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„Wir brauchen ein neues Logikmodell für unser System“

07.08.2021 09:40
In einem Panel der diesjährigen Handelsblatt-Tagung „Pharma“ diskutierten Dr. Dorothee Brakmann, Leiterin Marketing- und Sales-Strategie im Bereich Onkologie/Hämatologie sowie Mitglied der deutschen Geschäftsleitung bei Janssen, und Dr. Stefan Knupfer, Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes und Bevollmächtigter des Vorstandes der AOK PLUS, Aspekte der „Value Based Healthcare“ – aus Sicht der Pharmaindustrie und aus Sicht einer großen Krankenkasse. Die inhaltlichen Übereinstimmungen vieler Aussagen waren derart frappant, dass „Monitor Versorgungsforschung“ die beiden bat, das Thema mit Dr. Dr. Klaus Piwernetz, einem der Autoren des Fachbuchs „Strategiewechsel jetzt!“, in einem gemeinsamen Interview nicht nur zu vertiefen, sondern auch mögliche Ansätze zu erarbeiten.

http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2325

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>> Im Bericht der „Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem“ steht, dass Fehlanreizen, die mit einer überwiegend pauschalierten oder überwiegend an Einzelleistungen orientierten Vergütung verbunden sind, durch eine stärkere Mischvergütung aus Einzel- und Pauschalleistungen und durch die Kombination mit qualitätsorientierten Vergütungselementen entgegengewirkt werden soll. Das heißt nichts anderes, als dass die Kommission eine wertebasierte Vergütung von Leistungen empfiehlt. Herr Knupfer, Sie vertreten eine große Krankenversicherung, die sich seit den 1990er Jahren Gesundheitskasse nennt: Warum tut sich unser System mit einer Outcome-Systematik so schwer?
Knupfer: Ein wesentlicher Punkt ist, dass wir es in unserem Gesundheitssystem nicht mit direkten Beziehungen zu tun haben. Es ist eben kein „normaler“ Markt mit eindeutigen Verkäufer-Käufer-Beziehungen, sondern besteht aus einem komplexen Beziehungsgeflecht aus Kostenträgern, Leistungserbringern und Patienten – und das obendrein vor dem Hintergrund des Bismarckschen Versicherungsprinzips.

Dennoch gab es auch hierzulande Versuche, zu einem wertebasierten Gesundheitssystem, zumindest zu einem outcome-basierten Ansatz zu kommen, der jedoch im Fall der Pay-for-Performance-Modelle an Praktikabilitätshürden scheiterten. Sie waren allesamt – wenn es an die konkrete Umsetzung ging – von wenig Erfolg gekrönt.
Knupfer: Das kann sich ändern, denn die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass auf einmal Vieles ganz anders laufen kann, insbesondere was das Aufbrechen tradierter Strukturen betrifft. Wir sollten jetzt die Chance nutzen, unser Gesundheitssystem grundsätzlich zu diskutieren und uns fragen, ob wir das System, so wie es jetzt ist, wirklich wollen. Dazu gehört auch, über eine outcome-orientierte Vergütung nachzudenken. Wenn
man das tut, sollte man auch den Mut haben, mit einer gewissen Streuung und Standardabweichung ins Risiko zu gehen, wobei ich da auch uns Kostenträger in der Pflicht sehe.

Eine outcome-orientierte Vergütung könnte aber auch bedeuten, dass nicht mehr jede einzelne Medikamentendose bezahlt wird.
Brakmann: Wir alle werden fundamental umdenken müssen. Es gilt, Outcome wirklich vom Ende her zu denken. Will heißen: vom Patienten her. Bisher ist das nicht so. Wenn innovative Ideen den Weg ins System schaffen, sind es solche, die zum Beispiel in Form von IV-Verträgen „on top“ kommen – damit aber nicht in der Lage sind, tiefgreifende Verbesserungen herbeizuführen. Ich stimme mit Herrn Knupfer völlig darin überein, dass wir dringend beginnen müssen, unser Gesundheitssystem fundamental neu zu denken, wenn wir es an Ergebnisqualität und -orientierung sowie vor allem am Patientenwohl ausrichten wollen.
Will man das denn?
Brakmann: Das ist die Frage. Es wird für keinen der System-Beteiligten ein leichter Weg werden. Hier geht es um Unsicherheiten und fehlendes Vertrauen. Und vor allen Dingen: Keiner weiß vorher, auf was man sich da einlässt.

