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„Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“

07.08.2021 10:00
Im Vorfeld des 20. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung (06.-08. Oktober 2021) sprach „Monitor Versorgungsforschung“ mit dem Kongress-Präsidenten Prof. Dr. Holger Pfaff, der unter anderem fordert, dass die „Versorgungsforschung theorieorientierter“ werden muss. Er bezeichnet die damit zu zündende nächste Entwicklungsstufe „Versorgungsforschung 2.0“. Denn, so Pfaff weiter, die Versorgungsforschung sei in den letzten zwei Dekaden mit einer guten Methodik „weit gekommen“, müsse sich aber jetzt „weiter wissenschaftlich verbessern“, um den Punkt des schwer Erklärbaren – oder bei ganz neuen Ereignissen wie Covid-19 – den Punkt des noch nicht Erklärbaren überwinden zu können. Pfaff im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“: „Dieser Punkt ist jetzt erreicht.“

http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2323

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>> Herr Professor Pfaff, im Titelinterview der letzten Ausgabe von
„Monitor Versorgungsforschung“ haben ihre beiden Kollegen Braithwaite und Mannion recht deutliche Worte gefunden für das, was sie international und auch in Deutschland von der Versorgungsforschung als Wissenschaft erwarten. Zudem wirft Mannion der Versorgungsforschung – speziell der aus deutschen Landen – vor, dass sie untertheoretisiert sei. Ist Ihnen das nicht etwas peinlich?
Nein, Mannion hat Recht. Aus diesem Grund habe ich ihn auch als Keynote-Speaker auf den anstehenden 20. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung eingeladen. Peinlich ist vielleicht, dass Deutschland aus internationaler Sicht eine starke Theorietradition besitzt, diese aber kaum in der Versorgungsforschung sichtbar wird. Doch stehen wir hier nicht alleine da, denn auch die evidenzbasierte Medizin kommt ganz gut ohne Theorie aus.

Wie das?
Jede Wissenschaft hat ihre Methoden. Die Methoden der Versor-gungsforschung basieren meist auf den Methoden der empirischen Sozialforschung und der schließenden, also der induktiven Statistik. Mit diesem Werkzeugkasten an Methoden kommt man schon ziemlich weit. Deswegen werden Versorgungsforscher von Medizinern oft kurz als „Methodiker“ bezeichnet.

Wo ist das Problem?
Man kann mit guten Methoden zwar Thesen testen, das Problem aber ist: Diese Thesen können aus Theorien abgeleitet sein oder eben nicht. Letzteres ist der Fall, wenn Praktiker – wie zum Beispiel Kliniker – eine gute Versorgungsidee haben und diese Idee evaluieren lassen wollen. Theorien als Ausgangs-
punkt der Forschung zu nut-
zen, war zu Beginn der Ver-
sorgungsforschung nicht zwin-
gend notwendig, um zu den notwendigen Erkenntnisfortschritten zu gelangen.

Gerade die Aussage, dass die evidenzbasierte Medizin theorielos sei, wird sicher von Vielen nicht so einfach unterschrieben werden.
Die evidenzbasierte Medizin ist nicht per se theorielos, sie kann auch auf der Basis von Theorien betrieben werden. Fakt ist, dass die Methoden der evidenzbasierten Medizin auch angewandt werden können, ohne irgendeine Theorie haben zu müssen. Es genügt, eine Annahme zu haben, die dann in einer gut durchgeführten randomisierten kontrollierten Studie überprüft wird. Die evidenzbasierte Medizin ist eine sehr gute Methode, mehr nicht. Ihre hohe methodische Qualität verführt geradezu, sich wenig Gedanken über die komplexen theoretischen Zusammenhänge zu machen. Dieser Wahrheit muss man sich einfach stellen, so bitter sie für manchen sein mag.
Macht man es sich vielleicht zu einfach?
Die Wirkzusammenhänge, die gewöhnlich in randomisierten, kontrollierten Studien getestet werden, sind eben relativ einfacher Natur – wie etwa: „A führt zu B“. In der Versorgungsforschung ist die Sachlage oft schwieriger, weil wir es fast immer mit komplexen Interventionen in zudem komplexen und wenig konstanten Umwelten zu tun haben. Um das alles verstehen und dann gut intervenieren zu können, brauchen wir in der Versorgungsforschung mehr theoretisches Wissen über diese Zusammenhänge.

