Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen_2022 MVF 06/22 Praxisnetz-MVZ: Herausforderungen und Chancen für Versorgung und Praxisnetze
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Praxisnetz-MVZ: Herausforderungen und Chancen für Versorgung und Praxisnetze

28.11.2022 13:00
Praxisnetze sind heterogene regionale Zusammenschlüsse ärztlicher und nicht-ärztlicher Leistungserbringer zur Erbringung von Aufgaben, die gerade nicht die gemeinsame Berufsausübung/Behandlung voraussetzen.2 Hierzu gehören insbesondere solche Aufgaben, die in einer vernetzten Struktur und für eine größere Zahl von Leistungserbringern effektiver angeboten werden können (Fort- und Weiterbildung3, Notdienst (z. B. Einrichtung einer Anlaufpraxis im Notdienst durch das Praxisnetz Kiel e.V. in Kooperation mit dem Städtischen Krankenhaus Kiel4)), Care- und Casemanagement (z. B. Gründung einer eigenen Wund- und Casemanagement-Gesellschaft durch das Praxisnetz Herzogtum-Lauenburg e.V. (PNHL)5, delegierte Hausbesuche (z. B. Delegation von Leistungen durch Inanspruchnahme der bei der Casemanagement-Gesellschaft des Praxisnetzes angestellten Casemanager:innen anstelle von in der einzelnen Arztpraxis angestellten Casemanager:innen5. Dem deutschen Gesundheitswesen ist eine regelhafte Vergütung solcher Managementaufgaben indes fremd, weder kennt der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) entsprechende Vergütungspositionen für diese Aufgaben, noch haben Praxisnetze als solche einen Zulassungsstatus, der eine Abrechnung nach EBM erlauben würde. Dies ist nur im Rahmen von Selektivverträgen gem. § 140a SGB V mit einzelnen Krankenkassen oder projektbasiert möglich. Durch das TSVG6 wurde anerkannten Praxisnetzen nach § 87b SGB V ermöglicht, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen. Praxisnetze können damit neben der Rolle als Organisationsgemeinschaft selbstständiger Leistungserbringer selbst zum Leistungserbringer werden (es handelt sich nicht um eine Vergesellschaftung der gemeinsamen Berufsausübung zwischen Praxisnetzen und deren Mitgliedern, sondern um parallele Berufsausübungen), Versorgungslücken ergänzen, aber auch in den unmittelbaren Wettbewerb zu ihren eigenen Mitgliedern um Geldflüsse, Ärzte, Mieträume usw. treten. Sie sind ein neuer Akteur in der Regelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dies bringt Chancen für die Versorgung, aber auch erhebliche Herausforderungen für die Praxisnetze mit sich, die im vorliegenden Beitrag untersucht werden.

http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2466

PDF

Abstract

Ziel der Untersuchung: Praxisnetze sind bislang reine Organisationsgemeinschaften gewesen. Sie dürfen seit 2019 Medizinische Versorgungszentren (MVZ) gründen und sind damit ein neuer Akteur in der Regelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Untersucht werden Chancen und Risiken für die Versorgung und die Praxisnetze.
Methode: Rechtswissenschaftlich wurden in einem kautelarjuristischen Zweckprogramm der Lebenssachverhalt und die ihn betreffenden Rechtsnormen ermittelt, mögliche Konflikte untersucht und Lösungsvorschläge entwickelt.
Ergebnisse: Praxisnetz-MVZ können dazu beitragen, Versorgungslücken zu schließen, die Praxisnetztätigkeit zu finanzieren und auch den eigenen Mitgliedern größere Vorteile zu bieten. Der Wandel von Praxisnetzen von Organisationsgemeinschaften hin zum Mitbewerber gegenüber den eigenen Mitgliedern birgt hohes Konfliktpotenzial. Diesem ist durch detaillierte Absprachen zur Rolle und Struktur des Praxisnetz-MVZ, seinem Verhalten gegenüber Praxisnetz-Mitgliedern (unter Berücksichtigung der berufs- und strafrechtlichen Vorgaben) sowie durch Verfahrensregelungen zu begegnen.
Schlussfolgerungen: Praxisnetze benötigen zur Verstetigung und besseren Versorgungswirksamkeit ihrer Tätigkeit in den Bereichen, in denen die Vernetzung Versorgungsvorteile bringt, Finanzierungsstrukturen, die unabhängig von einer Vergesellschaftung der ärztlichen Berufsausübung im Praxisnetz sind.

