Das Corona-Paradoxon
doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2288
>> „Die Versorgungsforscher an der Charité haben sich intensiv an Ausschreibungen beteiligt und Drittmittel eingeworben“, zeigte sich der Dekan der Charité, Prof. Dr. Axel R. Pries, in seinem Grußwort mehr als zufrieden mit rund 150 Forschungsprojekten, die im Bereich Versorgungsforschung durch die Forscher seines Hauses angestoßen wurden und nach und nach abgeschlossen werden. Die Versorgungsforschung, so der Dekan der Charité, sei damit ein „sehr sichtbarer Teil und eine sehr sichtbare Komponente der Forschungsstrategie an der Charité“ geworden. Was, so Pries weiter, auch angemessen sei, das „Versorgungsforschung eine zunehmende Bedeutung“ bekommen habe. Dies sei jedoch nicht erst durch die Pandemie klargeworden, weil Versorgungsforschung schon seit längerer Zeit genau der Forschungsbereich sei, „in dem die Entwicklungen und Möglichkeiten der Medizin“ exakt dort erforscht werden, wo sie bei den Patienten tatsächlich ankommen.
„Warum ist Versorgungsforschung bedeutsam, warum ist Versorgungsforschung wichtig?“ Diese rhetorische Frage beantwortete Prof. Dr. Martin E. Kreis so: „Als Vorstand Krankenversorgung der Charité bin ich mir darüber im Klaren, dass wir in den nächsten Jahren wesentlich mehr gefordert sein werden seitens der Gesellschaft, seitens der Patienten, aber auch der Angehörigen, doch auch insbesondere von denjenigen, die uns Geld geben – sprich der Politik und natürlich der Krankenkassen.“ Durch all diese Stakeholder würde ein Druck entstehen, darstellen zu müssen, „was wir eigentlich mit den Ressourcen machen, die uns zur Verfügung gestellt werden“. Damit meint Kreis jedoch nicht die klassische Darstellung von Fallzahlen und Behandlungsschritten. Seiner Meinung nach werde es in Zukunft mehr und mehr darauf ankommen, darstellen zu können, „was in der Versorgung im Hinblick auf Ergebnisse herauskommt“. Man müsse, so Kreis, kein Hellseher sein, um zu antizipieren, dass die Transparenz der Themen Qualität und Leistungsfähigkeit zunehmend mehr Raum im gesellschaftlichen Diskurs einnehmen werden als bisher. Kreis: „Um diese Fragen überhaupt auch nur näherungsweise beantworten zu können, ist es zwingend erforderlich, dass wir uns mehr damit beschäftigen, wie die Versorgung wirklich aussieht, welche erforderliche Leistung im Rahmen der Versorgung erbracht werden muss, und – das sollte man auch nicht übersehen – wo vielleicht Lücken in unserem System sind, wo Versorgung eben gerade nicht in adäquater Art und Weise stattfindet und wo wir nachbessern müssen.“
Das war nachgerade die perfekte Überleitung zur Keynote-Lecture von Prof. Dr. Reinhard Busse, der die Fachgebietsleitung Management im Gesundheitswesen der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin, inne hat. Sein Vortrag stand unter dem Titel „Versorgung in Zeiten von Covid-19“ und sollte folgende Frage beantworten: „Hat die Pandemie den Reformbedarf an das Gesundheitssystem geändert?“ Busses Parforceritt durch aktuelle Entwicklungen im Gesundheitswesen, speziell im stationären Bereich, machten klar: Die durch die Corona-Pandemie in den Hintergrund gerückte Krankenhausreform ist drängender denn je. Dies werde besonders sichtbar in der hohen Zahl der Krankenhäuser und der Krankenhausbetten in Deutschland, die angefeuert durch den Glauben, dass Nähe das wichtigste Qualitätsmerkmal sei, ja ein – wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft explizit meine – internationaler Qualitätsindikator. „Das ist es übrigens nicht“, sagte Busse und verwies darauf, dass die Qualität das wichtigste Merkmal einer guten Gesundheitsversorgung sei.