Weil statt exaktem Wissen eine bloße Vermutung reicht, um – etwas despektierlich gesagt – „drauflos“ zu forschen?
Sicher gehen einige Praktiker eher hemdsärmelig an die Sache heran, frei nach dem Motto: „Das ist eine gute Idee, schauen wir mal, was dabei rauskommt.“ Dieses „Trial-and-Error“-Verfahren kann zu ganz innovativen Ergebnissen führen, aber auch zu langen und kostspieligen Versuch-Irrtum-Schleifen mit Endergebnissen, die oft zu spät kommen, weil die Intervention durch den technischen und medizinischen Fortschritt bereits überholt ist.

Der Ansatz scheint bisher doch gar nicht so schlecht funktioniert zu haben, wenn man den Siegeszug der Versorgungsforschung in den letzten 10, 20 Jahren ansieht.
Dies ist auch der Fall. In den ersten zwei Dekaden der Versor-gungsforschung in Deutschland ging es vor allem darum, aus Politik und Praxis kommende Fragestellungen durch gute methodische Forschung zu klären. Nur wird man irgendwann den Punkt des schwer Erklärbaren oder bei ganz neuen Ereignissen wie Covid-19 den Punkt des noch nicht Erklärbaren erreichen: Spätestens dann braucht man Theorie. Dieser Punkt ist jetzt erreicht.

Nehmen wir ein Beispiel: Wie lautet die Theorie bei der Frage, was ein Lotse bringt?
Die werden sie nur schwer finden. Ein internationales Review hat neuerdings neun Funktionen aus der Literatur herausarbeiten können. Generell gilt: Für fast jede Funktion einer Versorgungsstruktur – wie hier dem Lotsen – benötigt man normalerweise eine separate Theorie. Ein Loste kann beispielsweise in erster Linie eine unterstützende Funktion haben. Zur Erklärung dieser Funktion kann man die Theorie der sozialen Unterstützung heranziehen. Ist der Lotse hingegen in erster Linie ein Koordinator, müsste man eine Koordinationstheorie heranziehen, wie zum Beispiel die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas. Und so weiter. Ein Lotse kann und wird jedoch in der Regel verschiedene Funktionen gleichzeitig wahrnehmen, was das Ganze selbstredend komplexer macht.

Demnach bräuchte es ebenfalls eine Theorie des „Metasystems Lotse“, die dann kontext- und/oder indikationsspezifisch unterfüttert werden muss.
Das geht in die richtige Richtung. Wichtig ist vor allem, aus Beob-achtungen heraus eine Theorie zu formulieren oder eine vorhandene Theorie zu ihrer Erklärung heranzuziehen. Das alleine reicht aber noch nicht aus, denn man muss eine Theorie in den Versorgungsforschungsprojekten immer wieder auch auf ihre Gültigkeit hin überprüfen.

Sie legen die Latte aber sehr hoch.
Die Latte lege nicht ich hoch, sondern die Wissenschaft. Wissenschaft ist mehr als nur gute empirische Forschung. Wissenschaft ist gekennzeichnet durch das Wechselspiel von Theorie und Empirie.

Ihre Kernforderung?
Die Versorgungsforschung muss wissenschaftlicher werden. Und zwar nicht nur, um dabei zu helfen, zeitnah eine bessere Versorgung aufbauen zu können, sondern auch um mit den anderen Wissenschaften, die dieses Wechselspiel schon längst beherrschen, gleichziehen zu können. Um das eben genannte Beispiel zu nehmen: Zum Test der These, dass der Lotse eine Unterstützungsfunktion ausübt, müsste man – wie erwähnt – die Theorie der sozialen Unterstützung heranziehen und auf dieser Basis eine Intervention planen, in welcher der Lotse nur diese eine Funktion ausübt. Die dann dazu durchgeführte randomisierte kontrollierte Studie würde einen Test dieser theoretisch unterfütterten These ermöglichen. Eine Bestätigung dieser These hätte dann nicht nur praktische Bedeutung, sondern würde auch die Nützlichkeit der zugrunde gelegten Theorie belegen. So ergibt sich Stück für Stück wissenschaftlicher Fortschritt.

Wenn man dem folgte, müsste man drei Jahre forschen, nur um die Unterstützungsfunktion eines Lotsen praktisch zu testen. Wenn man die neun Funktionen eines Lotsen – es wird sicher auch noch mehr geben – isoliert betrachten würde, wäre man fast 30 Jahre beschäftigt.
Sie müssen das im größeren
Weltrahmen sehen. Wenn sich neun Forschergruppen in der Welt mit jeweils einer der neun Funktionen des Lotsen beschäftigen würden, hätten wir nach drei Jahren ein ungefähres Bild, welche der Lotsen-Funktionen besonders wichtig ist und welche nicht. Dann wissen wir in relativ kurzer Zeit prinzipiell besser Bescheid. Auf dieser Basis könnten dann in Zukunft viel wirksamere Lotsenmodelle entwickelt werden. Wir sind mit diesem Vorgehen zwar am Anfang langsamer, aber am Schluss schneller.

