Jetzt einmalige Chance für Covid-19-Forschung nutzen
doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2291
>> Die Covid-19-Pandemie stellt die medizinischen Versorgungssysteme weltweit vor immense Herausforderungen. Analog zur Fokussierung der Versorgung auf das akute Erkrankungsgeschehen tendiert auch die internationale Forschung dazu, sich auf akute schwerwiegende Verläufe zu konzentrieren. Doch ist den meisten Versorgungssystemen eine gestaffelte Versorgung zu eigen, bei der die erste Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion niedergelassene Ärzte sind. Demgemäß sollten sich Forschungsimpulse zur Verbesserung der Faktenlage über Covid-19 nicht allein auf die stationäre und intensivmedizinische Versorgung konzentrieren, sondern Daten aus der ambulanten Versorgung einbeziehen, um ergänzend zur Beforschung akuter Krankheitsverläufe ein authentisches Bild zu Risiken für schwere Verläufe und der Langzeitentwicklung des Krankheitsgeschehens zu zeichnen.
Eine Reihe von Faktoren behindert jedoch die Durchführung von Covid-19-Studien, insbesondere im ambulanten Sektor:
• Hohe Arbeitsbelastung des medizinischen Personals in den Praxen; freie Valenzen für Forschung fehlen, da die Patientenversorgung im Vordergrund steht;
• Vergleichsweise schwächer ausgebildete Forschungsinfrastruktur als im stationären Bereich, auch wenn starke Forschungsimpulse anzutreffen sind;
• zum Teil eruptionsartiger Anstieg von Fällen, der eine geordnete Rekrutierung erschwert;
• Infektiosität in der akuten Phase, die im ambulanten Bereich Isolation bedeutet und körperliche Untersuchung, Labordiagnostik sowie schriftliche Einverständniserklärung erheblich erschweren;
• Wechsel der Behandler oder der versorgenden Instanz beim Übergang von ambulant nach stationär bedeutet im Studienkontext üblicherweise Drop-out.
Die Covid-19-Erkrankung ist erst seit Ende 2019 bekannt, es ist daher nachvollziehbar, dass Fragestellungen sich noch entwickeln. Umso naheliegender ist es, Patienten mit Covid-19 in Register aufzunehmen, um retrospektive Fragestellungen später auf guter Datengrundlage beantworten zu können. Auch öffnet sich auf diese Weise ein „Window of Opportunity“, historische Vergleichsgruppen für zukünftige Forschungsansätze bereitstellen zu können.
Trotz der eingangs beschriebenen Hindernisse zeichnet sich eine erhebliche Forschungsaktivität in Deutschland ab, die sich im Aufbau von Registern und im Aufsetzen von Registerstudien niederschlägt. Es lohnt sich, den Blick auf diese Forschungslandschaft zu richten.
Das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS)1 ist das von der WHO anerkannte Primärregister für Deutschland. Es ist für die Registrierung aller in Deutschland durchgeführten patientenorientierten klinischen Studien zuständig und bietet die Möglichkeit, Informationen zu laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien in Deutschland zu suchen oder über die Registrierung eigene Studien anderen zugänglich zu machen. Das DRKS enthält inzwischen weit mehr als 10.000 Studien. Aktuell kommen jährlich rund 1.500 Studien dazu.
In dieser Studiendatenbank wurde am 25.2.2021 mit dem Suchbegriff „Covid-19“ nach Studien gesucht. Es fanden sich 310 Treffer, auf die die folgenden Filterbedingungen angewendet wurden: Deutschland als Studienort sowie die Forschungsfelder Diagnostik, Therapie, Prognose, Andere. Ausgeschlossen wurden: Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystemforschung, Prävention sowie Screening und Supportive Care.
In Einzelsichtung wurden schließlich Studien herausgefiltert, die sich nicht mit klinischen Aspekten der Covid-19-Erkrankung selbst oder mit deren Versorgung befassen. Auf diese Weise verblieben 153 Studien in der Treffermenge.
Bei 29 dieser 153 Studien besteht anhand der im DRKS gemachten Angaben hinreichende Gewissheit, dass im Rahmen der Studie ambulante Daten erhoben werden. Bei 44 der 153 Studien ist es zumindest wahrscheinlich, dass auch ambulante Informationen erfasst werden. Dies lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen, da aus den Einträgen im DRKS oft nicht hervorgeht, ob z. B. von einer Universitätsklinik auch ambulante Daten gesammelt werden. In Fällen, in denen dies zur Fragestellung der Studie passen würde, wurde unterstellt, dass die Erhebung ambulanter Daten Teil der jeweiligen Studie ist.
