„Die Effizienzpotenziale liegen an den Sektorengrenzen“
DOI: http://doi.org/10.24945/MVF.01.21.1866-0533.2272
>> OptiMedis ist seit Jahren bekannt für seine Arbeit zum Aufbau und der Entwicklung regionaler integrierter Versorgungssysteme wie zum Beispiel das Gesunde Kinzigtal. Weniger bekannt ist, dass das Unternehmen in den letzten Jahren auch ein umfangreiches Portfolio an Forschungsprojekten aufgebaut hat, das Sie leiten. Warum wurde in diesen Bereich investiert?
Unsere Arbeit baut auf vielfältigen konzeptionellen und methodischen Ansätzen auf. Wenngleich das in der Praxis nicht immer leicht ist, so ist es doch unser Anspruch, dass wir auf der Basis regionaler Versorgungsdefizite evidenzbasierte Interventionen identifizieren, mit Hilfe der Methoden der Implementierungsforschung bewerten und dadurch die Umsetzung unterstützen. Dieser Anspruch ist sehr herausfordernd und daher reizvoll! Er reflektiert auch meinen Hintergrund in der Versorgungsforschung, insbesondere zu den komplexen Zusammenhängen zwischen Strukturen, Prozessen und Ergebnissen der Versorgung. Da wir darin einen großen Nutzen für die Planung und den Aufbau integrierter Versorgungsnetzwerke gesehen haben, war es eine logische Konsequenz mehr in die Forschungsaktivitäten zu investieren.
Die Mehrheit dieser Projekte sind über das EU-Horizon-2020-Programm sowie einige über die OECD finanziert, nur wenige hingegen über den Innovationsfonds, das BMG oder andere Drittmittelgeber. Woher kommt die Internationalität?
Zunächst würde ich nicht sagen, dass wenige über den Innovationsfonds finanziert sind. Wir haben ein Großpro-
jekt (INVEST) mit aufgebaut und erfolgreich umgesetzt, haben in einem anderen Großprojekt (M@DITA) eine führende Rolle. Die Gesundes Kinzigtal GmbH hatte die Konsortialführung des Evaluationsprojektes INTEGRAL inne und zusammen mit der Universität Witten/Herdecke verantworten wir das Projekt Pflegeheim-sensitive Krankenhausfälle, wo wir für die Methodik und die Analyse der GKV-Routinedaten verschiedener Krankenkassen verantwortlich sind. Weiterhin sind wir an verschiedenen Anträgen beteiligt und werden bald Positives berichten können!
Darüber hinaus erstaunt die Internationalität vielleicht deshalb, weil die Versorgungsforschung in Deutschland noch sehr auf sich selbst fixiert ist. Das ist nicht negativ gemeint. Die Entwicklung, die die Versorgungsforschung in den letzten fünf Jahren in Deutschland durchgemacht hat, ist beeindruckend. Dennoch ist der Austausch über Projekte mit Versorgungsforschern im Ausland noch eingeschränkt; wie wir dies ändern können, besprechen wir gerade im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung.
Daher, dass ich in den letzten 20 Jahren mehrheitlich auf internationaler Ebene gearbeitet habe, war ich natürlich bereits in entsprechende internationale Forschungsnetzwerke eingebunden. Zum anderen haben wir aber auch gezielt internationale Ausschreibungen der EU und anderer Organisationen verfolgt und bei Interesse Konsortien mit aufgebaut, um aktiv den Austausch mit internationalen Versorgungs- und Implementierungsforschern zu fördern. Die Arbeit mit anderen Kulturen macht Spaß und es wird einem quasi ständig ein Spiegel vorgehalten! Das Argument „das machen wir hier nicht so“ wird dadurch schnell aufgeweicht und das Ergebnis ist ein stärker selbstreflektierender Ansatz in der Forschung: Warum sind die Strukturen und Aufgaben der allgemeinärztlichen Versorgung in England und Spanien so anders organisiert? Warum haben die meisten EU-Länder seit vielen Jahren eine funktionierende, elektronische Patientenakte (und wie wird diese genutzt), und Deutschland erst formal seit diesem Jahr? Wie messen wir Versorgungsqualität? Wenn man sich beispielsweise in der letzten Frage in Deutschland in Details verliert und dann im internationalen Kontext auf Quality- und Outcome-Frameworks stößt, die nicht nur klinische, sondern Patient-Reported-Outcomes beinhalten, dann ist das für die Forschung ungemein anregend.
Könnte man hier nicht auch vermuten, dass der Prophet im eigenen Lande meist nicht so gehört wird wie anderswo?
