Stellungnahme 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19
doi: http://doi.org/10.24945/MVF.03.21.1866-0533.2314
AktualisierungStand: 14. April 2021, 12:00h
Die Autorengruppe ergänzt anlässlich des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens zum 4. Bevölkerungsschutzgesetz ihre bisherigen sieben Thesenpapiere um eine zweite dringliche Ad-hoc-Stellungnahme. „Das „Notbremsengesetz“ ist verfassungsrechtlich und rechtspolitisch hochproblematisch. Es knüpft den Eintritt von z. T. gravierenden Grundrechtseingriffen unverhältnismäßig an einen politisch willkürlich gesetzten und zudem unsicheren „Schwellenwert“, der als Steuerungswert untauglich und zudem durch die neuen Testungen beeinflussbar ist. Das Gesetz verkürzt den Rechtsschutz, reduziert ihn auf Normenkontrollklagen oder (begrenzt) Verfassungsbeschwerden und schließt den Verwaltungsrechtsweg vollständig aus, der eigentlich für diese Grundrechtseingriffe ein unverzichtbarer Rechtsschutz für den Bürger darstellt. Das föderalistische Prinzip wird desavouiert und jeglicher Ansatz differenzierter Maßnahmen der Pandemiebekämpfung wird ausgeschlossen. Stand: 14. April 2021, 12:00h
Centralised arbitrariness: On the draft 4th Population Protection Act“
On the occasion of the current legislative procedure on the 4th Civil Protection Act, the authors‘ group supplements its previous seven thesis papers with a second urgent ad hoc statement. „The „Emergency Brake Act“ is highly problematic in terms of constitutional law and legal policy. It disproportionately links the occurrence of sometimes serious encroachments on fundamental rights to a politically arbitrary and, moreover, uncertain „threshold value“, which is unsuitable as a control value and, moreover, can be influenced by the new tests. The law shortens the legal protection, reduces it to norm control complaints or (limited) constitutional complaints and completely excludes the administrative legal process, which is actually an indispensable legal protection for the citizen for these encroachments on fundamental rights. The federalist principle is disavowed and any approach to differentiated measures to combat the pandemic is excluded. Status; 14 April 2021, 12:00h.
Keywords
Pandemic, SARS-CoV-2, Covid-19, epidemiology, prevention, sociopolitical relevance
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe / Hedwig François-Kettner / Dr. med. Matthias Gruhl / Prof. Dr. jur. Dieter Hart / Franz Knieps / Dr. med. Andrea Knipp-Selke / Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow / Prof. Dr. phil. Holger Pfaff / Prof. Dr. med. Klaus Püschel / Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske
Thesenpapiere
Thesenpapier 1.0 (Tp1.0): Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Gruhl, M., Knieps, F., Pfaff, H., Glaeske, G.: Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 5.4.2020, Monitor Versorgungsforschung, https://www.monitorversorgungsforschung. de/Abstracts/Abstract2020/PDF-2020/MVF-0320/Schrappe_Covid_19
Thesenpapier 2.0 (Tp2.0): Schrappe, M. (2020B), Francois-Kettner, H., Knieps, F., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Köln, Berlin, Hamburg, Bremen 3.5.2020, https://www.monitorversorgungsforschung.de/efirst/schrappe-etal_covid-19-Thesenpapier-2-0
Thesenpapier 3.0 (Tp3.0): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske G.: Thesenpapier 3.0 zu SARS-CoV-2/Covid-19-Strategie: Stabile Kontrolle des Infektionsgeschehens, Prävention: Risikosituationen verbessern, Bürgerrechte: Rückkehr zur Normalität. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 28.6.2020, Monitor Versorgungsforschung, http://doi.org/10.24945/MVF.04.20.1866-0533.2231
Thesenpapier 4.0 (Tp4.0): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARSCoV-2/Covid-19 – der Übergang zur chronischen Phase (Thesenpapier 4.0, 30.8.2020). Verbesserung der Outcomes in Sicht; Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren; Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 30.8.2020, Monitor Versorgungsforschung, http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2248
