KOMV-Konzept der „Partiellen Harmonisierung“
http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2326
>> Prof. Dr. Wolfgang Greiner, einer der 13 Wissenschaftler, die vom Bundesgesundheitsministerium im Sommer des Jahres 2018 in die wissenschaftliche Kommission berufen wurden, sieht die Sachlage etwas anders. In seiner in den „Beiträgen und Analysen – Gesundheitswesen aktuell“ (2) des bifg (Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung) erschienenen Zusammenfassung bringt er ein Gutachten aus Frankreich zur Sprache, das eine ähnliche Aufgabe wie die KOMV hatte. Eine der französischen Hauptergebnisse sei gewesen, dass es nicht die eine optimale Honorierungsform gibt, sondern vielmehr ein „sinnvoll zusammengestellter Mix aus Einzelleistungsvergütun-
gen, Pauschalen (insbesondere für die Versorgung von chronisch Erkrankten) und Komponenten qualitätsbasierter Zahlungen“ angestrebt werden soll. Was aber nun überhaupt nicht heißt, dass eine „Einheitsgebührenordnung von GOÄ und EBM vom Tisch“ sei, wie Gassen orakelte.
Vielmehr plädiert Greiner sehr wohl für ein einheitliches Vergütungsrecht für ambulante ärztliche Leistungen, das nicht nur „mit einer Reihe von Vorteilen im Hinblick auf die Anforderungen an ein modernes Vergütungssystem“ verbunden sei, sondern auch „langfristig wirtschaftliche Synergieeffekte“ enstünden, da nicht mehr zwei Leistungsverzeichnisse mit darauf aufbauenden Kalkulationssystemen parallel weiterent-
wickelt werden müssten. Auch könnten damit Wissen und Daten zusammengeführt und so die Kostenkalkulation verbessert werden, sodass „finanzielle Fehlanreize bei der Behandlungsentscheidung reduziert und die Versorgungsqualität verbessert“ sowie die „Transparenz über das Leistungsgeschehen und die Praktikabilität im medizinischen Alltag“ erhöht werden.
Greiners Ausführungen zufolge wäre jedoch ein einheitliches Vergütungsrecht „auch
mit erheblichen Herausforderungen“ verbunden. Angesichts des unterschiedlichen Vergütungsniveaus in der GKV und dem privatärztlichen Be-
reich würde infolge einer Vereinheitlichung entweder das
aktuelle ärztliche Honorarvolumen sinken oder müssten zur Aufrechterhaltung desselben
zusätzliche Mittel
durch GKV-Beitrags-erhöhungen oder einen Bundeszuschuss aus Steuermitteln erfolgen; der schon praktisch schwierig umzusetzende kompensatorische Zugriff auf Selbstzahler oder Unternehmen der PKV sei demgegenüber verfassungsrechtlich umstritten. Und auch wenn ein insgesamt gleichbleibendes Vergütungsniveau in der ambulanten ärztlichen Versorgung sichergestellt würde, käme es zu beträchtlichen finanziellen Verschiebungen. Greiner: „Tendenziell würden die ärztlichen Honorare in der Stadt ab und im ländlichen Bereich zunehmen. Innerhalb der Ärzteschaft würde eine Umverteilung von eher technischen zu eher konservativ tätigen Arztgruppen stattfinden.“
Zudem stelle sich die Frage nach dem Erhalt von im privatärztlichen Bereich nicht greifenden GKV-Steuerungsmechanismen, wie der Budgetierung (von MGV-Leistungen), der Regionalisierung (regionale Euro-Gebührenordnung) und der KV-individuellen Honorarverteilungsmaßstäbe. Und nicht zuletzt würde es auch bei einheitlichen Preisen kaum zu verhindern sein, dass sich ein Sekundärmarkt bildet, auf dem Patienten mit entsprechender Zahlungsbereitschaft ärztliche Leistungen zu höheren Preisen kaufen, etwa zur Vermeidung von Wartezeiten. Viele Vorteile einer Vereinheitlichung der Vergütung könnten dadurch konterkariert werden. Auch verfassungs- und unionsrechtlich sei es strittig, ob ein kategorisches Verbot einer abweichenden Vergütung zu rechtfertigen wäre.
