewerte die Verkehrserreichbarkeit ausblenden und sich an (faktisch konstruierten) administrativen Grenzen orientieren, reduziert zumindest die eindimensionale Erreichbarkeitsanalyse die Ärzteversorgung auf eine einfache Nähebeziehung, ohne hierbei Aspekte z.B. der Auswahl zu berücksichtigen; hinzu kommt, dass objektive Fahrtzeiten in Abhängigkeit des jeweiligen Zwecks subjektiv durchaus sehr unterschiedlich wahrgenommen werden können. Genau an diesen Punkten setzen modellgestützte Verfahren an, die vorrangig im Kontext der Einzelhandels- und Standortforschung entwickelt wurden; diese räumlichen Interaktionsmodelle sind sowohl zur mehrdimensionalen Operationalisierung von Erreichbarkeit als auch zur Modellierung räumlicher Nachfragemuster einsetzbar, was im zweiten Teil des Beitrags vorgestellt wird. <<