In einigen Ländern gibt es in der Tat gesundheitspolitische Bemühungen, die einen klaren Rahmen für die Entwicklung der integrierten Versorgung bieten, in denen unsere Arbeit gut bekannt ist. Zum Beispiel verkündete Simon Stevens, der CEO des englischen National Health Services, das integrierte Versorgungssysteme bis April 2022 rechtlich unabhängig werden sollten und somit flexibel verschiedene Gesundheits-, Pflege- und Sozialbudgets verwalten und Einspar-Contracting-Modelle umsetzen könnten. In einem solchen Kontext sind natürlich auch die Erfahrungen, die wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben, für den NHS von Interesse. Andererseits ist bekannt, dass die Zielsetzung des Patient-Protection- and Affordable Care-Acts in den USA die Entwicklung integrierter Versorgungsnetze und die Umsetzung alternativer Vergütungsmodelle rapide beschleunigt hat. Die Kommunikation mit den US-Forschern und in der Versorgung Tätigen ist daher problemlos, da die Strukturen, wie wir sie fordern und umsetzen, dort im Kontext der Accountable-Care-Organisation bekannt ist.
Was passiert da auf EU-Ebene?
Das Gleiche gilt für die Diskussionen auf EU-Ebene. Dort wird das Problem der Fragmentierung der Versorgung, das natürlich nicht nur in Deutschland existiert, seit Jahren besprochen und richten sich Forschungs und Implementierungsprojekte wie Sustain, Integrated, oder Scirocco Exchange diesem Thema. Eine aktivere Rolle hat die EU weiterhin mit der Joint Action on the Implementation of Digitally Enabled Integrated Person-Centred Care (JADECARE) gesetzt. Für die Joint Action wurden in einem längeren Verfahren vier innovative europäische Modelle für die integrierte Versorgung ausgewählt und wir haben uns sehr gefreut, als wir erfahren haben, dass unser Modell für die populationsbasierte integrierte Versorgung als eines dieser vier Modelle ausgewählt wurde. Im Rahmen der Joint Action führen wir nun Gespräche mit vielen Regionen in europäischen Ländern, die sich über unsere Arbeit informieren möchten.
Andererseits möchte ich Ihrer Frage auch widersprechen, denn wir werden im eigenen Lande auch sehr gut gehört. In den letzten Monaten ist unsere Arbeit, besonders durch die aktuellen Publikationen unseres Vorstandsvorsitzenden Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, in vielen Zirkeln intensiv diskutiert worden. Wir haben in Deutschland ja ein recht gut funktionierendes Gesundheitssystem und der Veränderungsdruck ist zurzeit weder auf der Qualitäts- noch auf der Kostenseite sehr hoch. Gleichzeitig befassen sich nicht nur Ärztenetze, sondern auch zunehmend Krankenhausverbünde mit Fragen der (populationsorientierten) integrierten Versorgung. Der Grund ist ganz klar, denn die Forschung legt nahe, dass die Verbesserungs- und Effizienzpotenziale zunehmend an den Sektorengrenzen liegen. Es wird schwerer, Qualität oder Effizienz im Krankenhaus zu verbessern; bei Berücksichtigung typischer Patientenpfade sind die Verbesserungspotenziale im gesamten Versorgungsprozess aber augenscheinlich. Ich glaube daher nicht, dass wir im eigenen Lande nicht gehört werden, sondern dass gewisse grundlegende gesundheitspolitische Weichenstellungen erforderlich sind, um die Umsetzung der integrierten Versorgung maßgeblich zu beschleunigen.
Welche thematischen Schwerpunkte setzen Sie?
Wir verfolgen drei thematische Schwerpunkte für die Forschungsprojekte: Health-Data-Analytics, patientenzentrierte Versorgung und Implementierungsforschung zu digitalen Innovationen. Dies sind die Schwerpunkte, die direkt für unsere Arbeit in der integrierten Versorgung von Relevanz sind und in denen wir mit unserem Team von Gesundheitsökonomen, Versorgungsforschern und Datenanalytikern gut aufgestellt sind.
Der Schwerpunkt Health-Data-Analytics schließt die Analyse von Routinedaten von Krankenkassen oder aus Arztpraxen ein und entwickelt Prädiktionsmodelle sowie neue Ansätze zur Visualisierung von Performancedaten im Kontext von Audit und Feedback. Zum Beispiel haben wir mit einem internationalen Panel ein automatisiertes Modell zum Ergebnisfeedback an Arztpraxen entwickelt, das verhaltensökonomische Aspekte und Empfehlungen zur kognitiven Last und der Actionability des Feedbacks berücksichtigt.