Das Konzept einer partiellen
Harmonisierung
Das KOMV-Gutachten schlägt daher das Konzept einer partiellen Harmonisierung vor, das die positiven Aspekte einer Vereinheitlichung des Vergütungsrechts partiell aufgreift, dabei jedoch den geschilderten Herausforderungen Rechnung trägt und – so Greiner – „mit keinen verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken verbunden“ ist. Dabei werde unterschieden zwischen denjenigen Bausteinen einer Gebührenordnung, die sinnvollerweise gemeinsam (weiter)entwickelt werden sollten, sowie Bausteinen, bei denen die Unterschiede zwischen vertrags- und privatärztlicher Vergütung erhalten bleiben. So differenziert der vorliegende Vorschlag zwischen der Definition der ärztlichen Leistungen (Leistungslegendierung) und der relativen Kostenbewertung von Leistungen einerseits – das heißt, den in Faktoren ausgedrückten Kostenverhältnissen von ärztlichen Leistungen im Vergleich zueinander – und den Preisen für diese Leistungen andererseits.
Der Vorschlag sieht weiter vor, dass die gemeinsame Leistungslegendierung (GLL) grundsätzlich das gesamte Leistungsspektrum der ärztlichen Behandlung umfassen soll, wobei die Leistungslegendierung von der nachgelagerten Frage der Finanzierung beziehungsweise Kostenerstattung (durch GKV, PKV oder Beihilfe) unabhängig sein soll. Weiters sollen neben den Leistungen, die aktuell im EBM und in der GOÄ enthalten sind, beispielsweise auch Leistungen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung, durch sozialpädiatrische Zentren oder psychiatrische Institutsambulanzen enthalten sein. In Selektivverträgen könnten weiterhin gesonderte Regelungen getroffen werden. Greiner: „Auf Grundlage der GLL wird eine Gemeinsame Relative Kostenkalkulation (GRK) erstellt.“ Diese solle basierend auf Kostendaten die relativen Bewertungen der Leistungen im Vergleich zueinander festlegen. Als Ergebnis dieser Bewertung werde jeder Leistung der GLL ein Bewertungsfaktor zugewiesen, der die Kostenverhältnisse im Vergleich zu einer zu definierenden Standardleistung angibt. Über die (absoluten) Preise der Leistungen erfolge jedoch in diesem Schritt noch keine Aussage, diese werden auf der getrennten Ebene innerhalb des jeweiligen Systems (vertrags-/privatärztlicher Bereich) bestimmt.
Während die Leistungslegendierung und die relative Kostenkalkulation von gemeinsamen Gremien der vertrags- und privatärztlichen Versorgung entwickelt werden, sollen nach Meinung der Gutachter die Preise auf dieser Grundlage weiterhin in dualen Verhandlungsregimen (gemeinsame GKV-Selbstverwaltung beziehungsweise PKV/BÄK) ausgehandelt werden. Dabei können dem Gutachten zufolge neben den Kosten auch „regionale, fachspezifische, mengenbezogene und andere – übergeordnete – Gesichtspunkte“ einfließen, insbesondere „der medizinische Nutzen beziehungsweise die Förderungswürdigkeit einer Leistung oder das generelle Vergütungsniveau“. Mit diesem Vorschlag könnten Unterschiede zwischen der vertrags- und privatärztlichen Vergütung von den Verhandlungspartnern gesteuert und bewusst erhalten bleiben (Abb. 2).
Ergänzend besteht, wie Greiner schreibt, weiterer Handlungsbedarf an verschiedenen Stellen im System der ambulanten Vergütung. So sollte unter anderem den Fehlanreizen, die mit einer überwiegend pauschalierten oder überwiegend an Einzelleistungen orientierten Vergütung verbunden sind, durch eine „stärkere Mischvergütung aus Einzel- und Pauschalleistungen und durch die Kombination mit qualitätsorientierten Vergütungselementen entgegengewirkt“ werden. Zudem sollte von dem nur historisch zu erklärenden Bezug auf das Quartal als Abrechnungszeitraum in der GKV teilweise Abstand genommen werden. Die Quartalsbetrachtung sei insbesondere problematisch, wenn das Budget am Quartalsende erschöpft ist und eine erbrachte Leistung aus ärztlicher Sicht nicht mehr in voller Höhe vergütet wird.“ <<
Literatur
1: https://www.kbv.de/html/1150_44046.php
2: https://www.bifg.de/media/dl/Gesundheitswesen%20aktuell/2020/GWA%202020-Kapitel%20Greiner.pdf; doi: 10.30433/GWA2020-14
Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „KOMV-Konzept der ,Partiellen Harmonisierung´“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/21), S. 22-23. http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2326