Von den gefundenen 153 Studien beanspruchen 12 das Label „Register“ für sich oder haben eine erkennbare Registerstruktur. In zehn der zwölf Registerstudien werden auch ambulante Daten gesammelt (Tab. 1). Vier dieser zehn Registerstudien haben ihren Ausgangspunkt im Krankenhaus und erheben ambulante Daten retrospektiv oder führen ein ambulantes Follow-up durch. Die übrigen sechs Studien weisen unterschiedliche Ausrichtungen auf: jeweils eine hat ihre Provenienz in der Pädiatrie, der Nephrologie oder der Hämatologie-Onkologie. Eine Studie richtet sich spezifisch auf C1-Esterase-Inhibitoren, eine weitere untersucht die Verwendung von Biomarkern in der Prognostik. Eine Studie – die „ABC19 Studie“ – ist ausschließlich auf das ambulante Versorgungssystem gerichtet und wird daher unten exemplarisch genauer vorgestellt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Schwerpunkt der im DRKS gefundenen Registerstudien im stationären Bereich liegt; die Fokussierung auf schwere Verläufe von Covid-19 steht dabei im Vordergrund.
Unter dem Eindruck der Pandemie wurde in kürzester Zeit eine Vielzahl von Forschungsinitiativen gestartet, mit denen Erkenntnisse über die bedrohlichen und teils neuartigen Entwicklungen im Krankheitsgeschehen rund um die SARS-CoV-2-Infektion zu Tage gefördert werden sollen. Dabei ist nur allzu verständlich, dass sich die Forschungsanstrengungen zunächst einmal auf hospitalisierte Patienten konzentrieren, da die Beherrschung schwerer Verläufe und die Reduzierung der Mortalität in der Akutsituation im Vordergrund des klinischen und öffentlichen Interesses sind. Dies steht allerdings im Widerspruch zu den Gegebenheiten einer Versorgungsrealität, in der rund 80% der Covid-19-Patienten ambulant behandelt werden (Beerheide 2020). Hier bedarf es einer methodischen Ausrichtung, mit der Fragestellungen zur Versorgung und zum Management von SARS-CoV-2-Infizierten im
medizinischen Alltag untersucht werden können. Zugleich ist es auch der ambulante Versorgungssektor, der über die Hospitalisierung bestimmter Patienten entscheidet, was in vielerlei Hinsicht von großer Tragweite ist: Die Rechtzeitigkeit der Entscheidung dürfte prognostisch durchaus bedeutsam sein, mit Sicherheit ist es aber die Korrektheit der Entscheidung, die im Hinblick auf Kapazitätsbelange relevant ist, da einerseits Klinikbetten und Beatmungsplätze nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehen und andererseits der ambulante Sektor eine Pufferfunktion wahrnimmt, deren Qualität gleichermaßen von der Anzahl vermeidbarer wie auch versäumter Krankenhauseinweisungen abhängt.
Prognostische Faktoren müssen daher so präzise wie möglich evaluiert und beschrieben werden, und es bedarf praxisnaher Strategien, um diese Faktoren zuverlässig und effizient detektieren zu können. Zudem steht die Wissenschaft derzeit noch am Anfang der Erforschung von Spätfolgen der SARS-CoV-2-Infektion. Die bisher beobachtbaren Erkrankungsverläufe – Stichwort „Long Covid“ – deuten darauf hin, dass solche Spätfolgen vor allem im ambulanten Therapiemanagement und in sehr unterschiedlichen Versorgungskontexten in Erscheinung treten werden (Carfi et al. 2020; Mahase 2020; Tenforde et al. 2020; Wu & McGoogan 2020).
So werden bereits Hinweise auf typische
Spätfolgen u. a. aus internistischen, kardio-logischen, urologischen und neurologisch-psychiatrischen Fachkreisen berichtet (Covid Symptom Study 2020; Nehme et al. 2020; Townsend et al. 2020). Drei von vier Patien-
ten erholen sich nur langsam von Covid-19, einige könnten dauerhafte gesundheitliche Schäden davontragen (Huang et al. 2021). Auch nach einem milden Verlauf von Covid-19 kann es zu persistierenden Symptomen kommen. In einer Kohortenstudie aus der Schweiz klagte jeder dritte ambulante Patient in den ersten sechs Wochen nach überstandener akuter Erkrankung noch über Symptome; am häufigsten waren Müdigkeit, Atemnot und ein Verlust von Geschmacks- oder Geruchsempfindung (Nehme et al. 2020). Hier kommt der Versorgungsforschung die vordringliche Aufgabe zu, die Daten derartiger Fälle in Repositorien aufzufangen und einer Auswertung zuzuführen. Register sind mit ihrer aktiven, prospektiven, standardisierten Dokumentation von Beobachtungseinheiten zu vorab festgelegten, aber im Zeitverlauf erweiterbaren Fragestellungen grundsätzlich geeignet, dies zu leisten, indem sie das Versorgungsgeschehen und die relevanten Aspekte der Bevölkerungsgesundheit auf wissenschaftlicher Basis erheben und kritisch analysieren helfen (Maier et al. 2014; Stausberg et al. 2020).