Dazu muss man die möglichen Theorien erst einmal kennen.
Das kommt erschwerend hinzu, weil es relativ viele Theorien gibt und weil nicht jede Theorie jedes Problem löst. Ist ein konkretes Versorgungsproblem gegeben, muss man sich fragen, welche Theorie zur Erklärung dieses Problems in Frage kommt und am besten geeignet ist. Die Versorgungsforschung – vor allem die in Deutschland – hat sich jedoch nicht im hehren Turm der Wissenschaft, sondern aus ganz praktischen Fragestellungen heraus entwickelt.

Zum Beispiel?
So kommen zum Beispiel Kliniker auf Medizinsoziologen zu und fragen, welche Gründe es dafür gibt, dass die Krankenhausärzte die vorhandenen ärztlichen Leitlinien nicht anwenden und was man dagegen tun kann. Zur Klärung dieser Frage reicht das medizinische Körperwissen nicht aus. Das Verhalten von Ärzten zu untersuchen, fällt genuin in den Aufgabenbereich der Soziologie, der Psychologie oder der Verhaltensökonomie. Versorgungsforschung ist in großen Teilen nicht Gesundheitsforschung, sondern Verhaltensforschung.  

So könnte man sicher vieles erklären, wie etwa die Frage, warum es so viele Hüft-OPs gibt oder auf einmal zu wenige Intensiv- und Beatmungsbetten oder zumindest eine beachtliche Diskrepanz in den gemeldeten Zahlen.
Wenn man die entsprechenden Theorien dazu hat, ja. Anreizbasierte Theorien organisationalen Verhaltens könnten zur Beantwortung Ihrer ersten Frage herangezogen werden. Zur Klärung Ihrer zweiten Frage in Bezug auf die korrekte Meldung der gegebenen Versorgungsstruktur kann das Phänomen der reaktiven Messung verwandt werden. Wir wissen beispielsweise aus der empirischen Sozialforschung, dass bei Meldungen, die finanziell oder anderweitig relevant sind, manche Akteure dazu verleitet werden, so zu melden, dass die gewünschte Wirkung, wie zum Beispiel die finanzielle Förderung von Infrastrukturen, eintritt.

Was lernen wir daraus?
Es darf keine interessensensitive Messung von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen in der Versorgung geben. Wer rationale gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen will, braucht Indikatoren, die von den interessengeleiteten Akteuren nicht direkt beeinflusst werden können. Ein solcher Indikator wäre zum Beispiel die auf der Basis von repräsentativen Kohortenstudien ermittelte Covid-19-Inzi-
denzrate. Ein solcher Indikator ist von den Gesundheitsakteuren nicht direkt beinflussbar, die Zahl der gemeldeten Intensiv- und Beatmungsbetten hingegen im Prinzip schon. Auf diesen letztgenannten Punkt hat übrigens der Bundesrechnungshof erst vor kurzem hingewiesen. Wir lernen daraus, dass man als Basis für politische Steuerung eher Indikatoren verwenden sollte, die von den interessengeleiteten Akteuren nicht direkt beeinflusst werden können. Zudem sollten diese Indikatoren am besten von anderen Akteuren erhoben werden.

Zum Beispiel von den Versorgungsforschern?
Zum Beispiel. Oder auch von den Epidemiologen. Ist diese Idealvorstellung der interessenunabhängigen Messung nicht praktikabel, müssen wir uns den Akteuren im Gesundheitssystem konkret zuwenden und ihr Verhalten kritisch analysieren. Das könnte man dann als kritische Versorgungsforschung bezeichnen. Diese ist oft dann gegeben, wenn das Gesundheitssystem und ihre Akteure selbst Gegenstand einer hinterfragenden Untersuchung sind.

Wird sich damit die Versorgungsforschung nicht angreifbar machen?
Evidenzbasierte Kritik muss das Gesundheits- und Medizinsystem aushalten können. Als Wissenschaftler weiß ich aber auch, dass dieser Weg nicht einfach ist, und zwar sowohl für die, die beurteilt werden, als auch für die, die kritisch beurteilen und ihrerseits wieder deswegen kritisiert werden.

