Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen_2022 MVF 06/22 „Wir müssen unser Gesundheitssystem mutig reformieren“
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

„Wir müssen unser Gesundheitssystem mutig reformieren“

30.11.2022 06:00
„Das System der GKV ist elementar auf die Versorgungsforschung angewiesen“, erklärt Klaus Holetschek, Staatsminister im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, im Interview mit „Monitor Versorgungsforschung“. Sie sei ein wichtiger Baustein für die Fortschreibung des GKV-Leistungskataloges und – so Holetschek – „natürlich ist es wichtig, dass die entwickelten Versorgungsformen auch in naher Zukunft umgesetzt werden“. Für diese, von der Versorgungsforschung zu leistende Arbeit seien Daten unerlässlich und konkrete Forderungen für ein kommendes Gesundheitsdatennutzungsgesetz zu präzisieren. Der Bayerische Gesundheitsminister: „Nun gilt es aus meiner Sicht, dass das vieldiskutierte Gesundheitsdatennutzungsgesetz in Deutschland möglichst rasch auf den Weg gebracht wird.“

http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2452

PDF

>> Herr Staatsminister Holetschek, dass „Versorgung regional“ funktioniert und vor allem lokal funktionieren muss, haben Sie sicher live erlebt, als sie von 2002 bis 2013 Bürgermeister der Stadt Bad Wörishofen waren. Nun sind Sie seit 8. Januar 2021 Staatsminister des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Hat sich mit diesem Schritt von der lokalen zur landesweiten Perspektive Ihre Sichtweise verändert, zum Beispiel dann, wenn Sie an Krankenhausplanung und -reform denken?
Nein, denn es geht doch zuallererst immer um die Menschen, die eine wohnortnahe und qualitativ hochwertige Krankenhausversorgung benötigen. Für eine leistungsfähige und flächendeckende stationäre Versorgung sorgt die Bayerische Staatsregierung mit der Krankenhausplanung und vor allem mit der staatlichen Investitionskostenfinanzierung. Klar ist aber auch: Der vom Bund vorgegebene Rahmen hat einen spürbaren Trend zur Konzentration der Leistungsangebote zur Folge – gerade in Zeiten eines allgegenwärtigen Personalmangels und immer strengerer Qualitätsanforderungen durch den Bund. Krankenhäuser müssen den Strukturwandel beherzt angehen. Um überleben zu können, müssen sie rechtzeitig für zukunftsfähige und flächendeckende Strukturen sorgen. Das bedeutet vor allem, dass hinreichend große Abteilungen auch an kapazitätsmäßig kleineren Krankenhäusern entstehen müssen.

Was tun Sie konkret?
Im Zuge der Krankenhausplanung unterstützt Bayern auch Krankenhäuser, die trotz ihrer an sich nicht wirtschaftlichen Größe zur flächendeckenden Versorgung notwendig sind. Die bayerische Krankenhausplanung fördert also dort Strukturen für größere und leistungsfähige Betriebseinheiten, wo es aus Versorgungsgesichtspunkten möglich und sinnvoll ist. Auch wenn dies im Einzelfall für die Menschen weitere Wege bedeuten kann, sichern wir so die stationäre Versorgung in der betreffenden Region. Ziel bleibt in jedem Fall, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wohnortnähe und medizinischer Versorgungsstabilität zu gewährleisten.

Sie sagten in Ihrer Begrüßungsrede auf dem 21. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung (DKVF) in Potsdam, dass man zwar gerne über den Menschen im Mittelpunkt, aber spätestens zehn Minuten später über die Frage der Finanzen reden würde. Wie stehen Sie generell zum Thema Wettbewerb und Ökonomisierung der Medizin?
Wettbewerb und Ökonomisierung am Markt auf der einen und die Bedürfnisse der Menschen auf der anderen Seite halte ich nicht für unvereinbare Gegensätze. Aber die Gesundheit und Versorgung der Menschen hat dabei klar Vorrang. Eine weitere Ökonomisierung des Gesundheitssystems halte ich daher für falsch. Ziel muss es sein, Innovationen zu fördern, die einerseits den Menschen helfen, möglicherweise aber auch dazu beitragen, die medizinische Versorgung finanzierbar zu erhalten.