Wären Sie denn dabei?
Brakmann: Uns ist als pharmazeutischer Hersteller durchaus bewusst, dass wir keine unbegrenzten Ressourcen im System haben. Deshalb würden wir ein solches Vorhaben unterstützen, wenn es denn Stabilität und Innovation in Einklang bringt. Zukunftsfähigkeit und Resilienz sind hier die wichtigsten Stichworte. Voraussetzung dafür ist, dass tatsächlich das Ziel den Weg bestimmt, den wir gehen müssen, wenn wir unser Gesundheitssystem fundamental neu aufstellen wollen. Dieses Ziel, dem sich dann alles unterordnen muss – ob das nun die Einzelleistungsvergütung bei den Ärzten oder von pharmazeutischen Herstellern ist – kann nur lauten: das Beste für den Patienten an Lebens- und Ergebnisqualität. Daran und nur daran sollten wir uns künftig messen lassen. Mir ist natürlich absolut klar, dass eine derartige Forderung enorme Veränderungen für alle Beteiligten mit sich bringt. Darum sollte ein solches Vorhaben gut durchdacht sein und auf einer sehr evidenten Strategie fußen.

Herr Piwernetz, bei diesem Punkt sind Sie als Mitautor des Fachbuchs „Strategiewechsel jetzt“, das Sie gemeinsam mit Professor Neugebauer geschrieben haben, schon fast persönlich angesprochen.
Piwernetz: Bevor wir zu einer Strategie kommen, sollten wir uns darauf einigen, dass der Pay-for-Performance-Ansatz als Vorläufer der Value Based Healthcare durchaus funktioniert. Man muss nur lernen, zwischen algorithmischen und heuristischen Gesundheitsdienstleistungen zu unterscheiden. Bei einer eindeutigen Diagnose, auf die eine ebenso eindeutige, vorher definierte Handlung mit einem abzusehenden Ergebnis folgt (algorithmische Leistungen), ist Pay-for-Performance eine gute Möglichkeit, einen Schritt in Richtung besserem Outcome zu kommen. Bei komplexeren (heuristischen) Dienstleistungen und Verfahren funktioniert dieses Modell jedoch nicht. In den USA ist daher zur Zeit ein Indexsystem führend, bei dem derjenige, der eine Vergütung bekommt, nicht genau erkennen kann, welche seiner einzelnen Handlungen zu einem verbesserten Ergebnis geführt hat und welche nicht. Doch das ist eine eigene Diskussion, die bei uns gerade erst beginnt. Sie ist jedoch wichtig, wenn wir uns dem Prinzip der „Value Based Healthcare“ nähern wollen. Zuerst brauchen wir jedoch von allen Stakeholdern – auch und ganz besonders den Patienten – konsentierte Ziele. Die gibt es bereits, seit ein Expertenpanel der Europäischen Kommission schon 2019 mit dem Paper „Defining Value in Value Based Healtcare“ eine gute Vorarbeit geleistet hat.

Hier werden vier Werte unterschieden: persönliche, technische, allokative und gesellschaftliche.
Piwernetz: Ganz genau. Bei den persönlichen Werten geht es um die individuellen Ziele der Patienten. Dieser Punkt umschließt auch die hierzulande geführte Diskussion um Patientenorientierung sowie um Gesundheits- und Versorgungsziele. Unter dem technischen und allokativen Wert versteht das EU-Expertenpanel bestmögliche Ergebnisse mit Hilfe der verfügbaren Ressourcen – damit ist allokative Effizienz angesprochen, bei der gefordert wird, dass die Ressourcen an der Stelle verwandt werden, an der sie wirklich benötigt werden, was man unter Bedarfsorientierung versteht. Der gesellschaftliche Wert umfasst hingegen alle Bereiche der sozialen Teilhabe. Vergleicht man diese vier Wertebereiche mit den im derzeitigen deutschen Gesundheitssystem gültigen, erkennt man recht schnell, dass wir – freundlich ausgedrückt – noch viel Luft nach oben haben. Will heißen: Wir brauchen eine wirkliche Neuausrichtung. Und einer der kritischsten Punkte für die Leistungssteuerung sind nun einmal die Vergütung und die Ziele, die damit erreicht werden sollen.

Wie das?
Piwernetz: Derzeit befinden wir uns in einem rein angebotsorientierten und -induzierten System. Das führt fast zwangsläufig zu einer ebenso stetigen wie ungesteuerten Angebotsausweitung, der immer wieder durch neue Gesetze und Reformen entgegengewirkt werden muss. Angesichts der auch durch Covid-19 beschränkten Ressourcen ist das ein zeitlich wie ökonomisch endliches Modell, das in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr finanzierbar ist. Besser wäre ein System, das wirklich auf die tatsächlichen Bedarfe der Bevölkerung ausgerichtet ist, die im Detail natürlich regional ganz unterschiedlich gestaltet sein können. Holger Pfaff vom IMVR in Köln hat den Begriff „allokative Effizienz“ geprägt: Wenn die Gesellschaft schon Geld bereitstellt, dann soll sie auch wissen, was der, der das Geld bekommt, dafür der Gesellschaft an Wert zurückgibt.