Unter der Bezeichnung „ABC19 Studie – Ambulante Behandlung von Covid-19-Infektionen: Einfluss von Komorbiditäten auf Krankenhauseinweisungen und andere Therapieentscheidungen“ (www.abc19Studie.de) hat das IGES Institut in Zusammenarbeit mit der Clinischen Studiengesellschaft (CSG), der Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg (FGW), der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB) und dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) jüngst ein Studienkonzept vorgelegt, das von der zuständigen Ethikkommission positiv beschieden worden ist und unter Beteiligung von spezialisierten Covid-19-Praxen in der Modellregion Berlin einer Machbarkeitsanalyse unterzogen wurde. Es ist geplant, zunächst 1.000 Patienten durch mindestens 15 Praxen in die Studie einzuschließen. Ein Follow-up der Studienteilnehmer soll zudem Spätfolgen und Komplikationen erfassen. Mit den gewonnenen Daten sollen auch Modellierungen ermöglicht werden, etwa zu vermiedenen Krankenhausaufenthalten.
Das Studienkonzept ist so ausgerichtet,
dass ein ambulantes Covid-19-Register entsteht, das sich zum Ziel setzt, den Einfluss von Komorbiditäten auf schwere Verläufe zu beschreiben und Praxishilfen für deren Erfassung bereitzustellen. Die Studie orientiert sich an den einschlägigen Vorgaben für die Entwicklung, die Organisation und den Betrieb von Registern, wie sie etwa im „Memorandum Register für die Versorgungsforschung“ des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF e.V.) formuliert sind (Stausberg et al. 2020), damit im Erfolgsfall bereits die notwendigen Grundlagen dafür geschaffen werden, ein Covid-19-Register in Betrieb zu nehmen, mit dem Daten aus der ambulanten Versorgung gesammelt und ausgewertet werden können.
Der mit diesem ambulanten Covid-19-Register angestrebte Erkenntnisgewinn soll Hospitalisierungsentscheidungen erleichtern und darüber hinaus die Arbeit der Praxen unterstützen. Hierzu bietet die Registertechnologie Patienten die Möglichkeit, aus der Isolation heraus täglich auf elektronischem Wege klinische Daten und Patient Reported Outcomes Measures (PROM) in die Praxen zu senden. Übersichten in der Registersoftware weisen die Behandelnden auf kritische klinische Entwicklungen hin. Diese digitale Managementfunktion des Registers ermöglicht den Praxen die Surveillance von isolierten Covid-19-Patienten auch bei großen Fallzahlen.
Fazit
Der Blick in das Deutsche Register Klinischer Studien belegt die hohe Forschungsintensität, die Covid-19 seit Beginn der Pandemie gewidmet wird. Register sind als Instrument der Versorgungsforschung prädestiniert dafür, das Erkrankungs- und Versorgungsgeschehen in einem Bereich abzubilden, der erst mit der Zeit Konturen annimmt. Einige Register sind bereits anzutreffen, allerdings wird dem ambulanten Sektor nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die ihm gebührt. So ist derzeit kein nationales übergreifendes Register erkennbar, das rein ambulante Fälle einschließen und diese auch prospektiv beobachten würde. Wir brauchen aber dringend mehr ambulante Corona-Forschung, da im Zuge der Pandemie noch einige Herausforderungen auf uns zukommen werden – sowohl an Fällen, als auch an wissenschaftlichen Fragen. <<
von: Dr. Holger Gothe (1) und Dr. Marc Kurepkat (2)
1 Bereichsleiter Versorgungsforschung, IGES Institut
2 Geschäftsführer CSG Clinische Studien Gesellschaft mbH
Zitationshinweis: Gothe, H., Kurepkat, M.: „Jetzt einmalige Chance für Covid-19-Forschung nutzen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 28-30. http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2291
Literatur
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