Practice Network – Medical Care Centre: Challenges and opportunities for care and
practice networks

Aim: Practice networks have so far been purely organisational cooperatives. Since 2019, they have been allowed to establish medical care centres (MVZs) and are thus a new player in the standard provision of statutory health insurance. Opportunities and risks for health care and practice networks are examined.
Method: From a legal point of view, the facts of life and the legal norms affecting them were determined in a cautel-legal purpose programme, possible conflicts were examined and proposed solutions were developed.
Results: Practice network MVZs can help to close gaps in care, finance practice network activities and also offer greater benefits to their own members. The transformation of practice networks from organisational communities to competitors vis-à-vis their own members harbours a high potential for conflict. This must be countered by detailed agreements on the role and structure of the practice network MVZ, its conduct towards practice network members (taking into account professional and criminal law requirements) and procedural regulations.
Conclusions: In order to stabilise and improve the effectiveness of their activities, practice networks need financing structures that are independent of the socialisation of medical practice in the practice network.

Keywords
Practice networks, medical care centres/MVZ, physician, care structures

Dr. jur. Dr. rer. med. Thomas Ruppel / Jan-Henri Haschke / Prof. Dr. rer. med. habil. Neeltje van den Berg

Literatur
https://www.arztnetze.info/item/wundversorgung-im-praxisnetz-herzogtum-lauenburg (zugegriffen am 10.06.2022)
https://www.praxisnetz-kiel.de/aerztlicher-notdienst-kiel.html (zugegriffen am 10.06.2022)
https://www.kbv.de/media/sp/PraxisWissen_Praxisnetze_web.pdf (zugegriffen am 10.06.2022)
Kassenärztliche Bundesvereinigung (2015): Praxiswissen Praxisnetze. Berlin: KBV
Koschate, T./Kraus, G. (2019): Was MVZ-Gründer beachten sollten. In: https://www.aerzteblatt.de/archiv/208984/Recht-Was-MVZ-Gruender-beachten-sollten (zugegriffen am 10.06.2022)
Kunkel, C. (2016): Vertragsgestaltung - Eine methodisch-didaktische Einführung. Berlin: Springer
Schlegel, R./Voelzke, T. (2021): juris Praxiskommentar SGB V – gesetzliche Krankenversicherung. Saarbrücken: Juris

 

Printmagazin abonnieren

Einzelheft bestellen

Ausgabe im Archiv (nur für angemeldete Benutzer/Abonnenten)


Zitationshinweis: Ruppel, T., Haschke, J.-H., van den Berg, N.: „Praxisnetz-MVZ: Herausforderungen und Chancen für Versorgung und Praxisnetze“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/22), S. 74-78. http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2466

Open Access

Plain-Text:

Praxisnetz-MVZ: Herausforderungen und Chancen für Versorgung und Praxisnetze (1)

Praxisnetze sind heterogene regionale Zusammenschlüsse ärztlicher und nicht-ärztlicher Leistungserbringer zur Erbringung von Aufgaben, die gerade nicht die gemeinsame Berufsausübung/Behandlung voraussetzen.2 Hierzu gehören insbesondere solche Aufgaben, die in einer vernetzten Struktur und für eine größere Zahl von Leistungserbringern effektiver angeboten werden können (Fort- und Weiterbildung3, Notdienst (z. B. Einrichtung einer Anlaufpraxis im Notdienst durch das Praxisnetz Kiel e.V. in Kooperation mit dem Städtischen Krankenhaus Kiel4)), Care- und Casemanagement (z. B. Gründung einer eigenen Wund- und Casemanagement-Gesellschaft durch das Praxisnetz Herzogtum-Lauenburg e.V. (PNHL)5, delegierte Hausbesuche (z. B. Delegation von Leistungen durch Inanspruchnahme der bei der Casemanagement-Gesellschaft des Praxisnetzes angestellten Casemanager:innen anstelle von in der einzelnen Arztpraxis angestellten Casemanager:innen5. Dem deutschen Gesundheitswesen ist eine regelhafte Vergütung solcher Managementaufgaben indes fremd, weder kennt der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) entsprechende Vergütungspositionen für diese Aufgaben, noch haben Praxisnetze als solche einen Zulassungsstatus, der eine Abrechnung nach EBM erlauben würde. Dies ist nur im Rahmen von Selektivverträgen gem. § 140a SGB V mit einzelnen Krankenkassen oder projektbasiert möglich. Durch das TSVG6 wurde anerkannten Praxisnetzen nach § 87b SGB V ermöglicht, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen. Praxisnetze können damit neben der Rolle als Organisationsgemeinschaft selbstständiger Leistungserbringer selbst zum Leistungserbringer werden (es handelt sich nicht um eine Vergesellschaftung der gemeinsamen Berufsausübung zwischen Praxisnetzen und deren Mitgliedern, sondern um parallele Berufsausübungen), Versorgungslücken ergänzen, aber auch in den unmittelbaren Wettbewerb zu ihren eigenen Mitgliedern um Geldflüsse, Ärzte, Mieträume usw. treten. Sie sind ein neuer Akteur in der Regelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dies bringt Chancen für die Versorgung, aber auch erhebliche Herausforderungen für die Praxisnetze mit sich, die im vorliegenden Beitrag untersucht werden.