Was hindert uns, ein besseres Gesundheitssystem einzuführen?
Brakmann: Den einen Schuldigen gibt es nicht. Es gibt jedoch viele beharrende Kräfte, teils natürlich auch völlig zu Recht: Unser derzeitiges Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt, das selbst die Corona-Krise ganz gut überstanden ist. Doch bleiben wir aktuell weit unter unseren Möglichkeiten, weil all das, was an Innovationen in das bisherige System kommt, mit diesem nicht nur kompatibel sein muss, sondern es auch nicht groß stören darf. Ein wahrer Gamechanger-Ansatz ist so nicht machbar.

Was wäre denn ein solcher Ansatz?
Brakmann: Unser derzeitiges Gesundheitssystem wartet beispielsweise einfach ab, bis Patienten erkranken und diese dann therapiert werden müssen. Wir haben derzeit also ein Krankheitsbehandlungssystem – oder überspitzt gesagt – ein Reparatursystem. Intelligenter wäre es, viel konsequenter als in die Behandlung früher Krankheitsstadien zu investieren. Noch zukunftsfähiger wäre es, Krankheiten zu verhindern, bevor sie sich manifestieren, wir nennen das Disease Interception. Das ist keine haltlose Vision, sondern funktioniert bereits bei einigen Krankheitsentitäten wie HIV, Hepatitis C und selbst zu einer Krebsimpfung wird bereits seit längerem geforscht.

Würden diese Möglichkeiten denn überhaupt in unser bisheriges Gesundheitssystem passen?
Brakmann: Eben nicht. So, wie die derzeitige Marktzulassung über das AMNOG geregelt ist, würden solche Innovationen nie eingeführt werden. Der Grund dafür ist, dass die derzeitigen Regularien entstanden sind, bevor in Kategorien wie „Krankheitsunterbrechung vor Manifestation“ auch nur zu denken war. Wir haben heute ein Erstattungssystem – sowohl bei Therapien als auch bei Behandlungssystemen in Sachen Arzneimittel – das über zehn Jahre alt ist und der Innovation in einigen Krankheitsentitäten nicht ansatzweise gefolgt ist. Hier ist eine Neuausrichtung dringend nötig, aber auch schnell machbar, wenn man es denn von der politischen, wie gesellschaftlichen Seite will. Doch sollte man, wie Herr Piwernetz sagt, zielorientiert handeln und dabei vor allem darauf achten, zuerst ein strategisches Ziel zu formulieren und dann den Weg zu beschreiten, auf dem dieses am besten zu erreichen ist.

Herr Knupfer, an welchen Stellschrauben sollte man aus der Sicht einer großen Krankenkasse drehen, um das zu bekommen, was Ihre Krankenkasse im Namen trägt: Gesundheit?
Knupfer: Tatsächlich ist dafür ein grundsätzlicher Strategie-wechsel notwendig. Wenn ich an die vielen Diskussionen im Gesund-
heitssystem zurückdenke, die ich persönlich und über Medien in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfolgt habe, handelte es sich bisher immer um Taktikdiskussionen, die natürlich zum jeweiligen Zeitpunkt, an denen sie geführt wurden und werden, ihre Berechtigung haben. Da gehört eben auch das von Frau Brakmann angeführte AMNOG dazu, ebenso das schon angesprochene Pay-for-Performance-Modell oder – immer wieder – das Thema Sektorengrenzen und Vergütung, sei es ambulant und stationär oder beides zusammen. Was wir indes nicht führen, ist eine wirkliche Strategiediskussion.

Nun wird sicher gleich von so manchen Bewahrenden eingewandt: Es sei doch eines der besten Systeme weltweit und wir seien damit ganz gut weg gekommen in der Pandemie.
Knupfer: Das ist ein sehr wohlwollendes Urteil, das viele Facetten schlichtweg ausblendet. Angefangen bei mangelnder Bevorratung von Schutzkleidung und Masken bis hin zur vom Bundesrechnungshof nicht entkräftigten – und auch in ihrer Fachzeitschrift vom Autorenteam um Professor Schrappe – erhobenen Vorwurf, dass sich einige Krankenhäuser während der Corona-Krise wohl saniert haben und ihre wirtschaftliche Situation in der abgelaufenen Periode sogar verbessern konnten.

