Zero- ist nicht No-, aber fast Low-Covid
doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2286
>> Die Antwort auf die so simpel klingende Frage liegt wie so oft im Auge des Betrachters. Beim Zero-Covid-Ansatz, den bereits immerhin 94.794 Bundesbürger (Stand: 08.02.21) mit ihren Unterschriften bei WeAct unterschrieben haben, sollen alle gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stillgelegt werden. Da-
zu zählen Fabriken, Büros, Betrie-
be, Baustellen, Schulen und natürlich müsse – so die Forderung – „die Arbeitspflicht ausgesetzt werden“. Alle bleiben zuhause und keiner arbeitet mehr; zumindest so lange, bis die Ansteckungen mit Covid-19 auf Null reduziert sind. Um einen Ping-Pong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, müsse zudem in allen europäischen Ländern schnell und gleichzeitig gehandelt werden. Der deutschsprachige Aufruf orientiert sich am internationalen Vorbild
für die konsequente Eindämmung der Covid-
19-Pandemie in Europa1.
Die No-Covid-Stra-
tegie hingehen verfolgt das Ziel, die Inzidenz auf unter 10 zu drücken. Wenn dies in einer oder mehreren Regionen gelungen ist, sollen diese zu „Grünen Zonen“ erklärt werden, in denen die Beschränkungen aufgehoben werden. Allerdings soll, um einen Wiedereintrag von Infektionen zu vermeiden, ein Bündel aus Maßnahmen eingesetzt werden, zu dem lokale Mobilitäts-Kontrollen, Tests und Quarantänen sowie ein rigoroses Ausbruchsmanagement bei sporadischem Auftreten neuer Fälle zählen. Das Ziel für alle sei es, eine „Grüne Zone“ zu schaffen und diese sukzessive über Deutschland und Europa auszuweiten. Dazu müssen, nach Ansicht der 13 Erstautoren*, alle Maßnahmen „insgesamt kohärent und verständlich“ sein sowie als „fortschreitend und flankierend“ zur Impfung der Bevölkerung gesehen werden. Dieser Ansatz erfordere die Unterstützung der gesamten Bevölkerung und aller gesellschaftlichen Akteure. Daher werde nach Ansicht der Autoren eine deutschlandweite Kommunikations- und Motivationskampagne benötigt, um die neue Zielsetzung zu vermitteln. Ihr Aufruf: „Wir müssen das Ziel No-Covid klar vor Augen haben und einen gesellschaftlichen Konsens herstellen, dass wir als Gesellschaft nicht mit dem Virus leben wollen und können, sondern es besiegen wollen.“
Als Problem eines Zero-Ansatzes benennt die Autorengruppe der No-Covid-Strategie die Frage, wie sich damit das Prinzip der Freizügigkeit im Schengen-Raum mit der Zero-Covid-Strategie verträgt. Grenzschließungen und Reisebeschränkungen zählten zu den Maßnahmen der Mobilitätsreduktion, weshalb von ihnen positive epidemiologische Effekte erwartet werden können. Aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen seien jedoch diese Maßnahmen möglicherweise schwierig durchzusetzen. Zugleich wirken Grenzkontrollen je nach epidemiologischer Lage unterschiedlich: Ihr Effekt sei stark,
a) solange sich die Epidemie in einer frühen Phase befindet und
b) sobald es gelungen ist, lokale Übertragungen dauerhaft zu unterbinden und die „Grüne Zone“ erreicht ist. In Phasen einer schnellen und unkontrollierten lokalen Ausbreitung ist ihr Effekt hingegen marginal. Für das Gelingen des „Grüne Zonen“-Konzepts sei indes ein Schließen der innereuropäischen Grenzen nicht zwingend notwendig, auch könne auf erneute Grenzschließungen innerhalb Europas verzichtet werden.
Besonders problematisch beim Zero-An-satz ist, dass ein superharter Lockdown, der damit auch die Wirtschaft erfasst, voll auf diese zurückschlägt. Für Prof. Dr. Clemens Fuest (ifo Institut), einem der Mitunterzeichner von No-Covid, ist jedoch eine Lockdown-Politik per se nichts Schlechtes; auch wenn er in einem Vortrag anlässlich der LMA-Corona-Lectures die Frage stellte: „Schutz der Gesundheit auf Kosten der Wirtschaftsentwicklung?“
Entgegen der allgemeinen Annahme sind den Worten Fuests zufolge Branchen von der Krise sehr asymmetrisch tangiert; auch setze die Industrie ihre Erholung bislang fort. Allgemein gelte, dass 90% der Wirtschaft bisher weder von der Pandemie noch vom Lockdown betroffen seien. Dies jedoch mit Ausnahmen, wie etwa diverser Branchen – Einzelhandel (3,5%), Kfz-Handel (1,6%), Gastgewerbe (1,6%), Reisebüros (0,2%) und Kunst, Unterhaltung und Erholung (1,4%) – die jedoch summa summarum nur 8,35% der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung vor der Krise ausgemacht hätten. Daher Fuests Rat: „Wenn ein Lockdown keine sinkenden Neuinfektionszahlen erreicht, ist es auch wirtschaftlich sinnvoll, ihn zu verschärfen.“*
In der öffentlichen Diskussion werde oft der Eindruck vermittelt, als würden die Interessen der Gesundheit und der Wirtschaft Gegensätze darstellen, schreibt das ifo Institut in einem aktuellen Dokument2, das das im Januar publizierte Rahmenpapier „Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2“ ergänzen soll. Zwar könnten starke Eindämmungsmaßnahmen der Wirtschaft kurzfristig einen größeren Schaden zufügen als die Pandemie selbst, diagnostiziert das Institut in diesem Papier. Jedoch würden diese Schäden durch die kürzere Dauer der Maßnahmen und die frühere Bewältigung der Pandemie wirtschaftlich kompensiert.