>> Rechtswissenschaftlich wurden zunächst der Lebenssachverhalt und dann die diesen Sachverhalt betreffenden Regeln, hier insbesondere aus dem Gesellschaftsrecht (GmbHG, BGB für Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Verein; Genossenschaftsgesetz) und Sozialrecht (SGB V) ermittelt. Sodann wurden – ähnlich einer Vertragsgestaltung – in einem Zweckprogramm als stetigem Wechsel von Erkenntnisverfahren, Informationsbeschaffung, Konfliktvorhersage und Konfliktvermeidung (Vgl. Kunkel 2016: Kapitel 3.2. ff.) mittels kautelarjuristischer Arbeitsweise7 (Vgl. Kunkel, 2016: Kapitel 3.5.2.) für alle dergestalt gestaltungsrelevanten Aspekte Lösungsvorschläge entwickelt. Diese werden letztlich in (gesellschafts)vertraglichen Klauseln angewandt.
Ergebnisse
1. Chancen und Herausforderungen für Versorgung
Auch Praxisnetze und Praxisnetz-MVZ können keine neuen Ärzte schaffen. Sie sind „nur“ ein Baustein der Umverteilung. Betrachtet man die Verteilung von Ärzten in einem Mehrebenensystem, so können gerade Praxisnetze und Praxisnetz-MVZ Ärzte für den ländlichen Raum gewinnen, weil diese die aus Sicht der Ärzte bestehenden Vorteile der Anstellung und einer Arbeit in größeren Organisationseinheiten ermöglichen und durch ihre Vernetzung auch mit den Universitätskliniken eine größere Sichtbarkeit haben als ländliche Einzelpraxen.
Sind junge Ärzte jedoch erst einmal in einer (ländlichen) Region, so verstärken Praxisnetz-MVZ-Strukturen die Konzentrationseffekte und können zu einer Schwächung kleinerer Praxisstandorte und damit einem Wettbewerb um Ärzte zwischen dem Praxisnetz-MVZ und den Praxisnetzmitgliedern führen. Solange ein solcher auch nur vermutet wird, werden Praxisnetze eher zurückhaltend von der Möglichkeit der MVZ-Gründung Gebrauch machen. Es wird zu untersuchen sein, ob Praxisnetz-MVZ auf der überregionalen Verteilungsebene zu einer höheren Wanderungsbewegung in den ruralen Raum führen und wie stark der vermutete Kannibalismuseffekt sein wird. Soweit es tatsächlich zu Verteilungskämpfen kommt, besteht die Gefahr des Auseinanderbrechens des Praxisnetzes.
Auch in städtischen Bereichen ist teilweise – hinsichtlich eher „unattraktiver“ ärztlicher Fachgruppen – ein Mangel an niederlassungswilligen Ärzten zu beobachten, der eine Nachfolge von abzugebenden Praxen stark erschwert.
Wenn sich keine niederlassungswilligen Ärzte finden, wären Alternativen zum Engagement eines Praxisnetzes etwa kommunale MVZ, krankenhausgetragene MVZ oder MVZ von Inhabern benachbarter Praxen. Kommunale MVZ sind aber für den Gemeindehaushalt eine potenzielle Bedrohung und die in der Rechtsform der GmbH abzugebende selbstschuldnerische Bürgschaft aufgrund der möglichen Überforderung des Gemeindehaushaltes ist kein Selbstläufer bei den Kommunalaufsichtsbehörden; Krankenhäuser haben wenig Interesse an hausärztlichen MVZ und auch benachbarte Arztpraxen stehen vor dem Problem, ausreichend Ärzte (zur Anstellung) zu finden. Praxisnetz-MVZ können also bei einem erfolgreichen Engagement auch die umliegenden Praxen vor Überlastung schützen und damit über den Einzugsbereich der anderenfalls aufgegebenen Praxis wirken. Umgekehrt wird in Praxisnetzen, gerade im städtischen Bereich und hinsichtlich der fachärztlichen Versorgung, eine Abwerbung von Patienten zu befürchten sein.
Medizinische Versorgungszentren können bereits mit zwei halben (aber nicht einem ganzen) Vertragsarztsitz und somit zwei Halbtagskräften (je 12,5 Sprechstunden/Woche) gegründet werden (die Anforderung zweier halber (nicht eines ganzen) Vertragsarztsitzes wird durch die Spruchpraxis der Zulassungsgremien vorgegeben, vgl. https://www.aerzteblatt.de/archiv/208984/Recht-Was-MVZ-Gruender-beachten-sollten, zugegriffen am 06.07.2021). Sie sind damit nicht größer als eine Einzelpraxis, ihre strukturelle Wirkmächtigkeit ist begrenzt. Gleichwohl wird es gerade im ländlichen Raum nicht Ziel sein können, erheblich größere lokale Standorte in der hausärztlichen Versorgung zu schaffen.