Allerdings gibt es auch ein zu viel an Ökonomisierung. So birgt der zunehmende Anteil investorenbetriebener MVZ ((i)MVZ) aus Sicht von Bayern erhebliche Risiken für die Versorgung. Denn das Streben nach Profitmaximierung steht in einem Zielkonflikt mit einer am Wohl der Patientinnen und Patienten ausgerichteten Versorgung. Bei den medizinischen Versorgungszentren in Investorenhand brauchen wir dringend mehr Regulierung und mehr Transparenz. Bayern setzt sich deshalb sowohl im vertragsärztlichen als auch im vertragszahnärztlichen Bereich seit längerem für weitere Regulierungen und mehr Transparenz ein. So wurde bereits im Rahmen der 94. Gesundheitsministerkonferenz im November 2021 einstimmig beschlossen, MVZ weiter zu regulieren.

Was ist seither passiert?
Diese Beschlüsse der GMK hat der Bund bislang noch nicht umgesetzt. Um zu verhindern, dass sich immer mehr neu gegründete MVZ auf ihren Bestandsschutz berufen können und eine unumkehrbare Veränderung der Versorgungslandschaft eintritt, wurde auf Initiative Bayerns eine länderoffene Länderarbeitsgruppe unter Mitwirkung des BMG und unter dem Vorsitz Bayerns gegründet. Deren Ziel ist die Schaffung eines MVZ-Regulierungsgesetzes. Die Auftaktsitzung der neuen Länderarbeitsgruppe fand bereits statt.  

Werfen wir einen detaillierteren Blick auf Bayern, das wie viele andere Bundesländer auch mit den Auswirkungen der Demografie zu kämpfen hat, wobei eine alternde multimorbide Gesellschaft auf immer weniger Ärzt:innen und Pflegende trifft. Was tun Sie als bayerischer Gesundheitsminister jetzt – oder haben es schon getan –, um auch in Zukunft eine gute wohnortnahe Versorgung zu sichern?
Bayern engagiert sich seit langem dafür, die medizinische Versorgung auf dem Land zu stärken, mit  einer ganzen Reihe von Maßnahmen: Mit der Landarztprämie fördern wir die Niederlassung von Haus- und Fachärzten. Bayernweit konnten wir so bereits 1.014 Ansiedlungen fördern, davon 702 Haus- und 312 Fachärzte. Wir brauchen in Bayern mehr junge Ärztinnen und Ärzte, die in ländlichen Regionen arbeiten. Mit unserem Stipendienprogramm fördern wir deshalb ab dem dritten Studienjahr Medizinstudierende, die sich verpflichten, nach ihrem Studium für eine bestimmte Zeit im ländlichen Raum zu arbeiten. Insgesamt haben wir mehr als 70 Millionen Euro für die Stärkung der ärztlichen Versorgung im ländlichen Raum Bayerns investiert. Die bislang geförderten 287 Studierenden zeigen den Erfolg des Programms.

Bayern hat seit kurzem auch eine Landarztquote.
Diese Landarztquote ist wichtig, weil wir damit in Bayern fast sechs Prozent der Medizinstudienplätze an Bewerber vergeben, die besonders an einer hausärztlichen Tätigkeit im ländlichen Raum interessiert sind. Wir haben die Landarztquote in Bayern zum Wintersemester 2020/21 eingeführt und bisher fast 1.500 Bewerbungen auf die zur Verfügung stehenden Plätze. Derzeit studieren 327 Studentinnen und Studenten im Rahmen der Landarztquote Humanmedizin. Das Programm „Beste Landpartie Allgemeinmedizin“ (BeLA-Programm) bietet zudem Medizinstudierenden die Möglichkeit eines spannenden, praxisorientierten Vertiefungscurriculums in der Allgemeinmedizin und den BeLA-Regionen Süd-, Nord- und Unterfranken.