Wohlwissend, dass die meisten Institute der Versorgungsforschung in oder an Universitätskliniken angebunden sind.
Wir müssen offen darüber reden. Kritische Versorgungsforschung ist sicher ein zweischneidiges Schwert. Es kann harte Gegenreaktionen geben. Es ist jedoch ein Weg, den die Versorgungsforschung in Zukunft auch gehen sollte, neben vielen anderen Wegen. Die Versorgungsforschung muss lernen, selbstbewusster und unabhängiger zu werden.

Man hat doch schon bei der Public-Health-Szene gesehen, was passierte, als sie eine eigenständige „School of Public Health“ außerhalb der „School of Medicine“ werden wollte.
Ja, das ist richtig. Die Idee, in Deutschland wie in den USA „Schools of Public Health“ außerhalb der „Schools of Medicine“ zu etablieren, hat sich nicht richtig durchsetzen können. Darum plädiere ich dafür, einen vorsichtigen Weg zu gehen, der das erklärte Ziel hat, sich als eigenständige Versorgungswissenschaft an den Universitäten und Medizinischen Fakultäten zu etablieren.

Hand aufs Herz: Das Gros der bisherigen Versorgungsforschung ist nicht gerade ein Gamechanger oder gar ein Systemsprenger, oder?
Aus meiner Sicht war es ein wichtiger erster Schritt, mit Hilfe der Versorgungsforschung das bestehende System zu optimieren. Wenn wir das auf breiter Basis schaffen, haben wir schon mehr erreicht als früher denkbar war. Doch sollte die Versorgungsforschung bei hartnäckigen Problemen und dysfunktionalen Strukturen auch systemkritische Fragen stellen. Nur so können echte Systeminnovationen entstehen. Doch genau dazu braucht man eben nicht nur Methoden, sondern profunde Theorien.

Womit wir wieder beim Thema wären: welche Theorien denn?
Nur als Beispiel: Ich habe vor kurzem an einer Tagung der deutschen Gesundheitssoziologen teilgenommen, dort wurden die Figurationstheorie1 von Norbert Elias, die Strukturationstheorie2 von Anthony Giddens und die struktur-funktionale Theorie3 von Talcott Parsons zur Erklärung von Versorgungssituationen herangezogen. Man kann hier viel von den Gesundheitssoziologen lernen. Das gleiche gilt für die Psychologie. In der Versorgungsforschung können zum Beispiel die Verhaltenstheorien4 von Fishbein und Ajzen und das Gesundheitsverhaltensmodell5 von Schwarzer gewinnbringend angewendet werden. Das ist genau das, was Braithwaite und Mannion im MVF-Interview sagen: Die vorhandenen Theorietradition besser für die Versorgungsforschung und die Versorgungspraxis nutzbar machen. Das ist das Ziel.

Wie ginge das?
Der erste Schritt ist, Wirkmodelle für eine geplante Intervention aufzustellen. Mit Wirkmodellen stellt man – vereinfacht gesagt – Thesen zu den kurz-, mittel- und langfristigen Wirkungen der einzelnen Interventionsbestandteile auf. Ideal wäre es nun, wenn diese Thesen zusätzlich aus übergeordneten Theorien abgeleitet werden. Dann wäre der Test der Intervention zusätzlich ein Test der These und zum Teil auch ein Test der Theorie, die der These zugrunde liegt. Ausgangspunkt des Vorgehens sollte das Wirkmodell der Intervention sein.
Was nichts anderes als eine Theorie ist.
Stimmt. Ich würde in diesem Fall dennoch eher den Begriff Wirkmodell bevorzugen. In einer Publikation6 des Expertenbeirats des Innovationsausschusses hatten wir übrigens die Anwendung solcher Wirkmodelle empfohlen.

Hatten Sie mit dem Vorstoß Erfolg?
Mein Eindruck ist, dass sich das Bewusstsein, Wirkmodelle zum Ausgangspunkt einer Versorgungsinnovation zu machen, allmählich durchsetzt. Dennoch gibt es aus meiner Sicht noch recht viel Luft nach oben.

Woher kommt das?
Nehmen wir das Beispiel des Innovationsfonds. Viele Projekte im Innovationsfonds wurden von Klinikern initiiert. Sie kommen aus der Praxis, erkennen eine Versorgungslücke und versuchen diese mit einer, oft sehr gut ausgedachten Versorgungsintervention zu schließen. Dieser Ansatz an sich ist begrüßenswert.