Praxisnetze und ihre MVZ haben keinerlei Sonderrolle bei der Erlangung von vertragsärztlichen Sitzen und Praxiskäufen; ihnen stehen – im Wettbewerb mit anderen Akteuren – die üblichen Wege wie Bewerbung im Nachbesetzungsverfahren, Zulassungsverzicht zum Zwecke der Anstellung und die Neubesetzung von Anstellungsgenehmigungen offen.
Medizinische Versorgungszentren können auch Zweigpraxen (Nebenbetriebsstätten) gründen. Die Summe der ärztlichen Arbeitszeit in den einzelnen Nebenbetriebsstätten darf dabei nicht höher sein als in der Hauptbetriebsstätte (§ 17 Absatz 1a Satz 5 BMV-Ä); dies kann jedoch einfach gestaltet werden, indem eine MVZ-Trägergesellschaft (z.B. Tochter-GmbH des Praxisnetzes) mehrere MVZ betreibt (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/6337, Seite 116; Pawlita in: Schlegel/Voelzke, 2021, § SGB V Rn. 159)8.
Eine Gestaltung der Versorgungsstrukturen durch Praxisnetze ist auch dergestalt denkbar, dass Praxisnetze solche MVZ-Trägergesellschaften gründen, bei denen sie Alleineigentümer sind und bleiben, solche, bei denen eine mögliche Abgabe der Gesellschaftsanteile an niederlassungswillige Ärzte von vornherein geplant ist, und solche, in denen strategische Kooperationen mit Praxisnetz-Mitgliedern oder Krankenhausträgern durch Miteigentümerschaft eingegangen werden.
Anstellungsgenehmigungen haben, auch in MVZ, den Vorteil, dass die anzustellenden Ärzte nur noch die formalen Voraussetzungen (Facharztweiterbildung usw.) erfüllen müssen, aber kein Nachbesetzungsverfahren stattfindet. Der Arbeitgeber entscheidet mithin allein über die Nachbesetzung der Arztstelle. Dies führt zu Konzentrationen von Vertragsarztsitzen gerade bei MVZ, die dem Markt der Übernahmewilligen dauerhaft entzogen werden. Auch hier müssen Praxisnetze ihre Rolle in der Versorgungsstruktur definieren: Wenn sie sich als „Lückenfüller“ verstehen, könnte auch eine Rückgabe von Sitzen in die Niederlassung denkbar sein; Praxisnetze wären dann die Keimzelle und der Transmissionsriemen für erfolgreiche Praxisübergaben, in dem sie zunächst Interessierte im Anstellungsverhältnis „fit machen“ für die Niederlassung und diese dann auf deren Wunsch hin in die Niederlassung gehen lassen. Praxisnetze können atmende Gebilde sein. Praktisch würde dies durch eine vom Praxisnetz-MVZ beantragte Umwandlung der Anstellungsgenehmigung in eine Zulassung gem. § 95 Abs. 9b SGB V erfolgen, ggf. inklusive Verkauf von MVZ-Teilen. Das Praxisnetz könnte ggf. Mietverträge übertragen oder als Vermieter und Organisator des Praxisbetriebes – wieder in der ursprünglichen Rolle als Organisationsgemeinschaft – auftreten. Ist dieses Vorhaben gewollt, so sind – von vornherein – die notwendigen Regelungen für diesen Prozess (insb. Bewertungsmethoden usw.) festzulegen.
Gleichermaßen Herausforderung und Chance für die Versorgung ist es, dem sich abzeichnenden Mangel an nicht-ärztlichen Fachkräften mit Praxisnetz-MVZ zu begegnen. Eine größere Struktur hätte vermutlich eine größere Sichtbarkeit und es wäre für sie einfacher, auch über Bedarf auszubilden. Andererseits befindet sich auch das Potenzial an ausbildungswilligen und -fähigen Jugendlichen in vielen Regionen in einer stetigen Abwärtstendenz, sodass auch hier Praxisnetz-MVZ und Mitgliedspraxen in Wettbewerb zueinander stehen würden.
Ein Praxisnetz-MVZ generiert Gewinne, die über das Praxisnetz selbst den Mitgliedern zu Gute kommen können. Dies wirft erhebliche korruptionsrechtliche Fragestellungen, insb. zu § 128 Abs. 2 S. 3 SGB V und §§ 299a, b, 300 StGB auf, denen durch angepasste Verhaltensweisen der Mitglieds-Ärzte und gesellschaftsrechtliche Anpassungen (z. B. keine Gewinnausschüttung an die Mitglieder) begegnet werden kann. Diese korruptionsrechtlichen Aspekte müssen ebenso wie das Recht der Patienten auf freie Arztwahl (§ 76 SGB V; §§ 7 Abs. 2 S. 1, 18 Abs. 4. 23b Abs. 1 S. 4 lit. d) MBO-Ä) bei der Organisation der Zusammenarbeit von Praxisnetz-Mitgliedern mit dem Praxisnetz-MVZ beachtet werden.