Thesenpapier 4.1 (Tp4.1): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARSCoV-2/Covid-19 – der Übergang zur chronischen Phase. Verbesserung der Outcomes in Sicht; Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren; Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren (Überarbeitung als Thesenpapier 4.1, 5.10.2020). https://www.monitor-versorgungsforschung.de/Abstracts/Abstract2020/MVF-05-20/Schrappe_etal_Thesenpapier_4-1_Corona-Pandemie
Ad-hoc-Stellungnahme (SN): Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Ad hoc-Stellungnahme der Autorengruppe zur Beschlussfassung der Konferenz der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident/innen der Länder am 14.10.2020: Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – Gleichgewicht und Augenmaß behalten. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 18.10.2020, https://www.monitor-versorgungsforschung.de/news/ad-hoc-stellungnahmezur-ministerpraesidenten-konferenzThesenpapier 5: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – Spezifische Prävention als Grundlage der „Stabilen Kontrolle“ der SARS-CoV-2-Epidemie (Thesenpapier 5.0). Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 25.10.2020. Monitor Versorgungsforschung, https://www.monitor-versorgungsforschung.de/Abstracts/Abstract2020/mvf-0620/Schrappe_etal_Thesenpapier_5-0_Corona-Pandemie, doi: http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2266
Thesenpapier 6: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: Thesenpapier 6, Teil 6.1: Epidemiologie. Die Pandemie durch SARS-CoV-2/CoViD-19, Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels. Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 22.11., Monitor Versorgungsforschung 13, 2020, 76-92, http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2267
Thesenpapier 7.0: Schrappe, M., François-Kettner, H., Gruhl, M., Hart, D., Knieps, F., Manow, P., Pfaff, H., Püschel, K., Glaeske, G.: „Sorgfältige Integration der Impfung in eine umfassende Präventionsstrategie“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (01/21), S. 75-81; doi: http://doi.org/10.24945/MVF.01.21.1866-0533.2283
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Zitationshinweis: Schrappe et al.: „Stellungnahme 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19: „Zentralisierte Willkür: Über den Entwurf eines 4. Bevölkerungsschutzgesetzes“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/21), S. 51-56. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.03.21.1866-0533.2314
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Plain-Text:
Zentralisierte Willkür: Über den Entwurf eines 4. Bevölkerungsschutzgesetzes
a. Begründet mit Erfüllung „staatlicher Schutzpflicht für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes im erforderlichen Maße nachzukommen und dabei insbesondere auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend wichtigem Gemeingut und damit die bestmögliche Krankenversorgung weiterhin sicherzustellen.“ (Formulierungshilfe der Bundesregierung für die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, Begründung Allgemeiner Teil, Wesentlicher Inhalt des Entwurfs, Stand 13.4.2021)
b. Begründet mit Lücke wegen Nicht-Erfüllung der Absprachen der MPK. „Festzustellen ist gegenwärtig eine bundesuneinheitliche Auslegung der gemeinsam von den Ländern in der regelmäßig stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen. Die dadurch entstehende Lücke im Schutz vor weiteren Infektionen mit Covid-19 soll durch diesen Gesetzentwurf geschlossen werden. Dem Gesetzgeber kommt angesichts der nach wie vor ungewissen und sich dynamisch verändernden Gefahrenlage ein weiterer Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.“ (ebendort)
c. Darüber hinaus enthält der Entwurf eine Verordnungsermächtigung zugunsten der Bundesregierung: „Zudem wird die Bundesregierung ermächtigt, zur Durchsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen (Absatz 6). Damit werden dem Bund zusätzliche Handlungsmöglichkeiten gegeben, um die Durchsetzung der nationalen Ziele des Infektionsschutzgesetzes zu gewährleisten. Insofern wird eine weitere Lücke im Infektionsschutzgesetz geschlossen.“ (ebendort)
d. Der Entwurf enthält im Wesentlichen Kontaktbeschränkungen hinsichtlich privater Zusammenkünfte, Ausgangsbeschränkungen, Schließungen, Beschränkungen bzw. Verbote der Ausübungen von Dienstleistungen, Gastronomie und Sport und im öffentlichen Nahverkehr und in der Hotellerie.