Dazu warf Busse einen Blick auf einen ganz beliebigen Tag in Deutschland: mit (Stand 2018) 380.000 stationären Patienten im Krankenhaus, je 53.000 Notaufnahmebesuchen und stationären Krankenhausaufnahmen, aber 120.000 leeren Betten. Wenn man sich die Notaufnahmefälle genauer betrachte, sehe man auch, dass an einem Tag eben nur 500 Herzinfarktpatienten behandelt werden. „Herzinfarkte dienen meistens als Beispiel dafür, dass wir so viele Krankenhäuser brauchen, damit jeder möglichst Zugang schnell zum Krankenhaus hat“, erklärte Busse und entgegnete die Frage: „Was nützt es, wenn der Patient mit seinem Herzinfarkt schnell in einem Krankenhaus ist, das diesen weder adäquat diagnostizieren noch therapieren kann?“
Genau das sei in Deutschland der Fall. Zwar würden in 1.378 Krankenhäusern, also praktisch in jedem Krankenhaus in Deutschland, Patienten mit Herzinfarkt behandelt, doch falle erschreckenderweise auf, dass die Hälfte dieser Häuser dafür überhaupt nicht adäquat ausgestattet sei. So hätten nur 613 dieser Krankenhäuser ein Herzkatheterlabor mit 24/7-Bereitschaft. Was dabei herauskomme, sehe man an der Herzinfarktsterblichkeit im Krankenhaus. Die neuesten Daten für 2017 würden zeigen, dass bei uns 13% der Herzinfarktpatienten verlegt werden und 8,5 Prozent der stationär behandelten Herzinfarktpatienten sterben. Was hoch sei im internationalen Vergleich: Dänemark 3,2% Sterblichkeit, Niederlande 3,5%, Schweden 3,9% oder Frankreich mit 5,6%. Klingt wenig, ist aber dramatisch. Denn: Die Differenz von 8,5% Herzinfarktsterblichkeit bei uns gegenüber etwa Frankreich bedeute über 5.000 Sterbefälle, gegenüber dem dänischem Niveau sogar 10.000. Doch hierzulande werde immer noch argumentiert, dass wir diese vielen Krankenhäuser brauchen, weil Patienten ansonsten zu weit fahren müssten.
Dieses Beispiel brachte Busse neben dem der Pankreas- und Lebereingriffe nur, um damit ein „systematisches strukturelles Problem“ aufzuzeigen. Indes eines, von dem Busse eigentlich gedacht hätte, dass das Wissen darum schon in die Politik eingedrungen wäre. Doch dann kam Corona und auf einmal hätte es geheißen: „Der Busse erzählt Quatsch, wir brauchen jedes Bett.“ Dabei zitierte er aus dem Editorial von Georg Baum, dem damaligen Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der zu Beginn der Krise im März letzten Jahres in der Zeitschrift „Das Krankenhaus“ folgendes geschrieben hatte: „Die Welt schaut neidvoll auf Deutschlands Krankenhäuser. Das Standardrepertoire der einheimischen Kritikercommunity überzeugt nicht mehr. Zu viele, zu teure Krankenhäuser, unnötige Leistungen, unzulängliche Qualität – das zieht nicht mehr. Bertelsmann irrt1. Flächendeckende Daseinsvorsorge ist eben doch anspruchsvoller als Spiele auf der grünen Wiese.“
Busse hält dagegen: Jeder, der zählen könne, würde feststellen, dass es in Deutschland 500.000 Krankenhausbetten gebe, weshalb man hierzulande in Messehallen aufgebaute Covid-Krankenhäuser gewiss nicht brauche. Corona sei jedoch der „Lackmustest“, doch auch der Daten-Enabler, denn vor der Pandemie sei es schier unmöglich gewesen, vom InEK zeitnah an die entsprechenden Zahlen zu kommen. Nun hätte sein Team nicht nur die Daten für 2019, sondern bereits jetzt die für 2020 erhalten, die vor der Pandemie erst 2022 verfügbar gewesen wären.
Die anhand dieser Daten mögliche Auswertung zeige, dass 2019, vor der Pandemie, ein Viertel der Betten der DRG-Häuser – die nach Fallpauschalen abrechnen – frei gewesen war. Busse: „Wir dachten immer, dass dies bei 20% der Fall so sei, weil das Statistische Bundesamt DRG-Häuser und die psychiatrischen zusammen berichtet hat.“ Doch nun bräuchte man nicht nur normale Krankenhausbetten, sondern insbesondere Intensivbetten und auf jeden Fall ausgebildetes Personal dafür. Auch hier sind nach Busses Aussage 2019, also vor Corona, rund 30% der Betten auf den Intensivstationen frei gewesen, bei psychiatrischen Häusern ungefähr 10%.
Dann kam die Pandemie. Und die Anzahl der zusätzlich freien Betten habe – durch den Rückgang elektiver Operationen – noch deutlich zugenommen – von einem Viertel auf rund ein Drittel freier Betten (s. S. 20/21). Es gelte: „In der größten Gesundheitskrise des Landes waren die Krankenhäuser so leer, wie sie noch nie waren.“ Busse: „Ich weiß nicht, ob man es als Legendenbildung bezeichnen will, aber jedes Krankenhaus sagt jetzt, wie wichtig sie doch in der Pandemie waren.“
Aus seinen Zahlen geht ebenso hervor, dass 2020 nur etwa jedes 30. Bett pro Tag mit Covid-19-Patienten belegt war. Die reine Zahl macht es noch deutlicher: Von den rund 17 Millionen stationären Fällen im Jahr 2020 waren gerade einmal 172.000 Covid-Fälle in stationärer Behandlung, was ziemlich exakt einem einzigen Prozent aller stationären Fälle entspricht.