Wie lautet das Ziel?
Mir ist es wichtig, dass alle pflegebedürftigen Menschen in Bayern gerade auch im ländlichen Raum wohnortnah die Versorgung und Betreuung bekommen, die sie benötigen. Hier setzt beispielsweise auch unser Förderprogramm „PflegesoNah“ an, das passgenaue Pflegeangebote vor Ort unterstützt. Für das Jahr 2022 liegen 93 Anträge mit einem möglichen Fördervolumen von knapp 204 Millionen Euro vor. Konkret müssen sich auch die Arbeits- und Rahmenbedingungen der Pflegenden verbessern. Dafür setzen wir uns seit langem in Bayern und auch auf Bundesebene ein. Wir haben eine Bundesratsinitiative eingebracht, mit dem Ziel, insbesondere in der Langzeitpflege Steuerbefreiungen zumindest von Zuschlägen und anderen Gehaltsbestandteilen zu realisieren. Außerdem haben wir, um Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen, die Kampagne „NEUEPFLEGE.bayern“ gestartet.

Ein Learning, das Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach für sich gezogen hat, ist der Aufbau von 1.000 niederschwelligen Gesundheitskiosken, wobei der erste von vier Gesundheitskiosken in Holzbauweise vor kurzem von Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in der Thüringer Dorfregion Seltenrain eröffnet wurde. Wann gibt es den ersten in Bayern und wo?
Mit diesen Gesundheitskiosken wird doch kein einziges der aktuellen Versorgungsprobleme gelöst! Das Konzept ist nicht bis zu Ende gedacht. Gerade der ländliche Raum kann dadurch nicht abgedeckt werden! Für Flächenländer wie Bayern können solche Gesundheitskioske – wenn überhaupt – also nur ein winzig kleines Mosaiksteinchen einer umfassenden Gesundheitsversorgung sein. Was wir brauchen, sind weitere Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung im ländlichen Raum, wie sie zum Beispiel Bayern mit der Landarztprämie erfolgreich umsetzt. Der Freistaat setzt auch sehr erfolgreich auf die „Gesundheitsregionenplus“. Für mich sind sie das mustergültige Modell, um Gesundheitsvorsorge und -versorgung auf kommunaler Ebene zu pushen.

Eine der drängendsten Hauptaufgaben aller Landesgesundheitsminister Deutschlands ist nicht nur die Frage der Krankenhausreform, sondern die sektorenübergreifende Planung des ambulanten und stationären Bereichs. Wo sind die Sollbruchstellen, die gerade auch in der Pandemie offenbar wurden? Wie lauten Ihre Learnings und Zukunftskonzepte?
Wir müssen unser Gesundheitssystem mutig reformieren. Die Lauterbach-Vorschläge für Tagesbehandlungen im Krankenhaus gehen zwar in Richtung Sektorenverzahnung, aber sie werfen noch zu viele Ungereimtheiten auf. Was wir brauchen, sind konstruktive Vorschläge, die das Gesundheitssystem entlasten, ohne weitere Probleme zu schaffen. Ich werbe für ambulante Gesundheitszentren, um die Strukturreform der Krankenhäuser auch passend zu den Bedarfen in der Fläche ausgestalten zu können. Sie sind eine Ergänzung der Leistungsbereiche an den Grenzen der Sektoren. In solchen Gesundheitszentren könnten die Patien-ten in erster Linie am Tag ambulant behandelt werden, aber bei Bedarf auch niedrigschwellig über Nacht durch qualifizierte Fachkräfte – nicht notwendigerweise Ärzte – beobachtet werden. Mit so einem Modell kann es uns gelingen, die ambulante Versorgung sinnvoll zu ergänzen. Damit könnten wir auch eine medizinisch tragfähige Alternative für den einen oder anderen Krankenhausstandort schaffen. Klar ist aber auch: Wir müssen alles dafür tun, dass sich die Personalsituation in den Krankenhäusern wieder verbessert. Wir müssen die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern. Und auch die finanzielle Lage der Krankenhäuser muss dringend stabilisiert werden. Die Kliniken brauchen unbürokratische Hilfen – und zwar jetzt.