e. Alle Beschränkungen sind nach § 28b Abs. 1 IfSG-E einheitlich geknüpft an. „Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die nach § 28a Absatz 3 Satz 13 durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so gelten dort ab dem übernächsten Tag die folgenden Maßnahmen …“. (ebendort)
Deren automatische Aufhebung erfolgt bei Unterschreitung der 100er-Inzidenz an fünf aufeinanderfolgenden Werktagen am übernächsten Tag (§ 28b Abs. 2 IfSG-E).
2. Das Gesetz basiert auf einem willkürlich gesetzten „Schwellenwert“ und knüpft daran einen Automatismus und eine die Länderkompetenzen begrenzende Rechtsverordnungsermächtigung.
a. Der Schwellenwert ist willkürlich gesetzt. Die Schwellenwerte haben keinen Bezug zu einer wissenschaftlichen Begründung; weder Infektiologie, noch Epidemiologie, noch klinische Epidemiologie (Evidenz-basierte Medizin) noch Versorgungsforschung haben zu ihrer Entstehung beigetragen. Noch werden die früheren Begründungen für die Schwellenwerte in § 28a Abs. 3 IfSG (Nachverfolgbarkeit von Infektionen durch die Gesundheitsämter) überhaupt im Entwurf angeführt. Die früheren Begründungen für die Schwellenwerte sind zudem durch Entwicklungen der Digitalisierung der Arbeit des ÖGD überholt.
b. Es fehlt nach wie vor an Kohortenstudien, die als Grundlage rationaler politischer Steuerung eingesetzt werden könnten.
c. Der Schwellenwert 100 kann unter Berücksichtigung einer wahrscheinlich erheblichen Dunkelziffer weit höher liegen. Insofern ist die Setzung des Schwellenwertes nicht nur willkürlich, sondern zusätzlich unsicher.
d. Die Schwellenwerte sind eine politische Entscheidung auf der Basis einer unsicheren und willkürlichen Setzung. Sie verfehlen die Grundlage rechtsstaatlichen Steuerungshandelns. Im Gesundheitsbereich sollte jegliches Steuerungshandeln jedenfalls (auch unterschiedliche) wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen und entsprechend verarbeiten bzw. ihre Generierung veranlassen (vgl. Hart/Gruhl/Knieps/Manow, Wissenschaft, Politik und verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeit, Public Health Forum 2021; 29(1): 51-53).
3. Die Verknüpfung der Automatik unterschiedlicher Interventionen (Eingriffe in Grundrechte) in § 28b Abs. 1 IfSG-E mit dem einheitlichen Schwellenwert verletzt das Verhältnismäßigkeitsgebot, das eine differenzierte Begründung für jeden einzelnen Eingriff erfordert.
a. Die Verknüpfung sehr unterschiedlicher Grundrechtseingriffe mit einem einheitlichen „Inzidenz“-Maßstab verstößt gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das je spezifische Begründungen und Abwägungen zwischen Grundrechtseingriff und Schutzgut erfordert. Die verfassungsrechtliche Bewertung ist eine risikoorientierte Abwägungsentscheidung unter Unsicherheit, die zwischen Schutzgut und Eingriffsgut eine verhältnismäßige Balance herstellt.
b. Durch die Regelung des § 28b Abs. 1 IfSG-E wird in sehr unterschiedliche Grundrechte eingegriffen: Bewegungsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 1 GG; Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; Gleichheitsgrundsatz Art. 3 Abs. 1 GG; Berufs- und Berufsausübungsfreiheit Art. 12 Abs. 1 GG; Freizügigkeit Art. 11 Abs. 1 GG; Unverletzlichkeit der Wohnung Art. 13 Abs. 1 GG; Eigentumsfreiheit Art. 14 GG (einige Grundrechte sind in § 28b Abs. 9 IfSG-E nicht zitiert).