Doch wie viele waren das genau? Das geben die Busse zur Verfügung gestellten InEK-Zahlen nicht exakt her, da die hier genutzten Daten Fälle und nicht Patienten berichten. Auch sei eine Krankenhaus-Einzelfallbetrachtung nicht möglich, da beispielsweise die Charité als ein einziges Haus in den Daten auftauche.
Busse schätzt jedoch auf Basis der ihm ebenso vorliegenden AOK-Zahlen, dass von den berichteten 172.000 stationären Covid-Fälle des Jahres 2020 über 10% Prozent verlegt worden sind. Damit stünden hinter den 172.000 Fällen ungefähr 155.000 Patienten. Noch mehr seien Verlegungsfälle bei den beatmeten Patienten festzustellen: 30%. Das sei laut Busse eine „unerhört hohe Zahl an verlegten Fällen“. Denn damit sei „fast jeder Dritte“ verlegt worden, häufig in Häuser mit mehr Erfahrung. Zum Vergleich: Nach Busses Zahlen werden bei Herzinfarkten ungefähr 13 Prozent der Patienten verlegt.
Dies wertet Busse als Zeichen dafür, dass kleine Krankenhäuser bei der Versorgung schwerer Covid-19-Fälle häufig überfordert waren, denn ansonsten wären diese Patienten nicht so häufig in größere Häuser verlegt worden. Das kann aber nur eine Annahme sein, denn warum und wohin diese Patienten genau verlegt worden, das geben die InEK-Daten nicht her. <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis: Stegmaier, P.: „Das Corona-Paradoxon“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 18-19. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2288
Vorgestellte Innovationsfonds-Projekte der Charité aus dem
Förderbereich „Neue Versorgungsformen“
ANNOTeM – Akutneurologische Versorgung in Nordost-Deutschland mit telemedizinischer Unterstützung. Ergebnisse zum Aufbau eines teleneurologischen Netzwerks in Nordost-Deutschland. Vorgestellt von: Dr. Hebun Erdur, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie
Survivorship Clinic – Sprechstunde für Langzeitüberlebende mit gynäkologischer Tumorerkrankung. Vorgestellt von: Dr. Hannah Woopen, Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie (CVK)
Abdominal Pain Unit: Standardisierte strukturierte Versorgung von Patienten mit traumatischen Bauchschmerzen in der Notaufnahme (APU). Vorgestellt von: Dr. Lukas Helbig, Notfall- und Akutmedizin (CCM/CVK)
PRO B – ein RCT zur Evaluation der Auswirkungen eines intensivierten PRO Monitorings bei metastasierten Mammakarzinom-Patientinnen. Vorgestellt von: Dr. Maria M. Karsten, Klinik für Gynäkologie mit Brustzentrum der Charité (CCM)
KORE – Eine prospektive, multizentrische, offene Studie zur Implementierung und Analyse der Effekte eines innovativen perioperativen Behandlungsablaufs zur Komplikations REduktion bei bei Patient-
innen mit OVARialkarzionom (KORE-OVAR-Innovation). Vorgestellt von: Dr. Gülhan Inci, Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie (CVK)
PRÄP-GO – Prähabilitation von älteren Patienten mit Gebrechlichkeitssyndrom vor elektiven Operationen – Studienprotokoll einer randomisiert, kontrollierten, Endpunkt-Prüfer verblindet, multizentrischen Interventionsstudie. Vorgestellt von: Prof. Dr. Dr. Stefan Schaller, Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin (CCM/CVK)
SMARTGEM – Effektivität einer Smartphone-gestützten Migränetherapie – eine randomisierte kontrollierte Studie. Vorgestellt von: PD Dr. Lars Neeb, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie
TRANSLATE-NAMSE – Implementierung neuer Diagnosewege für Patienten mit Seltenen Erkrankungen: Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Innovationsfondsprojekt. Vorgestellt von: Prof. Dr. Heiko Krude, Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie
conneCT CF – Coaching und Telemonitoring für Patienten mit Cystischer Fibrose. Vorgestellt von: Dr. Stephanie Thee, Klinik für Pädiatrie m.S. Pneumologie und Immunologie mit Intensivmedizin
ERIC – Tele-Intensivmedizin: Skalierung in der Pandemie und darüber hinaus. Vorgestellt von: Dr. Björn Weiß, Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin (CCM/CVK)
Weitere Sessions:
1: Erkenntnisgewinn durch Nutzung von Sekundärdaten
2: Erfahrungen der Akteure im Gesundheitswesen – Herausforderungen und Chancen
3: Patientenperspektive und -orientierung
4: Versorgungsforschung zur traumatischen Querschnittslähmung
5: Einsatz und Nutzen digitaler Technologien
6: Analysen zur Versorgungssituation in der Region Berlin-Brandenburg
7: Medizinische Versorgung im Alter und bei Personen mit Pflegebedarf