Woran liegt das?
Knupfer: Die Amerikaner würden sagen: „throw money at the problem“. Genau das haben wir während der Corona-Krise getan – in rauen Mengen. Natürlich ist hier generell keine Schuldzuweisung angebracht, weil das der einzige schnelle Weg war, Schlimmeres zu verhindern. Dennoch müssen wir erkennen: Hätten wir vorher eine auf Evidenz basierte Strategie gehabt, hätten wir uns viele Milliarden Euro sparen können, die wir besser in die Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems investieren hätten sollen.

„Hätte, hätte, Fahrradkette“, würde Peer Steinbrück dazu sagen.
Knupfer: Aus diesen ständigen Konjunktiven müssen wir lernen. Wir müssen jetzt die Kräfte finden und bündeln, die tatsächlich bereit sind, ein Stück Neuland zu betreten. Dazu braucht es aber auch mutige Politiker, die das ermöglichen, indem sie die richtigen Weichen stellen. Das muss nicht heißen, dass man von Grund auf das gesamte Gesundheitssystem einreißt und neu aufbaut, das wird nicht funk-tionieren.
Doch geht es hier um eine Neuausrichtung.
Knupfer: Das ist mir schon bewusst. Bei einer Neuausrichtung handelt es sich um eine Langfrist-Strategie, die den sprichwörtlichen gordischen Knoten – gebildet aus einem sehr komplexen und interdependenten System aus Finanzierung, Geschäftsbeziehungen und Budgetallokationen – nicht zerschlagen, sondern entwirren und neu ordnen muss.

Wie und wo beginnen?
Knupfer: Nehmen wir das eben von Frau Brakmann in die Rede gebrachte Beispiel der personalisierten Medizin, die hinter dem
„Disease Interception“-Ansatz steht. Wenn man diesem Modell eine Chance geben will, muss man den Mut aufbringen – und mein Haus würde das unter bestimmten Voraussetzungen tun – ein Pilotprojekt aufzusetzen. So kann man – anstatt gleich das ganz große Rad zu drehen und in die Regelversorgung einzugreifen – versuchen, in einer dafür geeigneten Region eine entsprechende Intervention zu starten. Da wären wir bei einem Modellvorhaben à la Kinzigtal: Dazu wird vorher der Gesundheitszustand der in dieser Region lebenden Menschen erhoben, dann die für diese Population benötigte Geldmenge vor der Intervention aus den uns zur Verfügung stehenden Abrechnungsdaten definiert sowie ein gemeinsames Ziel und eine geeignete Strategie definiert. Dann werden Partner gesucht, die bereit sind, die Versorgung in einer solchen Region zu übernehmen und nach anderen Mechanismen als bisher zu orchestrieren.

Frau Brakmann, könnten Sie sich das Modell vorstellen, das Herr Knupfer skizziert hat? Regionale Verantwortung mit dem Ansatz der Gesundheitserhaltung statt eines Reparaturbetriebs?
Brakmann: Wir können auf jeden Fall einen Part übernehmen. Doch wird das nur funktionieren, wenn die Politik den personalisierten Therapien die Chance dazu gibt. Das bisherige AMNOG ist als Bewertungssystem darauf ausgelegt, innovativen Arzneimitteln über den Vergleich zu bestehenden Therapien einen wie auch immer gearteten Zusatznutzen zuzugestehen. Das System versagt jedoch bei der absolut personalisierten Form der Medizin des „Disease Interception“-Modells, bei der eine Erkrankung unterbrochen wird, bevor sie im klassischen Sinne ausbricht. Obwohl das für all die Menschen, die eine entsprechende genetische Prädisposition haben, ein fantastisches Outcome wäre, würde dieser Ansatz in dem Bewertungssystem, das wir heute haben, total durchfallen.

Warum?
Brakmann: Weil wir nie und nimmer den geforderten Zusatznutzen nachweisen können. Gegen welchen Komparator denn? Es gibt doch gar keinen, weil wir einsetzen, bevor die Krankheit ausgebrochen und sich mit den entsprechenden und dann zu therapierenden Symptomen manifestiert hat. Und wie lange müssten diese Studien laufen? Wer diesem Ansatz eine Chance geben will, muss zuallererst bereit sein, im SGB V einen Krankheitsbegriff, besser einen Gesundheitsbegriff einzuführen. Es hat sich zwar in der Rechtsprechung ein Konsens entwickelt, der Krankheit als regelwidrigen Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele begreift, zu deren Wiederherstellung medizinische oder therapeutische Maßnahmen erforderlich sind, doch was macht man, wenn man eingreifen kann, bevor es soweit kommt?