c. Übereinstimmende Meinung in Verfassungslehre und Rechtsprechung die Rechtfertigungsbedürftigkeit eines Grundrechtseingriffs und nicht der Grundrechtsausübung. Prägnant und aktuell im hiesigen Zusammenhang: „Die Ausübung eines Grundrechts ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Vielmehr bedarf seine Einschränkung der Rechtfertigung, die zwischen der Tiefe des Eingriffs einerseits und dem Ausmaß und der Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr, zu deren Abwendung die Einschränkung erfolgt, nachvollziehbar abwägen muss.“ (Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 28. April 2020 – Lv 7/20 –, juris).
d. Das Gebot der spezifischen Begründung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen ist während der Pandemiezeit durch die Rechtsprechung des BVerfG und mehrerer anderer Verfassungs- und Oberverwaltungsgerichte bestätigt worden:
i. BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 30. August 2020 – 1 BvQ 94/20 –, juris: „Unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der insbesondere die Beachtung sämtlicher Umstände des Einzelfalls einschließlich des aktuellen Stands des dynamischen und tendenziell volatilen Infektionsgeschehens erforderlich macht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. Juni 2020 – 1 BvQ 66/20 –, Rn. 5), können zum Zweck des Schutzes vor Infektionsgefahren auch versammlungsbeschränkende Maßnahmen ergriffen werden.“
ii. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. November 2020 – OVG 11 S 116/20 –, juris: „Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind Grundrechtseingriffe nur zulässig, wenn sie durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden, wenn die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und auch erforderlich sind und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) noch gewahrt wird (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22. Mai 2020 – OVG 11 S 51/20 –, juris Rn. 29 und vom 20. Mai 2020 – OVG 11 B 49/20 und OVG 11 B 52/20 –).“
iii. Beispielsweise verlangt etwa die Anordnung von Ausgangsbeschränkungen besondere Voraussetzungen und komplexe Bewertungen über das Zusammenwirken von Maßnahmen: „Nach § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG ist die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist, nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre.“ „Zur Beurteilung der Frage, ob ohne die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit im Sinne des § 28a Abs. 2 Satz 1 IfSG erheblich gefährdet wäre, ist von der diese Maßnahme anordnenden Behörde eine auf die jeweilige Pandemiesituation abstellende Gefährdungsprognose zu erstellen, der eine ex-ante Betrachtung zugrunde liegt (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 12.1.2021 – 20 NE 20.2933 –, juris Rn. 42 vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 5.2.2021 – 1 S 321/21 –, juris Rn. 32 ff.). Die in § 28a Abs. 2 IfSG genannten Maßnahmen stellen mithin eine „ultima ratio“ dar, so dass diese nur dann in Betracht zu ziehen sind, wenn Maßnahmen nach § 28a Abs. 1 IfSG voraussichtlich nicht mehr greifen.“ (OVG Lüneburg, Beschluss vom 06. April 2021 – 13 ME 166/21 –, juris).