Man spürt doch seit längerem ein drängendes Verlangen, Krankenhausplanung auf Bundesebene zu bringen.
Zu solchen Zukunftskonzepten gehört es, dass die Krankenhausplanung auch künftig in der Hand der Länder bleibt. Das Versagen einiger Länder bei der Investitionskostenförderung darf nicht als Begründung für die Abschaffung oder Umgestaltung eines bei richtiger Ausgestaltung erfolgreichen Systems herangezogen werden. Im umfassenden Reformprozess müssen wir zudem sehr sorgfältig darauf achten, dass der Bund nicht unter dem Deckmantel zentraler Vorgaben zur Betriebskostenfinanzierung maßgeblich in die Planungshoheit der Länder eingreift. Wir brauchen aber auch eine umfassende Struktur- und Finanzreform der Pflege. Darauf dringe ich schon seit Beginn meiner Amtszeit im Jahr 2021. Mitte März 2021 habe ich zentrale Eckpunkte für eine generationengerechte Reform vorgestellt. Das Ziel ist eine grundlegende Vereinfachung der Strukturen. Wir müssen die Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht Abrechnungsfragen. Die Pflegebedürftigen müssen noch stärker finanziell entlastet werden.

Zurzeit wird uns Vieles von außen aufgezwungen, ob es die Pandemie war oder die vielfältigen Folgen des brutalen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, ob das nun Migration, Energiepreis – und Sachkostensteigerungen oder Logistikprobleme sind. In diesem Zusammenhang sprachen Sie auf dem 11. DKVF von einem „kalten Strukturwandel“. Wie könnten wir im Gesundheitsbereich in eine Art „warmen Strukturwandel“ eintreten, in dem der nötige Veränderungsprozess gemeinsam gestaltet und dann auch ebenso gemeinsam angegangen wird?
Wir dürfen den bedarfsgerechten Strukturwandel nicht durch planwirtschaftliche Strukturen und kleinteilige Vorgaben des Bundes gefährden. Die bayerische Krankenhausplanung hat sich hier bewährt: Sie analysiert die Veränderungen und begleitet den Strukturwandel erfolgreich. Wir müssen diesen gemeinsam mit den Akteuren vor Ort gestalten. Denn sie können die Lage vor Ort am besten beurteilen und passgenaue Maßnahmen entwickeln. Die Krankenhausträger sind gut beraten, rechtzeitig für zukunftsfähige und gleichzeitig flächendeckende Strukturen zu sorgen. So müssen nicht mehr an jedem Standort sämtliche stationären Angebote vorgehalten werden. Es kann auch notwendig sein, vollstationäre Angebote an manchen Standorten einzustellen, um damit z. B. benachbarte Standorte desselben Krankenhausträgers zu stärken und auf die künftigen Rahmenbedingungen einzustellen.

Die Digitalisierung und die Datennutzung sind Schlüsselfaktoren eines besseren Gesundheitssystems. Gerade eben hat die KV Westfalen-Lippe ihr eRezept-Modellprojekt nach einem Veto des Datenschutzes abgebrochen. Wie stehen Sie als bayerischer Gesundheitsminister zur Digitalisierung im Gesundheitsbereich?
Die Digitalisierung in Gesundheit und Pflege ist ein Bereich mit vielen Chancen; allerdings hapert es hier mitunter noch deutlich an der erfolgreichen Umsetzung, das hat zuletzt das in den Pilotregionen wieder gestoppte E-Rezept bewiesen. Was wir brauchen, sind praxistaugliche, digitale und vernetzte Angebote. Dann können digitale Lösungen hervorragende Hilfsmittel sein, um die Versorgung für Fachkräfte und Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern.

Ihre Meinung zum E-Rezept?
Dem E-Rezept gehört die Zukunft – Patientenberichte zeugen von den Vorteilen des komplett papierlosen Wegs. Es ist jetzt Aufgabe der Gesellschafter der gematik festzulegen, wie die Nutzerfreundlichkeit des eRezepts verbessert und welche niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten noch hilfreich sein können. Offene Fragen auch des Datenschutzes müssen im Vorfeld geklärt werden, damit diese Schlüsselanwendung für die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen nicht erneut mit maximalem Schaden während der Einführung gestoppt werden muss.

Und zur Datennutzung?
Wir brauchen endlich einen echten europäischen Gesundheitsdatenraum – für die Gesundheitsversorgung, die Gesundheitsforschung und auch für die Gesundheitspolitik. Gesundheitsdaten können Leben retten. Bayern setzt sich durch Initiativen und die Förderung von Projekten und Veranstaltungen massiv für ihre bessere Nutzung ein. Zudem fordern wir mit Blick auf den bestehenden Fachkräftemangel vom Bund, unnötige Bürokratie zu vermeiden und das reibungslose Funktionieren der Technik sicherzustellen.