Wenn die Politik hier agieren würde …
Brakmann: … können wir uns sehr gut einen Platz in der Gestaltung eines regionalen Geschehens vorstellen, in der „Disease Interception“ modellhaft eingesetzt und natürlich auch über eine externe Versorgungsforschung evaluiert wird. Ich glaube fest daran, dass die Gesundheitsversorgung besser gestaltet werden kann, wenn alle Beteiligten eng zusammenarbeiten. Wir haben in der Corona-Pandemie zur Genüge bewiesen, dass wir das können! Und wir haben gesehen: Sobald massiv Druck auf ein System ausgeübt wird, funktioniert es,
weil alle Beteiligten mit gutem Willen neue Wege beschreiten und bisher schier undenkbare Kompromisse schließen, um möglichst schnell das Bestmögliche für alle Menschen ermöglichen zu können. Genau diesen Spirit brauchen wir auch, wenn es darum geht, das Gesundheitssystem als Ganzes im Sinne von „Value Based Healthcare“ weiterzuentwickeln, aber bitte weit, bevor es vor die Wand fährt, weil es nicht mehr finanzierbar wird.

Passt ein derartiges Modell in das „Strategiewechsel jetzt“-Konzept?
Piwernetz: Es passt sogar sehr gut. Das war sogar eines der Themen, die wir in unserem Artikel in der letzten Ausgabe von „Monitor Versorgungsforschung“ beschrieben haben. Das Problem ist jedoch weniger die Art der Arzneimittelversorgung oder die Ausgestaltung eines Gesundheitsbegriffs, um vom Krankheitsbegriff weg zu kommen. Die Regionalisierung der Versorgung ist immer nur so gut wie die Player – Krankenhäuser, MVZ, Praxen – vor Ort agieren und immer nur so gut, wie es das regionale Gesundheits-Management ermöglicht und zulässt. Die dazu erforderliche System-Kompetenz ist in manchen regionalen Bereichen noch deutlich ausbaufähig. Das liegt jedoch nicht an den Playern vor Ort, sondern ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich regionale oder gar lokale Gesundheitspolitik in Deutschland eigentlich erst im Aufbau befindet. Darum gilt es, erst einmal regional integrative Versorgungsprozesse zu etablieren, damit die Einrichtungen regionale oder lokale Gesundheitspolitik überhaupt umsetzen können. Gleichzeitig gilt es, die stationäre und ambulante Versorgung unter ein einheitliches Planungs- und Vergütungsdach, das die Wissenschaftliche Kommission für ein modernes Vergütungssystem (KOMV) in ihrem Ende 2019 publizierten, aber durch die kurz darauf über uns alle hereinbrechende Corona-Pandemie nicht groß beachteten Bericht beschrieben hat. Wer allerdings meint, damit schon alle Voraussetzungen für eine bessere regionale Gesundheitsversorgung geschaffen zu haben, irrt. Denn man braucht Gesundheits- und Versorgungsziele nicht nur auf Bundesebene, sondern auch logisch verbundene regionale Ziele, wobei ein Bundesland als regionaler Begriff noch zu weit gefasst ist.

Wer kann so etwas strukturiert in die Wege leiten?
Piwernetz: In unserem kürzlich erschienenen Buch „Strategiewechsel jetzt!“ schlagen wir ein „Nationales Institut für Gesundheit“ vor, das die politischen Vorgaben operationalisieren und koordiniert umsetzen kann.

Noch ein neues Institut?
Piwernetz: Wie man es nennt, ist eigentlich zweitrangig. Wir brauchen aber dringend Koordinatoren, die das methodische Wissen und die Kompetenz haben, bundeseinheitliche Maßstäbe zu definieren und diese dann regional passgenau zu modifizieren. Um beim Beispiel der Corona-Pandemie zu bleiben: Epidemiologie und Infektiologie sind in Bayern die gleiche wie in Schleswig-Holstein. Deswegen braucht man bundeseinheitliche Regeln, die man natürlich – je nach Infektionsgeschehen –  regionalisiert skalieren muss. Das kann nach aktueller Gesetzeslage nicht die Aufgabe des G-BA sein. Die Positionierung nach SGB V und die Satzungen der „Bänke“ führen immer wieder zu Zielkonflikten, welche die unbestrittene Kompetenz der im G-BA agierenden Gruppierungen gegenseitig neutralisieren. Ein „Nationales Institut für Gesundheit“, als Nahtstelle zwischen Politik und G-BA angesiedelt, könnte die politischen Vorgaben operationalisieren, die Definition bundeseinheitlicher Inhalte von Medizin, Pflege, Technik und pharmazeutischer Arzneimittel­therapie koordinieren und dann die regionale Umsetzung methodisch unterstützen. Dazu braucht es als organisatorisches Konstrukt regional aufgebaute Versorgungsketten mit entsprechenden Planungskompetenzen. Es gilt demnach, die Verbindung zwischen bundesorientierter und landesorientierter Gesundheitsversorgung neu zu denken, die gerade in der Corona-Pandemie nicht wirklich gut funktioniert hat.