iv. Beispielsweise wären auch diese Zusammenhänge im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, die durch den Automatismus der „Schwelle“ ausgeschlossen wären: Landesverfassungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2021 – LVG 4/21 –, juris „Die während der Geltungszeit der 9. SARS-CoV-2-EindV einsetzende Verfügbarkeit von Impfungen gegen Covid-19 stellte die Eignung allgemeiner Infektionsschutzmaßnahmen noch nicht in Frage. Sobald feststeht, dass der Impfschutz nicht nur die Erkrankung des Geimpften an Covid-19 ausschließt oder abmildert, sondern auch eine Übertragung des Erregers auf andere, ist die Anwendung von Grundrechtseingriffen, die eine Ansteckung des oder durch den Grundrechtsträger verhüten sollen, auf Geimpfte zu diesem Zweck ungeeignet, daher unverhältnismäßig und nicht mehr zu rechtfertigen. Infektionsschutzregelungen müssen dann ihre Anwendbarkeit entsprechend auf Menschen ohne solchen Impfschutz zurückziehen und die nötigen Voraussetzungen für die Vollziehbarkeit dieser Unterscheidung nach dem bestehenden Impfschutz schaffen.“
Gerade im Bereich von Geeignetheit, besonders von Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) sind Grundrechtseingriffe nicht ohne maßnahmen- und eingriffsbezogene spezifische Begründungen rechtlich zulässig. Völlig unterschiedliche Eingriffe über „einen Kamm zu scheren“ verstößt gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat maßnahmenspezifisch zu erfolgen; grundrechtsspezifische Angemessenheitsanforderungen sind zu beachten (Poscher, in: Huster/Kingreen, Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 4 Rn. 109 ff.).
4. Das Gesetz enthält eine Rechtsverordnungsermächtigung
(§ 28b Abs. 6 S. 2 IfSG-E), die nach ihrem Wortlaut – „weitergehende Vorschriften und Maßnahmen“ – erlauben, die über die Zwecke des Infektionsschutzgesetzes hinausgehen. Folgt man alleine dem Wortlaut, dann fehlte – ohne eine zweckbegrenzende Korrektur durch eine systematische und teleologische Interpretation des IfSG – die Rechtsgrundlage für diese Ermächtigung.
5. Die Voraussetzungen der gesetzlichen automatisierten Interventionen sind durch die Steuerung der Testung beeinflussbar; ebenso die Rechtsverordnungsermächtigungen.
Durch die jetzt eingeleitete massive Ausweitung der Schnellteste werden mehr asymptomatische Infektionen gefunden. Diese wurden früher nicht entdeckt und gingen von daher nicht in die Meldungen positiver Testungen ein. Das jetzige zusätzliche Aufspüren asymptomatischer Infektionen ist zwar infektiologisch sinnvoll, führt aber auch dazu, dass die Zahl der positiven Testungen pro 100.000 Einwohner deutlich ansteigen wird, ohne dass es zu einer realen Veränderung des Infektionsgeschehens gekommen ist.
Wenn immer mehr vulnerable Gruppen geimpft werden und auf der anderen Seite zunehmend getestet wird, wird es auch dazu kommen, dass die Epidemie immer weniger schwere Verläufe verursacht, die Zahl der positiven Tests aber gleich bleibt. Das wird vom Gesetz nicht berücksichtigt.
6. Das Gesetz schließt Differenzierung als Konzept der Pandemiebekämpfung aus.
Es entsteht der Eindruck, dass durch die Betonung der Kontaktbeschränkungen der Entwurf einer No-Covid-Strategie folgt und sich damit auf eine, wissenschaftlich mit anderen Konzepten konkurrierende Position beschränkt und damit andere differenzierende Positionen ausschließt. Die Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Diskussion sollte einen Gesetzgeber zur Zurückhaltung veranlassen.
7. Das Gesetz kann der Ausgangspunkt für einen auf Permanenz gestellten Lockdown sein.
Es besteht die Gefahr, dass das Gesetz durch den willkürlich festgelegten Schwellenwert, die Beeinflussbarkeit des Schwellenwertes durch Testung und die Festlegung auf ein konkurrierendes wissenschaftliches Konzept den Weg in ein auf Dauer gestellten Lockdown als alleinige Covid-19 bekämpfende Maßnahme stellt.
8. Das Gesetz erschwert eine justizielle Kontrolle bzw. schließt sie aus; die einzige Ausnahme ist das Normenkontrollverfahren beim BVerfG.
