Von der Innovation zur Regelversorgung
>> „Das deutsche Gesundheitssystem ist wahrscheinlich eines der weltweit besten, aber wir haben weiter hohen Innovationsbedarf, auch in unseren Prozessen“, sagte Prof. Dr. Alexander Schachtrupp von der B. Braun-Stiftung zum Auftakt der 4. Plenumsveranstaltung mit dem Titel „Von der Innovation zur Regelversorgung: Nutzenbewertung und Entscheidungsfindung“, die am 6. Juni in Berlin gemeinsam von der Hochschule Neubrandenburg und der B. Braun-Stiftung veranstaltet wurde. Dabei stellen sich die Fragen, wie medizinische Innovationen zum Patienten gelangen und ob das in einer angemessenen Zeit realisierbar ist. Prof. Dr. Axel Mühlbacher betonte die Chancen zur Förderung von Innovationen im Sinne neuer Handlungsmöglichkeiten durch die adaptive Nutzenbewertung zu nutzen. Dass dabei eine Balance zwischen hohen Investitionen in neue Technologien, dem Patientennutzen und den Kosten für das System erreicht werden müsse, steht für den Gesundheitsökonomen von der Hochschule Neubrandenburg und Mitveranstalter des Plenums außer Frage.
Medizintechnologie-Innovationen schneller ins System: Post-Market Daten hilfreich
Harald Kuhne vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie wies auf die ökonomische Bedeutung der Gesundheitsbranche mit einer Bruttowertschöpfung von rund 350 Milliarden Euro im Jahr 2017 hin. Die Branchenstruktur der Medizintechnikunternehmen ist mit 93 Prozent dominiert von kleinen und mittleren Firmen. Die Innovationszyklen sind deutlich kürzer als im pharmazeutischen Bereich: Ein Drittel des Umsatzes entsteht mit Produkten, die nicht älter als drei Jahre sind. Das müsse man im Blick haben, wenn man von Verfahren spricht, die man den Medizintechnikherstellern für eine Erstattungsfähigkeit auferlegt. „Wenn für die Medizintechnik die gleichen Kriterien gelten, wie für die Pharmabranche, kann das für das deutsche Innovationssystem gefährlich werden“, merkte Kuhne kritisch an. Am Beispiel eines Implantats für die individualisierte Neurostimulation zur Blutdrucksenkung veranschaulichte Dr. Michael Lauk, CEO der neuroloop GmbH, die zu berücksichtigenden Zeiträume: Grundlagen- und präklinische Forschung beanspruchen etwa 10 Jahre. Nach ersten Anwendungen am Menschen folgt eine 2-jährige Multi-Center-Studie, sodass der Marktstart für 2022 geplant ist. Der Zugang zum Kostenerstattungssystem dauert viele Jahre. Daher braucht es nach Ansicht von Lauk „gerade für Start-up-Unternehmen finanzierbare und definierte Pfade für die Einführung neuer Therapie und Methoden, nachdem die Sicherheit und grundsätzliche Wirksamkeit gezeigt wurden, z.B. durch Konzentration auf Post-Market-Daten.
Frühe Nutzenbewertung zum zügigen Start und späte zur Sicherheit
Weitestgehend unbestritten ist die Bedeutung randomisierter kontrollierter Studien, wenn es um den Nachweis der Kausalität klinischer Effekte geht. „Trotzdem ist es sinnvoll zu diskutieren, inwieweit wir mit innovativen Studiendesigns und Registern zusätzliche Evidenz schaffen können“, erklärte Mühlbacher. Statt problematischer Alles-oder-nichts-Entscheidungen könnte seiner Ansicht nach eine bedingte Preissetzung sowie eine fortlaufende Evidenzgenerierung über den Produktlebenszyklus als eine adaptive Nutzenbewertung gestaltet werden. In Zusammenhang mit der frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln wies Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Berlin, daraufhin, dass zwar mit diesem Verfahren fast alle neuen Präparate früh zur Verfügung stehen, zu diesem Zeitpunkt aber nur relativ unreife Daten vorliegen können. Kritisch ist das auch in Bezug auf bestimmte Nebenwirkungen, die erst Jahre später auftreten können. Deshalb schlägt der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e.V. (DGHO) für nachhaltige Festlegungen eine zusätzliche späte Nutzenbewertung vor. Um die Defizite der frühen Nutzenbewertung auszugleichen, müssten zwischenzeitlich standardisierte Daten z.B. aus Registern erhoben werden.
Professor Wörmann ging auch auf ein weiteres bedeutendes Thema ein, nämlich die Relevanz von Endpunkten, und stellte die Frage: „Sind die Endpunkte, die durch das Health Technology Assessment vorgegeben sind oder die wir in Leitlinien nutzen, wirklich ganz nah am Patienten dran?“ In der Onkologie wird beispielsweise aktuell für Immuntherapien diskutiert, ob die mittlere Überlebenszeit oder die Rate an Langzeitüberlebenden wichtiger ist. Welcher Endpunkt hat den höheren Wert? Besonders schwierig sei, so Wörmann, die Bewertung von Endpunkten in sehr heterogenen Studienkollektiven. Ist beispielsweise für den über 80-jährigen Patienten mit einem Hodgkin-Lymphom der Endpunkt Überlebenszeit genauso relevant wie für junge Patienten oder eher die Lebensqualität? Das progressionsfreie Überleben ist ein ebenfalls wichtiges Beurteilungskriterium, wie der Hämatologe und Onkologe erklärte: „Viele Krankheiten werden zu chronischen Erkrankungen, die Patienten leben nicht krankheitsfrei, aber progressionsfrei“.
Hierbei spielt auch eine zunehmende Rolle, welche Präferenzen die Patienten haben. Wer ist qualifiziert, Werturteile zu treffen, wenn zu bestimmen ist, ob die Vorteile einer Methode die Risiken übertreffen, fragte Juan Marcos Gonzalez, Professor an der Duke University in Durham, USA. Traditionell waren das Ärzte und Politiker. „Doch grundsätzlich ist der Patient der beste Sachverständige, wenn es um sein Wohlergehen geht“, hob Gonzales hervor. In den USA gibt es eine Entwicklung hin zu patientenzentrierter Gesundheitsversorgung und damit zur steigenden Bedeutung von Patientenpräferenzen. So vertritt die Food and Drug Administration (FDA) grundsätzlich den Ansatz, Patienten in den gesamten Prozess der Medizinprodukteentwicklung einzubeziehen. Gonzalez berichtete von einer Pilotstudie im Rahmen der Patientenpräferenzen-Initiative des Center for Devices and Radiological Health (CDRH) der FDA, an der der Wissenschaftler beteiligt war.
Vor einer Überbewertung scheinbar objektiver Daten aus der Messung klinischer Effekte warnte Prof. Dr. Karl-H. Wehkamp, Universität Bremen. Denn Patienten beurteilen medizinische Innovationen in ihren jeweiligen, heterogenen Rollen mit wechselnden Interessen und Sichtweisen. Die Bedeutung der Messung von Patientenpräferenzen bestätigte PD Dr. Stefan Sauerland, Ressortleiter nichtmedikamentöse Verfahren am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Für die Berichte des IQWiG zur Nutzenbewertung werden Ergebnisse zu Patientenpräferenzen aber nicht regelmäßig benötigt, da die übliche Datenlage eindeutig sei, so Sauerland. <<
von: Matthias Manych