2. Chancen und Herausforderungen für die Organisation
Zu den Risiken der Gründung eines Praxisnetz-MVZ gehört das
Risiko der zeitlich befristeten Anerkennung. Diese erfolgt durch die Kassenärztliche Vereinigung nur für jeweils fünf Jahre9. Verliert das Praxisnetz die Anerkennung, so geht auch seine Gründereigenschaft für das MVZ verloren10. Das MVZ darf dann nur noch maximal sechs Monate weiter betrieben werden11 . Danach würden die geschaffenen Versorgungsstrukturen auseinanderbrechen.
Soweit den Verantwortlichen eine Re-Zertifizierung nicht gelingt und es um eine reine Sicherung der Gründereigenschaften geht, könnte auch eine temporäre Veräußerung des Praxisnetz-MVZ an ein oder mehrere Netzmitglieder mit verbindlicher Pflicht zur Rückveräußerung nach Re-Zertifizierung – jeweils zu einem symbolischen Wert – erfolgen. Auch bliebe die Möglichkeit, dass im Praxisnetz-MVZ angestellte Ärzte nach Genehmigung durch die Gesellschafter ihre Anstellungsgenehmigungen in Vertragsarztzulassungen umwandeln und über den so erlangten Vertragsarztstatus dann selbst das MVZ tragen können. Schließlich sieht das TSVG vor, dass bei Verlust der Gründereigenschaft auch die in einem MVZ angestellten Ärzte dieses als Angestellte fortführen können, ohne dass sie dadurch Vertragsärzte werden. Durch den in § 95 Abs. 6 SGB V eingefügten Satz 5 ist es zur Aufrechterhaltung der Gründungsvoraussetzungen nunmehr möglich, dass die Gesellschafteranteile auf angestellte Ärzte übertragen werden, die nicht zum Kreis der Gründungsberechtigten gehören. Da die Angestellten selbst nicht zu Vertragsärzten werden und keine originäre Gründereigenschaft haben, können sie die Gründereigenschaft nicht durch erneute Übertragung der Gesellschafteranteile weitergeben. Um die Gründereigenschaft auch in der nächsten Generation aufrecht zu erhalten, bliebe nur der Weg der Umwandlung der Anstellung in eine Zulassung. Die geschaffenen Versorgungsstrukturen wären damit indes in beiden Varianten zerschlagen, weil die Vorteile der Kooperation und die damit verbundenen Synergien einer MVZ-Trägerschaft durch ein Praxisnetz verloren gehen. Die Auswirkungen auf die konkrete vertragsärztliche Versorgung dürften noch größer sein, es spricht nichts dafür, dass Ärzte, die gerade den Weg in die Anstellung eines Praxisnetz-MVZ gewählt haben, eine in die Krise geratene MVZ-Struktur übernehmen wollen.
Die Mitglieder des Praxisnetzes müssen sich zunächst darüber klar werden, welche Rolle ein Praxisnetz-MVZ in der Versorgung einnehmen soll: Denkbar ist, dass das Praxisnetz als „Feuerwehr“ und Lückenfüller
fungiert und sich überall dort engagiert, wo Praxisabgeber nicht auf herkömmlichem Weg einen Nachfolger finden. Dies betrifft zunächst vor allem den hausärztlichen Versorgungsbereich. Die Übernahme ländlicher und kleiner Standorte ist aber gerade für die Personalsuche eine große Herausforderung; zudem sind Hausarzt-MVZ mit angestellten Ärzten auch nur mit hohem Aufwand kostenneutral zu betreiben.