Der Automatismus der Anordnung von „Maßnahmen“ durch Gesetz erschwert eine justizielle Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen und ermöglicht allein ein Normenkontrollverfahren oder (begrenzt) Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 4a GG). Das Gesetz entzieht demzufolge einen großen Teil der gesetzlich automatisierten „Maßnahmen“ einer justiziellen Kontrolle und macht die „geronnene Pandemiepolitik“ justizfest. Damit verbunden ist die mit diesem Gesetz verbundene Minderung des gerichtlichen Rechtsschutzes durch den Ausschluss des Verwaltungsrechtsweges. Gerade im Bereich grundrechtseingreifender Maßnahmen während der Pandemie ist die verwaltungsrechtliche Kontrolle unverzichtbar, weil nur sie die differenzierende Abwägung zwischen Grundrechten des Schutzes und des Eingriffs im Einzelfall leisten kann. Wir halten dieses Vorgehen unter rechtsstaatlichen Aspekten für mindestens zweifelhaft – eine Rechtsverordnungslösung hätte diese Kritik so nicht provoziert.
9. Das Gesetz könnte als Maßnahmegesetz gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen, ohne dass das hier abschließend geklärt werden könnte.
a. Es soll Maßnahmen der Pandemiebekämpfung umsetzen, die nach einer Vereinbarung der Kanzlerin mit der MPK durch die Länder nicht oder nicht einheitlich umgesetzt wurden.
b. Das Gesetz soll damit Rechtsverordnungen bzw. Allgemeinverfügungen auf Länderebene ersetzen.
c. Es handelt sich zwar um einen Komplex abstrakt-genereller Regelungen, die allerdings von ihren Tatbeständen bzw. Sachverhalten auf die Regelung von Einzelfällen zielen, die auf der Länderebene nicht umgesetzt wurden.
d. Insofern übernimmt faktisch das Gesetz die verwaltungsmäßige Ausführung von Maßnahmen, die den Ländern und ihren untergeordneten Verwaltungseinheiten zustehen.
e. Das BVerfG (BVerfGE 95, 1ff – „Südumfahrung Stendal“) stellt an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Maßnahmegesetzen insbesondere unter dem Prinzip der horizontalen Gewaltenteilung hohe Anforderungen. In der jüngeren Literatur hat Volkmann, Das Maßnahmegesetz, VerfBlog, 2020/11/20, https://verfassungsblog.de/das-masnahmegesetz/, DOI: 10.17176/20201121-003433-0 den alten Begriff neu aufgenommen:
„Das Gesetz als abstrakt-generelle Norm zielt seiner Grundidee nach auf planvoll-langfristige Sozialgestaltung zur Verwirklichung politischer Zielvorstellungen, während die Maßnahme punktuell auf eine bestimmte Sonderlage bezogen ist und sich mit deren Wegfall selbst überflüssig macht; nicht die grundsätzliche Frage, wie und nach welchen Prinzipien wir unser Zusammenleben ordnen wollen, bestimmt sie, sondern ein Sachproblem, das man so schnell wie möglich und irgendwie in den Griff bekommen muss. Die Maßnahme ist damit von ihrer Grundidee her institutionell der Exekutive zugewiesen, so wie sie auch von ihrem Inhalt her weniger einer legislativen als vielmehr einer exekutivischen oder administrativen Entscheidungslogik verhaftet ist. Das Maßnahmegesetz, das sie in sich aufnimmt, bildet in diesem Sinne eine eigenartige Mischform zwischen exekutivem und legislativem Handeln; der äußeren Form nach Willensäußerung der Legislative, orientiert und bewegt es sich doch in einem exekutivischen Denkmuster: eben auch für sich mehr Maßnahme als Gesetz.“
Unter diesem Aspekt stellte sich das Gesetz als Maßnahmegesetz dar und könnte dem Verdikt des Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzips ausgesetzt sein.