Was genau machen Sie dafür?
Wir haben beim Thema Gesundheitsdaten schon erste Erfolge erreicht: Bund und Länder werden sich in einer neuen Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz Bayerns und des Bundesgesundheitsministeriums mit der Nutzung von Gesundheitsdaten und der Weiterentwicklung ihres Schutzes beschäftigen. Im Dezember werden wir ein Symposium mit der Bayerischen Akademie für Wissenschaften durchführen, um die Diskussion voranzubringen und konkrete Forderungen für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz zu präzisieren. Nun gilt es aus meiner Sicht, dass das vieldiskutierte Gesundheitsdatennutzungsgesetz in Deutschland möglichst rasch auf den Weg gebracht wird – wir brauchen hier endlich den großen Wurf und dürfen uns weitere Verzögerungen nicht erlauben.

Auf dem 11. DKVF erklärten Sie unter anderem auch, dass Sie sich bei der ePA für eine Opt-Out-Regelung aussprechen, um noch besser auch im Bereich der Versorgungsforschung Daten nutzen zu können.
Was erwarten Sie sich von der Versorgungsforschung ganz konkret, wenn sich diese Regelung tatsächlich durchsetzen würde?
Zunächst einmal begrüße ich es sehr, dass sich der Bundesgesundheitsminister mittlerweile klar bekannt hat und das Opt-Out Verfahren für die ePA endlich auf den Weg gebracht wird. Ich habe es schon mehrfach gefordert: Ohne eine Opt-Out-Regelung bei der ePA erhalten wir nie die breite Datengrundlage, die für Forschung und Innovation aus Deutschland heraus so dringend erforderlich sind. Andere sind uns da weit voraus. Auf meiner Israelreise im November habe ich erlebt, wie fortschrittlich dort mit der Erhebung und Nutzung von Gesundheitsdaten umgegangen wird. Ein lernendes Gesundheitssystem muss auch für uns das Ziel sein, in dem die Daten von den Patientinnen und Patienten kommen und zu ihnen als Therapieinnovationen und passgenaue Versorgungsangebote zurückfließen. Aber davon sind wir meilenweit entfernt und müssen möglichst schnell vorankommen, damit wir international nicht noch weiter den Anschluss verlieren.

Was ist zu tun?
Die Vorteile für die Versorgungsforschung liegen auf der Hand. Wenn unter klar definierten Bedingungen Forscher, Innovatoren und öffentliche Einrichtungen Zugang zu großen Mengen hochwertiger Gesundheitsdaten haben, dann ist Nutzenforschung von einzelnen Therapiemaßnahmen evidenzbasiert und auf breiter Datenbasis mög-
lich. Am Ende geht es aber im Großen darum, durch ein Mehr an Gesundheitsdaten mit dem Opt-Out-Verfahren bei der ePA den Alltag der Gesundheitsversorgung für Leistungserbringer genauso wie für Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Die Hand am Bett ist wertvoller als an der Tastatur, oder noch schlimmer am Faxgerät.

Sie sagten auf dem DKVF ebenso: „Ich werbe dafür, dass wir nicht wieder in dieser Verzagtheit weitergehen, wo wir jeden Tag neue Bedenken an den Tag bringen, sondern dass wir mutige Schritte gehen, sonst wird das nichts mehr. Wir brauchen Mut, Entschlossenheit und wir brauchen Sie in der Versorgungsforschung. Deswegen wünsche ich Ihnen einen tollen Kongress, viele gute Ideen, die wir dann hoffentlich auch in der Politik mitnehmen, nicht nur drüber reden, sondern irgendwann auch umsetzen. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.“ Dieses „irgendwann“ irritiert: Warum hat die deutsche Bevölkerung nicht das Recht auf die beste Versorgung, wenn es denn eine hinreichende Evidenz dafür gibt, die dann aber auch bitte zeitnah und nicht irgendwann umgesetzt wird?
Klar ist: die besten Ideen nützen uns nichts, wenn wir nur darüber diskutieren und sie nur auf dem Papier stehen. Das System der GKV ist elementar auf die Versorgungsforschung angewiesen. Sie ist ein wichtiger Baustein für die Fortschreibung des GKV-Leistungskataloges und natürlich ist es wichtig, dass die entwickelten Versorgungsformen auch in naher Zukunft umgesetzt werden. Hier ist der Bundesgesetzgeber in der Pflicht. Absichtserklärungen wie im Koalitionsvertrag vage formuliert, nützen uns nicht viel. Wir brauchen mit Blick auf den notwendigen Zugang zu Gesundheitsdaten jetzt einen vertrauenswürdigen gesetzlichen Rahmen, der Patientensouveränität gewährleistet und zugleich zweckgebundene Datennutzung ermöglicht. Für ein nationales Gesundheitsdatennutzungsgesetz werben wir in Bayern schon, bevor es aus Berlin zu hören war.

