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10. MVF-Kongress: Theorien der Versorgungsforschung

07.08.2021 09:45
Aus internationaler Perspektive gesehen, ist die deutsche Versorgungsforschung erstaunlich untertheoretisiert, erklärten die beiden Professoren Braithwaite und Mannion im Titelinterview von MVF 03/21. Und Professor Pfaff, einer der Wegbereiter der Versorgungsforschung in Deutschland, gibt den beiden im Titelinterwiew dieser Ausgabe recht. Anlass genug, den 10. Fachkongress von „Monitor Versorgungsforschung“ diesem hoch interessanten Thema zu widmen. Um Wissenschaft und Praxis zueinander zu bringen, wird in Kooperation mit dem Bundesverband Managed Care (BMC) am 7. Dezember 2021 in einer Präsenzveranstaltung mit dem Titel „Theorie wagen“ im Scharounsaal der AOK Nordost diskutiert, wie es denn in Deutschland um die Theorien der Versorgungsforschung und ausgehend davon um die Theorien über unser Gesundheitssystem bestellt ist.

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>> Die deutsche Versorgungsforschung ist in den letzten 20 Jahren ganz schön weit gekommen – 14 davon begleitet durch „Monitor Versorgungsforschung“: Sie hat zuerst Methoden konsentiert, hat Kongresse durchgeführt und wurde durch den Innovationsfonds massiv gefördert. „Versorgungsforschung hat
sich in den vergangenen zwei Dekaden auch in Deutschland etabliert“, sagt MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski. Dennoch wachse das Gefühl, dass Methoden  alleine nicht ausreichen und vor allem, dass sie nicht alles erklären können, was Versorgungsforschung in ihrem doch sehr breiten Arbeitsfeld erforschen soll. Zunehmend sei es entscheidend, Ursache und Wirkung und die dabei zutage tretenden Kausalzusammenhänge zu verstehen und diese als Theorie zu formulieren, um zu besseren Erklärungen und Prognosen zu kommen.
„Wir sind weit gekommen, müssen uns
jetzt aber weiter wissenschaftlich verbes-
sern“, fordert Professor Dr. Holger Pfaff, der Kongresspräsident des 20. DKVF, im Titelin-
terview dieser Ausgabe. Sein Petitum: „Er-
folgt eine Versorgungsintervention ohne Rückgriff auf eine Theorie, befinden wir uns im Trial-and-Error-Modus. Es kann sein, dass man die richtige Idee hatte und diese durch die Evaluation bestätigt wird. Es kann aber auch sein, dass sich ein negatives Ergebnis ergibt. In beiden Fällen kann man ohne Theorie nicht richtig erklären, warum die Intervention funktioniert hat oder warum nicht.“
Während Pfaff von „Wirkmodellen“ spricht,
die für eine geplante Intervention aus übergeordneten Theorien abzuleiten sind, kommt Dr. Stefan Knupfer (AOK Plus) in einem gemeinsamen Interview (S. 22 ff.) mit Dr. Dorothee Brakmann (Janssen) und Dr. Dr. Klaus Piwernetz (Mitautor von „Strategiewechsel jetzt!“) zu der Aussage: „Wir brauchen ein neues Logikmodell für unser System.“
Doch nützt ein Logikmodell recht wenig,
wenn es weder Rahmen noch Ziel hat. Den Rahmen wiederum bildet die Bedarfsplanung, die den Bedarf bisher ausgehend vom Status quo fortschreibt, was aber wenig mit dem realen Versorgungsbedarf zu tun hat, der sich aus den tatsächlichen und zudem regional unterschiedlichen Einflüssen aus Morbiditätslast und Demografie ergibt. Nur wer den tatsächlichen Bedarf kennt, kann darauf aufsetzend Versorgungsziele entwickeln, die über zu entwickelnde Indikatoren zur Messung der (regionalen) Erfüllungsgrade und eines erforderlichen (ebenso regionalen) Monitorings zur Verbesserung der Versorgung beitragen können.
Dazu muss die Versorgungforschung ein
Logik- oder Wirkmodell im Sinne einer Theorie entwickeln, die Ursache und Wirkung und deren Kausalzusammenhänge beschreibt. Das
forderten schon 2010 die DFG-Stellungnahme zur „Versorgungsforschung in Deutschland“ und 2016 das DNVF-Memorandum IV zur „theoretischen und normativen Fundierung der Versorgungsforschung“: „Eine eigene Theo-
riebildung in der Versorgungsforschung ist anzustreben.“ Eben dieses Vorgehen empfahl auch der ehemalige Expertenbeirat* des
Innovationsausschusses, der damit eine
„Innovationsförderung zur Schaffung generalisierbaren Wissens“ anregen wollte: „Viele Interventionen stellen sich in der Evaluation als unwirksam heraus, weil versäumt wurde, sich über die konkreten Wirkungen der Maßnahme im Detail Gedanken zu machen.“
Zur Erhöhung der Wirksamkeit einer Maßnahme/Intervention rieten die Experten zu Wirkmodellen, die „das Wissen über das Funktionieren von lokalen und allgemeinen Gesundheitssystemen wie auch die Erfahrungen aus früheren vergleichbaren Interventionen“ integrieren und so die Chance erhöhen, dass eine innovative Intervention die gewünschten Effekte hat (Dixon-Woods et al., 2011). Wirkmodelle könnten im einfachen Fall die Form einer linearen Ursache-Wirkungs-Kette haben, aber auch – wie bei dem „Theory of Change“-Ansatz – komplexe Rückkopplungsschleifen zwischen zahlreichen Variablen und Interventionskomponenten beinhalten.
Wie steht es um die Theorien der Versor-gungsforschung oder gar des Gesundheitssystems? Das soll anlässlich des 10. MVF-Fachkongresses erst auf der Metaebene, dann sehr praktisch anhand von Fallbeispielen einiger Lotsensysteme, die vom Innovationsfonds gefördert wurden, analysiert werden. <<

