Mögliche Kollateralschäden von Covid-19 im Fokus
doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2287
>> Unklar stellt sich trotz aller bis dato vorliegenden Forschungsanstrengungen die Sachlage dar, welche Kollateralschäden die detektierten verminderten Leistungsinanspruchnahmen genau ausgelöst haben. So plädierte der neue DGIM-Vorsitzende Prof. Dr. Sebastian Schellong auf einer Pressekonferenz Anfang Februar in seinem Vortrag mit dem Titel „Leistungen sinnvoller einsetzen, Ressourcen schützen – Was die Medizin von der Coronakrise lernen kann“ dafür, dass man genau überprüfen sollte, welche Leistungen, die in der Corona-Pandemie heruntergefahren wurden, für die Versorgung der Patienten tatsächlich gefehlt haben und welche Leistungen möglicherweise in Zukunft gar nicht mehr hochgefahren werden sollten. Welche das genau sein könnten, das wäre noch zu erforschen. Das gilt natürlich auf keinen Fall für solche, die Patientenleben und/oder deren Gesundheit gefährden könnten. Genau das kann jedoch durchaus vor allem in der ersten Welle passiert sein. Vor allem zu jener Zeit, als alle deutschen Krankenhäuser ihr Leistungsangebot deutlich zurückgefahren und medizinisch nicht unbedingt notwendige – elektive – Eingriffe aufschieben mussten, um Intentensivversorgungskapazitäten für schwer und schwerst erkrankte Covid-19-Patienten freizuhalten. Dass die in dem Maße dann doch nicht benötigt wurden, das konnte zu Beginn der Pandemie niemand wissen. Darum sollte man der Politik dafür auch keinen Vorwurf machen, jedoch dafür, dass es bislang keinerlei Forschungsanstrengungen der öffentlichen Hand gibt, den tatsächlichen Auswirkungen der verminderten Leistungsinanspruchnahmen nachzugehen. Anhaltspunkte dafür gibt es allenthalben.
So sprach Schellong, Chefarzt der zweiten Medizinischen Klinik am Städtischen Klinikum Dresden, auf der DGIM-Pressekonferenz davon, dass es bedenklich sei, wenn bei akut lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall derzeit weniger Patienten einen Arzt aufsuchen würden. Bei weniger gefährlichen Erkrankungen habe hingegen nicht jede aufgeschobene oder abgesagte Behandlung gleich negative Folgen, betonte Schellong. Dennoch sollten nach Meinung des Dresdener Internisten „die Folgen der aktuellen Versorgungssituation für die Patienten erforscht“ werden. Schellong: „So können wir herausfinden, welche Bereiche der medizinischen Versorgung unverzichtbar sind und in welchen die derzeitige Verknappung keine negativen Folgen für die Prognose bestimmter Krankheitsverläufe hatte.“ Es könnte jedoch durchaus auch sein, dass sich hier teilweise eine angebotsinduzierte Nachfrage auf ein normales Maß reduziert. So wurde zum Beispiel im aktuellen Sanofi-Gesundheitstrend herausgefunden, dass es immerhin 47% der Befragten gut bis sehr gut geht, sie aber 62% weniger Arztbesuche durch 26% mehr Eigendiagnose und 46% mehr Selbstmedikation substituiert haben. Was da genau passiert, kann nicht, sondern muss die Versorgungsforschung erklären. Wer sonst?
Denn derartiges Verhalten kann bei leichten Krankheitsbildern durchaus funktionieren, bei vielen aber nun einmal nicht. Vielleicht genau darum gibt es derzeit Folgeerscheinungen der verminderten Leistungsinanspruchnahme oder gar -verweigerung, die durchaus Anlass zur Sorge geben. Wie etwa die zu beobachtenden hohen Fallzahl-Rückgänge bei der Behandlung von Herzinfarkten. So zeigte eine Auswertung des WIdO (1), das im Vergleich der Zeiträume Frühjahr 2019 zu 2020 statt 4.628 Fälle von Herzinfarkten bei AOK-Versicherten in der ersten Lockdown-Phase nur 3.209 Herzinfarkte behandelt wurden – immerhin minus 31 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich laut Aussage der WIdO-Zahlen bei Schlaganfällen: Hier sank die Zahl der behandelten Fälle von 6.190 auf 5.046 (minus 18 Prozent). Bei der Behandlung der Vorstufe des Schlaganfalls, der transitorisch-ischämischen Attacke (TIA), zeigt sich in den Daten sogar ein Rückgang von 37 Prozent. „Diese starken Rückgänge in der Behandlung von echten Notfällen weisen darauf hin, dass betroffene Patienten in der Phase des Lockdowns den Rettungsdienst seltener alarmiert haben“, so WIdO-Geschäftsführer Jürgen Klauber. Trotz akuten Behandlungsbedarfs und möglicher gravierender Folgen hätten die Betroffenen offenbar häufiger keine medizinische Hilfe in Anspruch genommen. „Über die Gründe für dieses Verhalten und das Ausmaß möglicher Folgeerkrankungen geben die Daten keinen Aufschluss“, erklärt Klauber. Schon jetzt lasse sich aber schlussfolgern, dass die Aufklärung der Bevölkerung über das richtige Verhalten im Notfall verbessert werden sollte. Kampagnen wie „Zeit ist Muskel“ oder „Time is brain“ müssten mit Bezug zur Corona-Pandemie intensiviert werden. „Zu einem späteren Zeitpunkt sollten zudem die Sterblichkeitsraten und die Entwicklung von Folgeerkrankungen aufgrund nicht behandelter Notfälle analysiert werden“, betont Klauber. Das WIdO hat zudem im November 2020 eine genauere und umfassendere Analyse zu den Auswirkungen des ersten Lockdowns auf die Behandlung von Notfällen veröffentlicht (2). Hier wird gezeigt, dass sich bei der geringeren Zahl von Schlaganfall-Patienten, die im ersten Lockdown in den Kliniken ankamen, eine gegenüber dem Vorjahr signifikant erhöhte Sterblichkeitsrate zeigte: Die 30-Tage-Sterblichkeit stieg von zwölf Prozent im Frühjahr 2019 auf 15 Prozent in diesem Frühjahr.