Der Schwerpunkt patientenzentrierte Versorgung befasst sich mit der Frage, wie die Bedürfnisse, Erfahrungen und Behandlungsergebnisse besser aus Sicht der Patienten erfasst werden und darauf aufbauend die Versorgung verbessert werden kann. In dem EU-Forschungsprojekt COMPAR-EU untersuchen wir zum Beispiel mit Hilfe von Netzwerk-Metaanalysen die Effektivität von Selbstmanagement-Interventionen bei ausgewählten chronischen Erkrankungen und bewerten dazu tausende RCTs. Der Schwerpunkt digitale Innovationen beschäftigt sich mit Ansätzen zur Bewertung des Nutzens digitaler Tools auf der Basis regionaler Versorgungsbedarfe und der Forschung zu menschlichen, organisatorischen und technologischen Unterstützungsfaktoren und/oder Hindernissen. Hier setzen wir gerade mit unseren Partnern in unserem regionalen Versorgungsnetzwerk Gesunder Werra-Meißner-Kreis eine technologisch gestützte Patienten-Empowerment-Plattform um, in die Daten aller Versorger und Pflegenden integriert werden sollen, und untersuchen die Faktoren, die auf die Umsetzung einwirken.
Lassen Sie uns auf Ihre Projekte aus den Bereichen Health-Data-Analytics, der patientenzentrierten Versorgung und zu digitalen Innovationen etwas detaillierter eingehen. Beginnen wir beispielsweise mit dem vom EU-Horizon-2020-Programm geförderten Projekt „BigMedilytics: Big Data for Medical Analytics”. Was haben Sie hier gemacht?
Das Projekt BigMedilytics hat das ambitionierte Ziel, die digitale Transformation des Gesundheitssystems durch den Einsatz von Big Data-Analysetools zu unterstützen. In diesem sehr großen Projekt arbeiten Universitäten und Industriepartner eng zusammen, die Konsortialführung liegt bei Philips Research, Niederlande. Das Projekt setzt zwölf Pilotstudien in den drei Bereichen Population Health Management, Onkologie und Prozessindustrialisierung um. Wir arbeiten eng mit dem Gesundheitsforschungsinstitut INCLIVA an der Universität Valencia in einem Population Health Management-Pilot zusammen und haben einen Algorithmus zur Bewertung der Medikationsqualität angepasst und auf den Daten der Region Valencia ausgewertet. Auf der Basis des mit gemeinsam mit Prof. Wehling entwickelten automatisierten Algorithmus FORTA-EPI konnten wir Performancefeedback zur Arzneimittelversorgung auf regionaler und Praxisebene in Bezug auf Unter- und Überversorgung auswerten. Dies soll in einem nächsten Schritt auch patientenindividuell ausgewertet werden und die Ärzte in ihren Entscheidungen unterstützen. Der finale Schritt wäre dann die Integration dieses Entscheidungstools in die lokalen klinischen Systeme, dies ist dann aber nicht mehr Teil des Forschungsprojektes.
Eines Ihrer von der OECD geförderten Projekte zu Patient Reported Outcomes beschäftigt sich mit der Entwicklung einer Methode zur Bewertung von PROMs und PREMs in der ambulanten Versorgung. Wie weit sind Sie da?
Analog zur OECD-PISA-Studie im Schulbereich soll für PaRIS eine Standardmethode für den Vergleich der Versorgung chronisch Kranker anhand von Patient Reported-Experiences (PREMs) und Patient Reported-Outcomes (PROMs) in den OECD-Mitgliedsländern entwickelt werden. Das Projekt hat zwei Phasen: 1. Methodenentwicklung und 2. Umsetzung der Studie. Wir haben mit einem von NIVEL (dem niederländischen Institut für Versorgungsforschung) geführten Konsortium, in dem auch die Universität Exeter, IPSOS Mori und das Avedis-Donabedian-Institut an der Autonomen Universität Barcelona beteiligt sind, die Bewilligung für beide Phasen erhalten. In der ersten Phase haben wir unter Beteiligung von Patienten ein konzeptionelles Modell für das Projekt entwickelt (was soll aus Sicht der Patienten bewertet werden?), haben auf der Basis der internationalen Literatur und Datenbanken bestehende PREMs und PROMs bewertet und verschiedene Konsultationen mit internationalen Expertengruppen, Patientenbeiräten und nationalen Projektmanagern durchgeführt.
Weiterhin wurde ein Fragebogen für die Profilierung der teilnehmenden Leistungserbringer entwickelt, was in dem heterogenen internationalen Gesundheitssystemkontext gar nicht so trivial ist! Natürlich haben wir auch Anforderungen an Ethik und Data Governance sowie Samplingstrategien abgestimmt. Die Methodenentwicklung ist nun weitgehend abgeschlossen. Im Frühjahr sollen die kognitiven Tests starten, im Anschluss folgt die sehr aufwändige internationale Übersetzung, die sicherstellen muss, dass auch in allen Ländern das Gleiche verstanden und gemessen wird. Knapp 20 Länder machen bei dieser international vergleichenden Studie zu PREMs und PROMs mit, Deutschland ist leider nicht dabei.