Laut einer aktuellen Unternehmensbefragung des ifo Instituts habe die zweite Coronawelle die deutsche Konjunktur im Win-
terhalbjahr 2020/21 gedämpft. Pro Woche entgehe Deutschland eine Wertschöpfung in Höhe von 1,5 Milliarden Euro. „Damit sind die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen deutlich geringer als während der ersten Welle im Frühjahr 2020“, sagt dazu Timo Wollmershäuser, Leiter der ifo Konjunkturprognosen. „Die Wirtschaftsleistung dürfte nur in den konsumnahen Dienstleistungsbereichen ins Minus rutschen, in denen soziale Kontakte ein wichtiger Bestandteil des Geschäftsmodells sind.“ Zu diesen Branchen gehören unter anderem das Gastgewerbe, die Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen sowie Friseur- und Kosmetiksalons. Sie zögen die Veränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts im vierten Quartal 2020 um etwa einen halben Prozentpunkt nach unten und im 1. Quartal 2021 nochmals um knapp einen Prozentpunkt. Insgesamt dürfte die reale Wirtschaftsleistung in den betroffenen Zweigen im ersten Quartal 2021 um etwa 20 Milliarden Euro niedriger liegen als im vierten Quartal 2019, also dem letzten Vorkrisenquartal. „Da die Industrie- und Baukonjunktur jedoch weiterhin gut laufen, dürfte das Bruttoinlandsprodukt zu Jahresbeginn nicht zurückgehen, sondern stagnieren“, ergänzt Wollmershäuser.
Übrigens nahm bereits die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus die No-Covid-Strategie auf und hat dazu ein eigenes Papier vorgelegt, das sie „Low Covid – Testen – Impfen“3 nennt. Dazu erklärte Burkard Dregger, Vorsitzender der CDU-Fraktion Berlin: „Corona und das Hangeln von Lockdown zu Lockdown ist ein Stresstest für uns alle.“ Es müsse gelingen, endlich eine nachhaltige, verlässliche und dauerhafte Perspektive zu schaffen. Strategisches Ziel sei eine niedrigst mögliche Inzidenz bis Ende Februar. Eine Inzidenz von 50 sei leider der falsche Hoffnungswert und möglicher Startpunkt exponentieller Infektionen – gerade bei unkalkulierbaren Virusmutationen. Hier heiße es deshalb: „Zurück-Haltung“ statt „Zurück-Lehnen“. Und weiter: „Wir nehmen Vorschläge aus der Wissenschaft sehr ernst und plädieren für ein Stufenmodell bei Ziel-Inzidenzen zwischen 10 und 20.“ <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis: Stegmaier, P.: „Zero- ist nicht No-, aber fast Low-Covid“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 14-15. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2286
Links
Zero Covid:
https://zero-covid.org/
https://www.containcovid-pan.eu/
1: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32625-8
No-Covid-Paper:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/no-covid-strategie.pdf?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.uni-hamburg.de%2F
2: https://www.ifo.de/publikationen/2021/monographie-autorenschaft/proaktive-zielsetzung-bekaempfung-sars-cov-2-handlungsoptionen
3: https://www.cdu-fraktion.berlin.de/lokal_1_1_2567_Strategiepapier-mit-Dreiklang-Low-Covid--Testen--Impfen-.html
* Erstautoren
Prof. Dr. Menno Baumann (Pädagogik, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf), Dr. Markus Beier (Medizin, Allgemeinmediziner, Vorsitzender
Bayerischer Hausärzteverband), Prof. Dr. Melanie Brinkmann (Virologie, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung), Prof. Dr. Heinz Bude (Soziologie, Universität Kassel), Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest (Ökonomie, ifo Institut und LMU München), Ass. jur. Denise Feldner, M.B.L. (Jura, Technologierecht, Crowdhelix/KU Leuven Germany), Prof. Dr. Michael Hallek (Medizin, Internist, Klinik I für Innere Medizin, Universität zu Köln), Prof. Dr. Dr. h.c. Ilona Kickbusch (Global Public
Health, Graduate Institute Geneva, WHO-Beraterin, GPMB), Prof. Dr. Maximilian Mayer (Politikwissenschaft Schwerpunkt Asien, CASSIS, Universität Bonn), Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann (Physik, Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung), Prof. Dr. Andreas Peichl (Ökonomie, ifo Institut und LMU München), Prof. Dr. Elvira Rosert (Politikwissenschaft, Universität Hamburg/IFSH) und Prof. Dr. Matthias Schneider (Physik, TU-Dortmund).