Ein anderes Modell könnte sein, ein Praxisnetz-MVZ als Einnahmemodell zu verstehen. Praxisnetze nehmen vielfältige Leistungen in Fort- und Weiterbildung, in Forschungsprojekten usw. wahr, die nicht (ausreichend) gegenfinanziert werden können. Hier könnten vom Praxisnetz-MVZ generierte Einnahmen, die an das Praxisnetz ausgeschüttet werden, der Entwicklung von Praxisnetzen generell helfen. Folge könnte dann insbesondere eine Fokussierung auf den fachärztlichen Versorgungsbereich sein, der regelmäßig höhere Gewinne erwarten lässt.
Eine Folgefrage dieser Überlegungen ist, ob ein Praxisnetz-MVZ auch in Konkurrenz zu den eigenen Mitgliedern bei Nachbesetzung/Praxisübernahme gehen soll, um auch ertragreiche und an sich von fehlender Nachfolge nicht bedrohte Standorte zu übernehmen, oder Versorgungscluster zu bilden. Dies kann ein Praxisnetz zur Spaltung führen und damit auch die Anerkennungsfähigkeit bei der jeweiligen KV als Voraussetzung des MVZ-Betriebes gefährden. Gerade wenn Krankenhäuser sich – im Sinne der Vernetzung der Versorgungsakteure einer Region – im Praxisnetz engagieren, würden fachärztliche Praxisnetz-MVZ in unmittelbarem Wettbewerb zu den Krankenhaus-MVZ stehen; dies könnte zu einem Rückzug der Krankenhäuser führen.
Die Diskussion des Selbstverständnisses des Praxisnetzes setzt sich bei der Frage möglicher Praxiskaufpreise durch. Nimmt ein Praxisnetz einen rein versorgungsorientierten Blick ein, so wird der Praxiskaufpreis bei Hausarztpraxen nur den materiellen Wert umfassen können. Dieser materielle Wert älterer hausärztlicher Praxen beträgt indes regelmäßig nur wenige Tausend Euro. Der immaterielle Wert dürfte gegen Null tendieren. Denn unabhängig von den Ergebnissen der verschiedenen betriebswirtschaftlichen Bewertungsmethoden ist der immaterielle Wert – der Goodwill, die durch die vertragsärztliche Zulassung vermittelte Chance, Umsätze mit GKV-Patienten zu erzielen – zumindest im unterversorgten, offenen Planungsbereich nicht mehr vorhanden: Bei Rückgabe der Zulassung könnte sich ein Nachfolger diese gegen eine geringe Gebühr vom Zulassungsausschuss selbst beschaffen, im ländlichen Raum sind auch keine Wanderungsbewegungen von Patienten in ohnehin überlastete Nachbarpraxen zu erwarten. Auch § 103 Abs. 4 S. 9 SGB V wäre damit Genüge getan.
Nimmt das Praxisnetz hingegen (auch) eine Rolle als Selbsthilfeeinrichtung ein, so wird auch die Altersabsicherung der Praxisnetzmitglieder zu berücksichtigen sein; die Einnahmen aus dem Praxisverkauf sind hier regelmäßig ein wesentlicher Bestandteil. Indes ist dabei zu beachten, dass die Praxiskaufpreise auch aus den laufenden Einnahmen finanziert werden müssen; äußerste Grenze wäre hier die Untreue zugunsten einzelner Praxisnetz-Mitglieder und zulasten des Praxisnetzes.
Entscheidend ist, dass die Praxisnetz-Mitglieder sich im Vorfeld verbindlich auf Bewertungsmethoden und Herangehensweisen verständigen und dies nicht bei jeder geplanten Übernahme einer Praxis zu Gunsten des Praxisnetz-MVZ erneut aushandeln müssen.
Die Abrechnungsfähigkeit bestimmter Leistungen ist von über die vertragsärztliche Zulassung hinausgehenden Anforderungen, etwa vom Vorhalten bestimmter Geräte, abhängig. Vielfach ist eine gewisse Mindestauslastung notwendig, um diese Investitionen rentabel werden zu lassen12. Gerade in ländlichen Regionen besteht auch hier die Gefahr eines von den Praxisnetz-Mitgliedern nicht gewünschten Wettbewerbes zwischen Praxisnetz-MVZ und den Praxen der Mitglieder.