Ebenso ist insbesondere die Zahl von Notfall-Patienten mit leichten oder unspezifischen Symptomen gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen. So wurden laut WIdO-Daten wegen einer transitorisch-ischämischen Attacke (TIA), bei der es für höchstens 24 Stunden zu Schlaganfall-Symptomen kommt, 35 Prozent weniger Patienten behandelt als im Vorjahr. Demgegenüber gingen die Behandlungen schwerer, durch Hirninfarkt oder Hirnblutung ausgelöster Schlaganfälle im gleichen Zeitraum um 15 Prozent zurück. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Herzinfarkt. Die Zahl der Behandlungen von schweren Herzinfarkten mit komplettem Verschluss eines großen Herzkranzgefäßes und charakteristischen EKG-Veränderungen (STEMI) ist nach Zahlen des WIdO im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 24 Prozent zurückgegangen. Stärker ausgeprägt war der Rückgang mit minus 29 Prozent bei leichteren Herzinfarkten (NSTEMI), bei denen die Gefäße oft nicht komplett verschlossen sind und die damit geringere Schäden am Herzen verursachen. Fazit der Autoren: Die Angst vor einer Covid-19-Infektion könnte gerade Patienten mit leichteren Beschwerden davon abgehalten haben, sich ins Krankenhaus zu begeben.
Ähnliches berichtet eine im „Stroke“-Journal publizierte Analyse der „Bundesweiten Versorgung von Schlaganfallpatienten in Zeiten der Covid-19-Pandemie in Deutschland“. Richter et al. (3) identifizierten in ihrer Arbeit einen starken Rückgang für die Hospitalisierung von AIS (-17,4%), transitorischer-ischämischer Attacke (-22,9%) und intrazerebraler Blutungen (-15,8%) während der Pandemie im Vergleich zur Zeit davor. Trotz des hier zutage tretenden deutlichen Rückgangs der absoluten Zahlen von Patienten mit AIS, TIA und ICH – „höchstwahrscheinlich auf die Angst der Patienten zurückzuführen, sich mit dem schweren akuten respiratorischen Syndrom Coronavirus während des Krankenhausaufenthaltes zu infizieren“ – legen nach Meinung der Autoren die von ihnen untersuchten Daten allerdings den Schluss nahe, dass die Patienten mit AIS während der Pandemie nicht nur eine akute Krankenhausbehandlung aufsuchten, sondern „mit der gleichen hohen Qualität wie vor der Pandemie behandelt“ worden seien.
Ein detaillierteres Bild berichtet hingegen Vivantes, mit 5.856 Betten der größte öffentliche Klinikkonzern Deutschlands. Ein Drittel aller Patienten in Berlin wird jedes Jahr in einer von über 100 Kliniken und Instituten von Vivantes mit insgesamt fast einer halben Million Behandlungen im Jahr versorgt. Einer internen Vivantes-Auswertung zufolge sank im Vergleich der Monate November 2019 bis Januar 2020 zu den gleichen Monaten in 2020/2021 die Zahl der Herzinfarkte nur um 1% (Abb. 3). Im gleichen Zeitraum ist jedoch die Zahl der Hirninfarkte und TIA um je 25% gesunken. Warum es im Vergleichszeitraum gleich 25% weniger Hirninfarkte/TIA gab, ist unerklärlich; mögliche Erklärungsversuche – wie etwa weniger Stress durch vermehrte und eventuell Worklifebalance fördernde Homeoffice-Arbeit – sind Spekulation.
Noch gravierender wird die Fallzahlabnahme, wenn man speziell die Lockdown-Monate Februar 2020 und 2021 vergleicht: -32% weniger Hirninfakte, -33% TIA und immerhin noch -14% Herzinfarkte.
Welche Gründe es für diese Fallzahlabnahmen gibt, sollte genauer erforscht werden – eine originäre Aufgabe der Versor-
gungsforschung! Zum Beispiel auch für Institute mit eigenem Datenzugang, die mit den bereits zur Verfügung stehenden Daten durchaus und schnell ein Forschungssetting schaffen könnten, um mögliche Kollateralschäden von Covid-19 – wie etwa bei Schlaganfall und anderen Krankheitsbildern – zu erklären. Dazu muss eine Forschungskohorte aus 2018 gebildet werden, die dann in 2019 und 2020 (und vielleicht sogar langfristiger) beobachtet wer-
den. Ein solches Vorhaben braucht jedoch nicht nur eine auskömmliche Finanzierung, sondern vor allem den Willen, aus durchaus möglicher Transparenz wichtiges Wissen für die Zukunft schaffen zu wollen. Doch nicht nur für Herz- und Hirninfarkte, sondern für möglichst viele andere Krankheitsbilder. <<
von: Dr. Eberhard Thombansen (1) und Peter Stegmaier (2)
1 = Vivantes; 2 = Monitor Versorgungsforschung
Zitationshinweis: Thombansen, E., Stegmaier, P.: „Mögliche Kollateralschäden von Covid-19 im Fokus“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 16-17. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2287