10. Das Gesetz desavouiert politisch den Föderalismus ohne Not durch krisenhaft begründete Zentralisierung.
Die staatsrechtliche Diskussion um den Föderalismus ist u. a. und einerseits durch eine bundesstaatliche Kritik – der Bund erfüllt seine Pflichten, die Funktionsfähigkeit des Föderalismus zu unterstützen, nicht ausreichend: Hermes, Der deutsche Exekutivföderalismus in der Pandemie – Rechtsverordnungen des Bundes als Ausweg aus der Konsensfalle, VerfBlog, 2021/4/03, https://verfassungsblog.de/der-deutsche-exekutivfoderalismus-in-der-pandemie/, DOI: 10.17176/20210403-194829-0 – andererseits durch eine den Föderalismus unterstützende Argumentation – ohne die Länder geht es nicht: Gallon, Johannes: „Ganz so einfach ist es nicht: Zur Frage, ob die Bundesregierung die Pandemiemaßnahmen auch selbst erlassen kann“, VerfBlog, 2021/4/02, https://verfassungsblog.de/aenderung-ifschg/, DOI: 10.17176/20210402-194740-0.
Der Bund nimmt durch das Gesetz den Ländern die Umsetzung von für erforderlich gehaltene Maßnahmen ab und den Ländern scheint das nicht unrecht zu sein. Auch das schwächt den Föderalismus. Im Gegensatz zu vorherigen Äußerungen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, in denen der Vorteil der föderalen Unterschiedlichkeit immer wieder ausdrücklich betont wurde, haben sie im jetzigen Gesetzgebungsverfahren ihre Bereitschaft für ein einheitliches bundesgesetzliches Vorgehen erklärt. Die Länder könnten entsprechende Regelungen, wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein geschehen, eigenständig erlassen. Der Verzicht auf diese Kompetenz betrifft nicht nur die Hoheit über das Infektionsschutzgesetz, sondern wirkt weit in die grundlegenden Zuständigkeiten des Föderalismus z.B. in den Bereich der Kultusministerkonferenz (z.B. bei Schulschließungen) hinein. Dieser Bruch mit der von den Ländern bisher massiv verteidigten Eigenständigkeit in verschiedenen Zuständigkeitsbereichen des föderalen Eigenverständnisses verwundert, zumal der Positionswechsel in einigen Ländern (Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, NRW) kurzfristig erfolgte und verfassungsrechtspolitisch liegt erkennbar kein Grund vor, die bisherige Betonung der Vorteile des Föderalismus aufzugeben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass einigen Landesregierungen die Verschiebung der Verantwortung wichtiger ist als die Wahrnehmung eigener föderalistischer Rechte.
11. Zentralisierung ist als politische Intervention weder durch Evidenz noch durch Überzeugung begründet.
Im Ländervergleich zeigen sich keinerlei Hinweise darauf, dass zentralisierte Pandemiebekämpfungsstrategien gegenüber dezentralen systematisch im Vorteil wären. In der Literatur sieht man einen Mix aus zentralisierter Beschaffung und Verteilung knapper Güter (Impfstoffe, Masken, Teste), um Probleme des Überbietungswettbewerbs und des moral hazard zu minimieren, und aus dezentraler Implementation von Schutz-, Eindämmungs- und Präventionskonzepten, um auf die Gegebenheiten vor Ort am besten und flexibelsten reagieren zu können, als am vorteilhaftesten an (siehe Aubrecht, Paul and Essink, Jan and Kovac, Mitja and Vandenberghe, Ann-Sophie, Centralized and Decentralized Responses to Covid-19 in Federal Systems: US and EU Comparisons (2020), SSRN-working paper). Gerade bei der zentralen Beschaffung von Impfstoffen haben EU und Bund besonders versagt. Zudem ist nicht eindeutig, ob das Infektionsgeschehen in Deutschland vor allem aufgrund einer mangelhaften Umsetzung beschlossener Regeln oder aber aufgrund ihrer mangelnden Angemessenheit und Spezifizität momentan nicht nachhaltig eingedämmt werden kann.
12. Die Pandemie sollte nicht der Ausgangspunkt für staatsorganisatorische Interventionen/Veränderungen sein. Der Gedanke an eine neue Notstandsverfassung im Gesundheitsbereich drängt sich auf.