Mögliche, anzuwendende Modelle:
aus: Empfehlungen des ehemaligen Expertenbeirats des Innovationsausschusses, siehe
https://bit.ly/3ra2vBV


Logik-Modell
Logik-Modelle können als Teil des Logical Framework Approach aufgefasst werden. Man geht im Rahmen des Logik-Modells davon aus, dass Aktivitäten Outputs bewirken, die den eigentlichen Zweck der Intervention (purpose) hervorrufen und die wiederum die Langzeit-Outcomes beeinflussen (Gasper, 2000; Joly et al., 2007). Im Kern entspricht das Logik-Modell der Grundstruktur des Throughput-Modells der Versorgungsforschung. Nach diesem Modell ist der Output das konkrete Ergebnis der Kombination von Ressourceninput und Versorgungsprozessen. Diese wiederum beeinflussen auf lange Sicht die eigentlich interessierenden Versorgungsoutcomes (Schrappe & Pfaff, 2016). Die Logik-Modelle bestehen oft aus einer entsprechenden linearen Ursache-Wirkungs-Kette (Watson et al., 2009; Joly et al., 2007). Eine Methode innerhalb des Rahmens des Logik-Modells ist die Logframe-Matrix. In dieser Matrix wird für jede Ebene der Ursache-Wirkungs-Kette (Input, Aktivitäten, Output, verschiedene Outcomes) die dahinter stehenden zentralen Annahmen, die zur Messung nötigen objektiven Indikatoren und die zur Messung der Indikatoren nötigen Datenbasen sowie die Risiken und Umsetzungsverantwortlichen ermittelt (Couillard et al., 2009; Goeschel et al., 2012).

Theory of Change
Der „Theory of Change“-Ansatz ist weniger schematisch aufgebaut wie das Logik-Modell. Im Unterschied zum Logik-Modell, dem ein rigides Strukturschema (z. B. Input->Aktivitäten->Output-> Outcome) und ein lineares Grundmodell zugrunde liegt, setzt der ToC-Ansatz an den konkreten Kausalmechanismen und -pfaden an, ist flexibler, braucht sich an keine vorgefertigten Kausalstrukturen halten und lässt auch multiple und nicht-lineare Zusammenhänge mit Feedback-Schleifen als Möglichkeit zu (De Silva et al., 2014). Dadurch wird der ToC-Ansatz – wie seine Vertreter betonen – in vielen Fällen den in der Realität vorzufindenden Kausalmechanismen besser gerecht. Hinzu kommt, dass der ToC-Ansatz in vielen Fällen vorsieht, dass die einzelnen Kausalpfade durch Evidenz aus empirischen Studien abgesichert sein sollten (De Silva et al., 2014).

Ausgabe 04 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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