Mit welcher realen Umsetzung?
Die Menschen in unserem Land haben Anspruch auf die bestmögliche Versorgung – dafür brauchen wir die Nutzungsmöglichkeit vorhandener Daten. In Bayern gelingt uns dies heute schon in Pilotprojekten mit Strahlkraft: etwa mit „DigiMed Bayern“, bei dem die Nutzung von Gesundheitsdaten im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Zentrum steht; oder mit „digiOnko – Integratives Konzept zur personalisierten Präzisionsmedizin in Prävention, Früherkennung, Therapie und Rückfallvermeidung am Beispiel von Brustkrebs“.

Prof. Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses und gleichzeitig Vorsitzender des beim G-BA angesiedelten Innovationsausschusses, erklärt im Titelinterview der letzten MVF-Ausgabe: „Mal Hand aufs Herz: Solche ,Klein-Klein‘-Forschungsansätze bringen doch unser Gesundheitssystem wirklich nicht nach vorne!“ Er vermisst zudem bei den Innovationsfonds-Anträgen den „großen Wurf“ von Ansätzen, die „uns wirklich nach vorne katapultieren würden“. Das versucht nun die Fachzeitschrift „Monitor Versorgungsforschung“, die am 13. Dezember 2022 den ersten Teil ihres Jahreskongresses zum Thema „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ online veranstaltet. Was wären aus Ihrer Sicht die 5 wichtigsten, von der Versorgungsforschung zu beantwortenden Fragen, die die Versorgung wahrhaft verbessern sowie resilienter und zukunftsfähiger aufstellen würde?
Es ist schwierig, die Herausforderungen auf die „Top 5“-Themen herunterzubrechen. Wichtig ist aus meiner Sicht vor allem, die Möglichkeiten der Digitalisierung vernünftig zu nutzen, dem Fachkräftemängel zu begegnen und die Bürokratie im Gesundheitswesen zu reduzieren. Das sind drei zentrale Herausforderungen, die unmittelbar miteinander zusammenhängen. Für mich als Gesundheitsminister in einem Flächenland ist zudem die medizinische Versorgung gerade auch im ländlichen Raum ein Schwerpunkt. Eine weitere Herausforderung ist es, die sich aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritt ergebenden Möglichkeiten den Menschen einkommensunabhängig zur Verfügung zu stellen und dabei aber auch ihre Finanzierbarkeit durch die gesetzliche Krankenversicherung sicherzustellen. <<

Herr Staatsminister, danke für das Gespräch.


Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis: Holetschek, K., Stegmaier, P.: „Wir müssen unser Gesundheitssystem mutig reformieren“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/22), S. 6-10. http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2452

 

Vita

Klaus Holetschek
studierte von 1984 bis 1990 Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg und machte das 1. juristische Staatsexamen. 1990 bis 1993 war er Rechtsreferendar. Nach dem erfolgreichen 2. juristischen Staatsexamen erhielt er seine Zulassung zum Rechtsanwalt.
1993 bis 1998 war er als Referent für journalistische Nachwuchsförderung und Medienpolitik bei der Hanns-Seidel-Stiftung in München und stellvertretender Abteilungsleiter im Förderungswerk tätig.
Nach verschiedenen Funktionen in der Lokalpolitik war er 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und 2014 Mitglied des Bayerischen Landtags. Vom Februar bis August 2020 war er Bürgerbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, von August 2020 – Januar 2021 Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr. Seit Januar 2021 ist er Staatsminister im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege.

Ausgabe 06 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031