Herr Knupfer, ist das eine Vision, die Herr Piwernetz beschreibt oder sollte er zum Arzt gehen, wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte?
Knupfer: Wir haben durchaus ähnliche Ideen im Kopf, obgleich wir uns der Thematik
aus unterschiedlichen Sichtweisen nähern. Festhalten sollten wir eines: Wenn wir regionale Gesundheitsversorgung sagen, meinen wir nicht den regionalen Raum eines Bundeslandes. Nehmen wir das, in dem ich lebe und arbeite: Sachsen. Die Krankenhausdichte ist in Nordrhein-Westfalen anders als bei uns. Darüber braucht man nicht diskutieren. Stellt sich die Frage, ob durch den sich hier zeigenden Unterschied die in NRW lebenden Bürger besser versorgt sind als die Menschen, die bei uns in Sachsen wohnen? Das glaube ich erst einmal nicht, weil es dafür keine mir bekannten Indikatoren gibt. Nun lohnt jedoch ein detaillierterer Blick ins Land: Die Krankenhausdichte in einer Großstadt wie Dresden oder Leipzig ist ganz anders als die in der Lausitz oder im Erzgebirge. Dennoch ist die Versorgung sichergestellt, wenn zum Beispiel ein in Sachsen lebender Mensch eine kompetente Herzklinik benötigen sollte. Davon gibt es in Sachsen zwei, im benachbarten Thüringen sogar drei, obwohl das Bundesland weniger Einwohner hat als Sachsen. Das heißt: Die Versorgung ist zumindest in dieser Indikation sichergestellt.

Was sagt uns das?
Knupfer: Dass wir vom tatsächlichen Bedarf, nicht vom Angebot her denken müssen. Ich bin keiner, der bisher auffällig wurde, indem ich die Schließung von Krankenhäusern oder den Abbau von Betten gefordert habe. Doch müssen wir fair und zukunftsorientiert darüber diskutieren dürfen, ob ein Krankenhaus in Olbernhau im mittleren Erzgebirge künftig die gleiche Rolle und Funktion wie bisher haben soll. Wir haben es in einer solchen Region möglicherweise mit einem Überangebot oder einer ineffizienten Krankenhausstruktur zu tun, die womöglich nur deshalb entstanden ist, weil sie eine defizitäre Facharztstruktur auszugleichen versucht.

Oder weil die dort lebenden Bürger nicht auch noch auf ein Krankenhaus verzichten wollen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch einsehen und zugestehen, dass alle Protagonisten des Gesundheitswesens versuchen, die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das ist in unserem Gesellschaftssystem auch legitim.
Knupfer: Sicher ist es das. Nur müssen wir, wenn wir echte Zukunftsmodelle andenken und umsetzen wollen, die Politik ins Spiel bringen, die das schwierige Ziel umsetzen muss, einen fairen Ausgleich zwischen ökonomischen Interessen einerseits und versorgerischen Interessen andererseits zu schaffen – auf Bundes- wie Landes- und Regionen-Ebene.

Was schlagen Sie vor?
Knupfer: Wir brauchen ein neues Logikmodell für unser Gesundheitssystem. Und wir müssen uns branchenübergreifend – alle wichtigen Player im Gesundheitswesen und natürlich auch die Pharmaindustrie – an einen Tisch setzen, um zukunftsfähige Lösungen zu finden. Da muss man nicht immer gleich die Welt neu erschaffen wollen, sondern sollte konkrete Modellvorhaben in einer Region definieren, die nötigen politischen Voraussetzungen dafür schaffen, dann umsetzen und zu Projektende sauber evaluieren.