Praxisnetze dürfen MVZ-Trägergesellschaften in allen dafür gem. § 95 Abs. 1a S. 3 SGB V zugelassenen Rechtsformen gründen. Die GmbH dürfte hier fast alternativlos sein, weil sie die einzige ist, die das Vorhandensein nur eines Gesellschafters – des Praxisnetzes – erlaubt. Eine wirkliche Haftungsbeschränkung ist mit dieser Rechtsform indes nicht verbunden, denn hier ist durch die Gesellschafter eine unbeschränkte selbstschuldnerische Bürgschaft für etwaige Regressforderungen aus dem Honorar- und Verordnungsbereich abzugeben (§ 95 Abs. 2 S. 6 SGB V). Regresse, sei es aus fehlerhaften Abrechnungen, unwirtschaftlichen Arzneimittelverordnungen, Überschreitung des Heilmittelbudgets etc., die von der MVZ-Trägergesellschaft nicht aufgefangen werden können, müssen damit vom Praxisnetz als Gesellschafter getragen werden. Dies kann zur Insolvenz des Praxisnetzes führen.
Soweit das Praxisnetz selbst in einer nicht haftungsbeschränkten Rechtsform betrieben wird, haften auch die Mitglieder des Praxisnetzes mit ihrem gesamten Privatvermögen für etwaige Verbindlichkeiten des MVZ-Betriebes, etwa bei einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts gem. § 128 HGB analog (der BGH hat diese persönliche Haftung auch auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts übertragen, vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2011 – II ZR 243/09.)13 oder bei einer Genossenschaft ohne Ausschluss der Nachschusspflicht nach § 105 Abs. 1 S. 1 GenG14. Die Aufnahme des MVZ-Betriebes führt damit auch für die Mitglieder zu einem erheblich höheren Haftungsrisiko und kann Austritte aus dem Praxisnetz provozieren. Dies wiederum kann zum Unterschreiten der Anerkennungsvoraussetzungen und damit zum Verlust der MVZ-Gründereigenschaft führen15.
Vor Gründung eines Praxisnetz-MVZ sollte sich das Praxisnetz selbst eine Rechtsform suchen, die einen Rückgriff auf das Vermögen der Gesellschafter ausschließt, etwa als Verein (BGH, Urteil vom 24.09.2007 – II ZR 91/06)16, Genossenschaft ohne Nachschusspflicht oder GmbH. Dann wäre zwar noch das Praxisnetz selbst durch sein MVZ insolvenzgefährdet, nicht aber seine Mitglieder. Dies bringt indes erheblichen organisatorischen Aufwand sowie rechtliche und steuerliche Fragen mit sich.
Entscheidend für die innere Stabilität des Praxisnetzes im Diskussionsprozess einer MVZ-Gründung ist nicht nur eine verbindliche Vereinbarung der Mitglieder (etwa durch Abstimmung auf einer Mitgliederversammlung/Gesellschaftsbeschluss), sondern eine Detailtiefe, die über einen Beschluss zur MVZ-Gründung an sich hinausgeht und zumindest die in diesem Beitrag angesprochenen Aspekte (hausärztlich/fachärztlich; Herausgabe von Sitzen; Wettbewerb zu eigenen Mitgliedern) regelt.
Indes können nicht alle relevanten Fragen vorhergesehen werden. Diesem Umstand kann durch Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden: Die MVZ-Trägergesellschaft wird durch die Vertreter des Eigentümers – des Praxisnetzes – kontrolliert; dies ist der Vorstand des Praxisnetzes. Dieser wird indes in vielen Fällen auch die Geschäftsführung der MVZ-Trägergesellschaft wahrnehmen, schon um kostenintensive personelle Doppelstrukturen zu vermeiden. Da Kontrollierter und Kontrolleur somit identisch