Das Aber?
Erfolgt diese Versorgungsintervention ohne Rückgriff auf eine
Theorie, befinden wir uns im Trial-and-Error-Modus. Es kann sein, dass man die richtige Idee hatte und diese durch die Evaluation bestätigt wird. Es kann aber auch sein, dass sich ein negatives Ergebnis ergibt. In beiden Fällen kann man ohne Theorie nicht richtig erklären, warum die Intervention funktioniert hat oder warum nicht.  

Ist nicht jeder Mensch ein Theoretiker? Dazu ein Bundesfußballtrainer und neuerdings auch noch ein Virologe oder Epidemiologe?
Sicher. Alle Menschen sind Laientheoretiker. Ohne Annahmen darüber, wie die einzelnen Lebensbereiche funktionieren, kämen wir nicht zurecht. Diese Laientheorien können aus objektiver wissenschaftlicher Sicht falsch sein, aber solange die Menschen daran glauben, sind sie für sie handlungsleitend. Das legt das Thomas-Theorem7 nahe. Es besagt, dass das, was der Mensch als wahr ansieht, wahr hinsichtlich der Konsequenzen ist, die der Mensch daraus ableitet. Falsche Laientheorien in Bezug auf die Gesundheit können zu falschen Gesundheitshandlungen führen.

Die nennt man dann unter anderem Covidioten.
Corona-Leugner sind in der Tat ein Beispiel für Personen, die eine bestimmte Form von Laientheorie in Bezug auf eine spezifische Erkrankung haben. Diese Laientheorie zieht dann die bekannten Konsequenzen für das Handeln dieser Personengruppe nach sich. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diesen Laientheorien die „evidenzbasierten“ Theorien gegenüberzustellen und zu vermitteln.

Doch haben auch die wissenschaftlichen Theorien ihre Grenzen.
Selbstredend. Eine Theorie ist immer nur für einen bestimmten Bereich gültig und nützlich. Man kann es so formulieren: Eine Theorie ist ein Werkzeug für den Wissenschaftler und den Praktiker. Wenn sich im Laufe eines Versorgungsforschungsprojektes herausstellt, dass eine Theorie zur Lösung eines bestimmten Versorgungsproblems nicht wirklich geeignet ist, muss man – um im Bild zu bleiben – im „Theoriewerkzeugkasten“ suchen, welche andere Theorie als Werkzeug hier bessere Dienste leistet.

Wenn man so jede Versorgungsforschungsstudie aufsetzen würde  …
… wäre das aus Sicht der theorieorientierten Versorgungsforschung ideal.

Heißt das, dass die Versorgungsforschung mehr Soziologie wagen sollte?
Mehr Soziologie und mehr Psychologie. Eindeutig. Auf jeden Fall muss die Versorgungsforschung theorieorientierter werden, denn nichts ist nun einmal praktischer als eine gute Theorie, wie schon Kurt Lewin8 sagte. Dazu gehört auch, dass man die Angst vor der Theorie an sich verliert.

Das bekommen Sie sicher öfters zu hören.
Klar. Wenn Kliniker das Wort Theorie hören, befürchten sie oft, dass man den Praxisbezug verliert. Das muss aber nicht sein, denn wie gesagt: Nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Dazu muss diese jedoch so für den Praktiker „übersetzt“ werden, dass er sie versteht und praktisch umsetzen kann.

Nehmen wir das Problem der erwähnten ungenügenden Anwendung von an sich bekannten Leitlinien in Krankenhäusern, woran sich eigentlich bis heute wenig geändert hat.
Wenn man an dieses Problem aus Sicht eines Systemtheoretikers herangeht, wird man diese Akzeptanzprobleme als Beleg dafür sehen, dass wir es bei der Ärzteschaft mit einem autopoietischen System9 zu tun haben. Solche Systeme schaffen sich selbst, regulieren sich selbst und nehmen von außen nur Anregungen an, können aber nicht direkt gesteuert werden. Man kann autopoietische Systeme nur indirekt steuern, zum Beispiel über die Setzung eines finanziellen Rahmens. Systemtheoretiker nennen das Kontextsteuerung10. Wir als Versorgungsforscher müssen daher insgesamt besser verstehen, wie der Arzt als Person und die Ärzteschaft als soziales System „ticken“. Dazu benötigen wir theorieorientierte Versorgungsforschung.