Innerhalb der Projekte zu digitalen Innovationen wird u.a. die Möglichkeit der Übertragung des OptiMedis-Modells der integrierten Versorgung im europäischen Kontext, unter besonderer Berücksichtigung digitaler Versorgungsmodelle, erforscht. Diese Translation hat man doch schon mehrmals innerhalb Deutschlands hinbekommen, was ist im europäischen Kontext anders?
Unser Modell ist ein regional angepasstes Modell der integrierten Versorgung, so dass auch im Kontext einer Translation innerhalb Deutschlands Anpassungen erforderlich sind. Im europäischen Kontext kommt natürlich hinzu, dass die Gesundheitssysteme völlig unterschiedlich gestaltet sind. Das fängt mit der Struktur der ambulanten Versorgung an, wo die größeren ambulanten Versorgungszentren in Spanien und England grundsätzlich organisatorisch viel besser für die Umsetzung einer integrierten Versorgung aufgestellt sind als Kleinstpraxen, wie sie in anderen Ländern bestehen, und geht bis zur Frage der Finanzierung des Gesundheitssytems: in einem Land steuerbasiert mit Ärzten in staatlichen Strukturen, in einem anderen Land solidarisch über multiple soziale Krankenversicherungen finanziert, mit weitgehend autark organisierten Ärzten. Da gibt es kein „model of best practice“ – jede Struktur hat unterschiedliche Vor- und Nachteile. Weiterhin gibt es große Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeit des Datenaustauschs sowie der Digitalisierung von Versorgungsprozessen. Trotz aller Fortschritte, die Deutschland hier auf der legislativen Ebene in den letzten Jahren gemacht hat – unsere Nachbarn sind da zum Teil viel weiter, hier können wir viel von anderen lernen.
In jedem integrierten Versorgungsmodell laufen jede Menge Daten auf. Wie kann man die einerseits für die Versorgungsforschung nutzen und vielleicht andererseits sogar allen Interessierten zugänglich machen?
Zunächst einmal muss man unterscheiden, über welche Daten wir hier reden. Geht es um die Routinedaten der Krankenkassen, um klinische Daten aus den Arztpraxen, um vom Patienten erhobene Daten (periodische, standardisierte Befragungen), Daten der Manage-mentgesellschaft (Eingeschriebene, Kontakte), Daten der lokalen/regionalen Versorgungslandschaft, und/oder allgemeine Sekundärdaten. Die Nutzungs- und Verwertungsmöglichkeiten unterscheiden sich hier deutlich. Für die Versorgungsforschung werden Routinedaten der Krankenkasse ja schon weitgehend genutzt und eine Verbesserung des Zugangs zu krankenkassenübergreifenden Routinedaten wird auch bereits diskutiert. Und in dem vom Innovationsfonds geförderten Projekt Integral wurden Zeitreihenanalysen zu Über-, Unter- und Fehlversorgung in Gesundes Kinzigtal mit Unterstützung der AOK Baden-Württemberg und des WIdO analysiert. Integrierte Versorgungsmodelle verarbeiten solche Daten z. T. auch, wie wir das seit vielen Jahren machen, aber die Nutzung ist zweckgebunden und ein Zugang zu Dritten eingeschränkt. Dennoch ist der Nutzen dieser Daten, besonders ein Datensatz der verschiedene der oben angeführten Datensätze verlinken kann, für die Identifizierung und Umsetzung von Maßnahmen des Population-Health-Managements sehr hoch. Für Versorgungsforschungsprojekte müssen solche Datenanfragen und -lieferungen aber primär über die beteiligten Krankenkassen oder zukünftig über den Forschungsdatensatz laufen. Welche Daten weitergehend zugänglich gemacht werden können, hängt zum einen davon ab, was gesetzlich erlaubt und geregelt ist, und zum anderen davon, ob eine klare, beantwortbare Fragestellung besteht. Wenn diese Fragen positiv beantwortet werden können, sehe ich sehr große Potenziale für die Versorgungs- und Implementierungsforschung und
für Real-World-Data-Analysen. Und das ist das Interessante, an der Schnittstelle von Forschung, Organisation und Versorgung zu stehen, da die Umsetzungspotenziale sichtbarer sind und hier und dort tatsächlich zeitnah Verbesserungsprojekte initiiert und evaluiert werden können! <<
Zitationshinweis
Gröne, O., Stegmaier, P.: „Die Effizienzpotenziale liegen an den Sektorengrenzen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/21), S. 20-23; http://doi.org/10.24945/MVF.01.21.1866-0533.2272