wären, sollte die MVZ-Trägergesellschaft einen Bei- oder Aufsichtsrat enthalten, der über alle für das Praxisnetz wesentliche Entscheidungen (Erwerb von Praxen/Arztsitzen; Änderungen der Geschäftspolitik – etwa auch Übernahme fachärztlicher Sitze usw.) mitentscheiden muss. Dieser Bei- oder Aufsichtsrat sollte aus den Reihen der Praxisnetz-Mitglieder besetzt werden – unter Ausschluss von solchen Mitgliedern, die in anderen Organen des Praxisnetzes oder des Praxisnetz-MVZ sind – und der Mitgliederversammlung des Praxisnetzes rechenschaftspflichtig sein. Hier ist ein Ausgleich zwischen dem Informationsinteresse der Mitgliederversammlung und der Vertraulichkeit von Verhandlungen, etwa mit abgabewilligen Praxisnetz-Mitgliedspraxen zu finden, die ihre Praxisinterna nicht im gesamten Praxisnetz publik gemacht wissen wollen.
Der Beirat sollte nicht nur Informationsrechte bekommen, sondern wesentliche Entscheidungen der MVZ-Trägergesellschaft, die auf die Mitglieder des Praxisnetzes Einfluss haben, sollten seiner Zustimmung bedürfen. Dazu können etwa die Anstellung von neuen Ärzten, die Übernahme von Arztpraxen, die Gründung von Zweigpraxen etc. gehören. Die Regeln zur Einrichtung des Beirates, seiner Aufgaben und seiner Besetzung sind in der Satzung der MVZ-Trägergesellschaft (GmbH-Satzung) aufzunehmen; für die Entsendung der Beiratsmitglieder ist die Satzung des Praxisnetzes anzupassen.
Diskussion
Die Möglichkeit der Gründung und Beteiligung an MVZ eröffnet Praxisnetzen völlig neue Möglichkeiten zur Gestaltung der Versorgung und zur Generierung eigener Einkünfte. Indes sind die Gefahren des Auseinanderbrechens der Praxisnetze aufgrund der Vielzahl gefühlter oder tatsächlicher Nachteile für die Praxisnetzmitglieder evident. Ihnen muss durch möglichst genaue inhaltliche Absprachen und Verfahrensregeln begegnet werden.
Nukleus eines Praxisnetz-MVZ könnte die Gründung einer leeren Träger-GmbH sein, die sodann ein oder zwei Praxen von Mitgliedern übernimmt, die noch einige Zeit ärztlich tätig sein wollen. Der zivilrechtliche Praxiskaufvertrag würde somit von einem sog. Zulassungsverzicht zum Zwecke der Anstellung und einem Arbeitsvertrag begleitet werden. Aufgrund höchstrichterlicher Vorgaben müssen die Ärzte der übernommenen Praxen mindestens drei Jahre im MVZ – wenngleich in geringer werdendem Stundenumfang (vgl. BSG, Urteil vom 04.05.2016 – B 6 KA 21/15 R)17 – tätig sein; anderenfalls werden die Kassensitze eingezogen (vgl. BSG, Urteil vom 04.05.2016 – B 6 KA 28/15 R).18
Im offenen Planungsbereich bietet sich daher ein reguläres Nachbesetzungsverfahren an, mit dem diese Problematik umgangen werden kann. Vorteil der Übernahme einer bestehenden Struktur wären geringere Investitionskosten, vor allem aber, dass die Suche nach neuen Ärzten noch etwas aufgeschoben werden kann und man sich bei jungen Ärzten nicht mit dem Konzept eines Praxisnetz-MVZ, sondern mit einem bereits laufenden MVZ-Betrieb vorstellen kann.
Aus versorgungswissenschaftlicher Sicht erscheint eine regelhafte Finanzierung der Aufgaben, die gerade aufgrund der Größe und Vernetzung bei Praxisnetzen besonders gut aufgehoben sind, notwendig. <<
Fußnoten siehe PDF

Ausgabe 06 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031