Damit wäre die Frage beantwortet, warum Sie diese Maximalforderung erst jetzt, zum 20. Jubiläum der Deutschen Kongresse für Versor-gungsforschung stellen, deren erster und auch 20. Präsident Sie sind.
Wir mussten die Versorgungsforschung erst einmal methodisch absichern und voranbringen. Das war im ersten Schritt wichtig, denn mit guten Methoden kommt man schon relativ weit. Doch irgendwann kommt unweigerlich der Punkt, an dem man merkt, dass man mit diesem methodischen Ansatz allein nicht alle wichtigen Phänomene in der Versorgung erklären kann und man oft zu langwierige und unsystematische Lernprozesse in Kauf nehmen muss. Deswegen ist es in der Versorgungsforschung jetzt an der Zeit, den zweiten Schritt zu gehen und der Methodenorientierung die Theorieorientierung an die Seite zu stellen. Ich würde dies als Versorgungsforschung 2.0 bezeichnen. Wir zünden jetzt gewissermaßen die zweite Stufe.

Vielleicht auch, weil so manche Versorgungsforscher schon seit längerem das Gefühl haben, dass man mit einer noch so guten Methode nur bestimmt weit hochspringen kann.
Das ist genau der Punkt. Wir sind weit gekommen, müssen uns jetzt aber weiter wissenschaftlich verbessern. Dies ist ein Grund, weshalb wir bei uns an der Universität zu Köln den Masterstudiengang nicht Versorgungsforschung, sondern Versorgungs-
wissenschaft nennen. Versorgungswissen-
schaft ist Versorgungsforschung plus Versor-
gungstheorie plus kritische Versorgungs-
forschung.

Warum nennen Sie den 20. Deutschen Kongress Versorgungsforschung dann eigentlich recht  banal „Versorgungskontext verstehen – Praxistransfer befördern“?
So banal finde ich den Titel nicht. Wer den Kontext verstehen will, braucht eine Theorie über den Kontext. Wer Praxistransfer befördern will, braucht auch eine Theorie über die Praxis. Im Prinzip steht damit Theorie gewissermaßen in der Unterzeile des Kongresstitels.

Warum nicht im Titel?
Der Titel eines Kongresses ist das Ergebnis eines partizipativen Entscheidungsprozesses. Ich habe gemerkt, dass es so etwas wie eine Angst vor dem Begriff der Theorie gibt. Die Kliniker unter den Versorgungsforschern sehen dann sofort den Elfenbeinturm der Wissenschaft bildlich vor sich und zögern. Aber das ist ja erst der 20. Kongress. Wir fangen jetzt an, die zweite Stufe zu zünden. Es wird – wie mein früherer Lehrer Bernhard Badura einmal sagte – mindestens zwei Jahrzehnte dauern, bis sich eine neue Orientierung endgültig durchgesetzt hat. Wir arbeiten daran und wollen mehr Theorie wagen. <<

Herr Professor Pfaff, danke für das Gespräch.


Das Interview führte MFV-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Literatur

1. Elias N. Figuration. In: Kopp J, Steinbach A, editors. Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; 2018. p. 115–7.
2. Giddens A. The Constitution of Society: Outline of the Theory of Structuration. University of California Press; 1984.
3. Parsons T. Illness and the role of the physician: a sociological perspective. Am J Orthopsychiatry 1951; 21(3):452–60.
4. Ajzen I. The theory of planned behaviour: Reactions and reflections. Psychology and Health 2011; 26(9):1113–27.
5. Schwarzer R. Psychologie des Gesundheitsverhaltens: Einführung in die Gesundheitspsychologie. 3., überarbeitete Auflage. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Oxford, Prag: Hogrefe Verlag; 2004.
6. Blettner M, Dierks M-L, Donner-Banzhoff N, Hertrampf K, Klusen N, Köpke S, Masanneck, M., Pfaff H., Richter, R., Sundmacher, L.. Überlegungen des Expertenbeirats zu Anträgen im Rahmen des Innovationsfonds. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2018; 130:42–8.
7. Thomas WI, Thomas DS. The child in America: Behavior problems and programs. New York: Knopf; 1928.
8. Lewin K. Field theory in social science: selected theoretical papers (Edited by Dorwin Cartwright.). Oxford, England: Harpers; 1951.
9. Luhmann N. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1984.
10. Willke H. Staatliche Intervention als Kontextsteuerung: Am Beispiel EUREKA. Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 1988; 3 [71](3):214–29.

 

Zitationshinweis:
Pfaff, H., Stegmaier, P.: „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/21), S. 6-10. http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2323

Ausgabe 04 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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