Auch auf die Gefahr des Scheiterns hin?
Knupfer: Natürlich. Wir brauchen eine neue Kultur der Fehler und des Scheiterns, denn wir werden ganz sicher Lehrgeld zahlen. Doch wir lernen auf diesem Weg. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ist für mich eindeutig, dass wir von einem leistungs- zu einem wertebasierten Gesundheitssystem kommen müssen – das ist, um mit den Worten von Kanzlerin Merkel zu sprechen – alternativlos. Klar ist eines: Wir werden Fehler machen. Aber: Wir werden daraus lernen und werden das Gelernte und für gut Befundene skalieren können.
War denn Corona nicht Weckruf genug?
Knupfer: Wir brauchen den echten Mut zum Wechseln, zum Rule Breaking. Dabei tun wir uns alle schwer. Doch wenn wir an die unausweichlichen Auswirkungen der Demografie und möglicher kommender Pandemien denken, sollten wir jetzt handeln, anstatt handeln zu müssen, wenn die Not am größten ist. Zukunft aktiv zu gestalten, ist doch immer die bessere Wahl.

Wenn die Industrie ein derartiges Projekt angehen würde, würde sie erst einmal ein adäquates Budget für Forschung und Entwicklung schaffen, um damit eine Innovation – gleich welcher Art – in ein System bringen zu können. So etwas gibt es jedoch leider in unserem Gesundheitssystem nicht. Wie könnte man denn hin zu einer Innovationsförderung im Gesundheitssystem kommen?
Brakmann: Der Innovationsfonds wäre durchaus ein probater Ansatz, nur ist er leider in der Struktur des Innovationsausschusses und des G-BA angesiedelt.

Wie kommen wir zu einer Innovationskultur?
Brakmann: Ein Innovationsschub kann derzeit eigentlich nur auf eine Art und Weise passieren: Man nimmt ein Instrument, wie das des Innovationsfonds, und gestaltet dessen Governance anders aus, damit er unabhängiger von den bisher agierenden Interessengruppen wird. Das wäre dann ein
echter F&E-Ansatz für das gesamte Ge-
sundheitssystem.

Nun weiß Herr Knupfer natürlich ganz genau, dass es im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung kein F&E-Budget gibt.
Knupfer: Doch müssen wir darüber diskutieren, wie man insgesamt an die Thematik herangehen will. Zurzeit stehen die Finanzierungsgrundlagen auf unserer Seite einem derartigen Weg in die Zukunft im Weg.

Ein Beispiel?
Knupfer: Nehmen wir die chronische Erkrankung eines Bluter-Patienten. Eine Krankenkasse bezahlt pro Jahr rund 120 bis 130.000 Euro – pro Patient. Unabhängig von der ethisch-moralischen Diskussion, die man nie außer Acht lassen darf, können wir trotz des hohen finanziellen Invests in die bisher vorhandenen therapeutischen Maßnahmen nie mehr als – im besten Falle – den Status quo erhalten. Volkswirtschaftlich betrachtet werden wir damit nie ein Pareto-Optimum erreichen können.
Wie dann?
Knupfer: Indem wir dahin kommen, outcome- und werteorientiert zu denken. Wenn es denn wirklich möglich wäre, Medikamente einzusetzen, die tatsächlich in der Lage sind, bestimmte chronische Erkrankungen zu heilen oder gar Krankheiten zu vermeiden, müssen wir diese Chancen nutzen. Die schnelle Entwicklung der Corona-Impfstoffe war ein ähnliches Beispiel: Egal was es gekostet hat, jeder Invest dafür was absolut richtig und wichtig – von der menschlichen, gesellschaftlichen wie auch ökonomischen Seite.

Wenn wir Value-Based denken wollen, heißt das auch: Wir müssen mehr denn je messen. Dazu braucht es Daten. Die Kassen haben sie, die Industrie nicht, weil die entsprechenden Datenzugänge über das Datentransparenzgesetz nur berechtigten Institutionen zugebilligt werden, die die Pharmaindustrie außen vorlässt.
Knupfer: Ich habe die tiefe Überzeugung, dass wir, wenn wir mit Daten künftig so umgehen wie bisher, all die eben diskutierten Themen vergessen können. Ich habe einmal einen provokanten Satz gehört, der besagte, dass in zehn Jahren der Datenschutz die häufigste Todesursache in diesem Land sein wird. So langsam überlege ich mir, ob das nicht schon jetzt der Fall sein könnte.

Nur weiß das keiner.
Knupfer: Datenschutz soll dem Schutz des Menschen dienen, sich jedoch nicht gegen die Menschen richten. Auch dieses Thema gehört komplett neu gedacht.

Wie sieht die Forderung der Industrie aus?
Brakmann: Der Datenzugang ist nicht nur wichtig, sondern auch vertrauensbildend. Alle Beteiligten im Gesundheitssystem müssen die gleiche Datengrundlage haben, um das Bestmögliche für alle Menschen und Patienten zu erreichen. Daten helfen dabei, neue, zunehmend personalisierte Therapien zu entwickeln und bereits zugelassene Therapien noch besser an die Bedürfnisse der Patienten anzupassen.

Stellen Sie Ihre Daten allen zur Verfügung?
Brakmann: Durchaus. Wir sind hier in Vorleistung gegangen und stellen unsere Forschungsdaten seit einigen Jahren schon seit 2014, als eines der ersten Unternehmen über die Universität Yale – über das Projekt YODA (Yale Open Data Access) – zur Verfügung. Jeder, der ein berechtigtes Interesse hat, kann unsere kompletten Forschungsdaten analysieren. Das ist ein Akt der Vertrauensbildung, den wir uns auch von anderen Datenhaltern wünschen, wie etwa den Kassen. Das wäre natürlich im Sinne der Patienten, aber auch im Sinne des Systems.

Datenzugang ist eine Ihrer Forderungen?
Piwernetz: Sicher. Ergänzend zu den Daten brauchen wir allerdings auch Methoden und Modelle, um diese Daten so aufzubereiten und zu verbinden, dass Leistungsträger in der Gesundheitsversorgung zeitnah und entscheidungsunterstützend darauf zugreifen können.
Woher sollen diese kommen?
Piwernetz: Die Daten müssen direkt aus der Gesundheitsversorgung kommen. Die e-Health-Initiative des Bundesgesundheits-
ministeriums ist begrüßenswert, allerdings sollte gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode ein Masterplan erstellt werden, der die verschiedenen Aktivitäten und Gesetze logisch und organisatorisch verbindet. Diesem Masterplan folgend könnten BMG und BMBF an einem Strang ziehen, die Umsetzung wesentlich beschleunigen und die enormen Mittel viel wirtschaftlicher einsetzen. Der Masterplan sollte auch die Anforderungen an Datenschutz und Vertraulichkeit umfassend regeln. Darauf haben Patienten ein verbrieftes Recht. Grundsätzlich definieren die Abläufe in der Gesundheitsversorgung die Spezifikationen für die Produkte der Medizininformatik und nicht umgekehrt. Deshalb fordern wir ja, dass der Strategiewechsel jetzt erfolgen muss! Die Zeit drängt, wenn „wir“ die Entwicklungen noch einigermaßen in der Hand behalten wollen. Es hat alles schon viel zu lange gedauert. Sonst bestimmt am Ende der Markt das Tempo, er wartet nicht!

Brakmann: Dazu sollte man klarstellen, dass es sich bei jedweder Forschung – speziell bei der Arzneimittelforschung – um einen Generationenvertrag handelt. Das heißt, dass die Umsätze von heute die Forschung von morgen finanzieren. Das gilt für Reserveantibiotika ebenso wie für Covid-19-Impfstoffe. An diesen ist von vielen Unternehmen – auch von uns – geforscht worden. Das war nur möglich, weil hier bereits verdientes Geld eingesetzt wurde. Und das übrigens ohne vorher nach einer Return-on-invest-Rechnung zu fragen. Was ich damit sagen will: Wir alle müssen uns ein Stück weit von liebgewonnenen Ansichten und teilweise auch Vorverurteilungen verabschieden, um gemeinsam zu einem neuen Denken zu kommen. Wenn wir auch weiterhin auf unseren alten Standpunkten und Sichtweisen beharren, werden wir uns auch nicht weiterbewegen. Insofern sollten wir, Herr Knupfer, einfach mal zeigen, dass das geht.

Knupfer: Wir sind bereit, kooperativ an ein
derartiges Pilotprojekt heranzugehen, zu denen
in meinem Verständnis natürlich auch Pharma-unternehmen gehören. Wer in die Zukunft denken will, braucht den stationär und ambulanten Sektor und den Arzneimittelbereich an einem Tisch, um gemeinsam den Beweis anzutreten, ob man sich tatsächlich einem Pareto-Optimum annähern kann. Meine Arbeitshypothese lautet, dass wir mit den vorhandenen Budgets gemeinsam und kooperativ eine bessere Versorgung für eine Region hinbekommen. Dafür müssen alle Partner bereit sein, in ein kalkuliertes Risiko zu gehen, um die nötigen Erfahrungen zu sammeln, zu bewerten und – wenn die Evaluation positiv ausfällt – zu skalieren und umzusetzen. <<

Frau Brakmann, die Herren Knupfer und Piwernetz, danke für das Gespräch.

Das Interview führte MFV-Chefredakteur Peter Stegmaier.

 

Zitationshinweis:
Brakmann, D., Knupfer, S., Piwernetz, K., Stegmaier, P.: „Wir brauchen ein neues Logikmodell für unser System“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/21), S. 14-20. http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2325

Ausgabe 04 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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