Medicine meets Digital: Plädoyer für neues Denken
http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2461
>> Die randomisierte klinische Studie (RCT) gilt als der Goldstandard, um möglichst viel darüber zu lernen, wie wirksam und sicher ein Wirkstoff ist, bevor er von den Zulassungsbehörden zugelassen wird. Sie hat den Ruf, das beste Studiendesign zu sein, um bei einer klaren Fragestellung eine möglichst eindeutige und wissenschaftlich tragfähige Aussage zu erhalten.
Allerdings kommt jetzt ein großes „Aber“: Denn RCTs bilden nur einen Teil der Versorgungsrealität ab. Per Definition umreißen sie eine eng gefasste und streng kontrollierte Gruppe von Patient:innen. Pharmaunternehmen gehen davon aus, dass die Evidenz, die im Rahmen ihrer klinischen Studien generiert wird, auf ca. 5-8% Prozent (Unger et al., JNCI 2019) derer begrenzt ist, die das Arzneimittel einmal einnehmen werden. Daraus hat sich die Notwendigkeit ergeben, mehr und mehr Versorgungsdaten in die Evaluierung mit einzubeziehen. Dies wird auch von den Zulassungsbehörden favorisiert (Arlett et al., 2022), denn die Vorteile sind enorm. Doch der zu absolvierende Transformationspfad ist herausfordernd. Denn aufgrund der höheren Komplexität sind die Anforderungen an die Evidenz höher, gespiegelt durch die Qualitätsanforderung an erhobenen Daten. Während RCTs überwiegend in etablierten, universitär geprägten Institutionen nach strengem Protokoll stattfinden, ist die reale Versorgung weit von dieser optimierten Struktur entfernt.
Versorgungsdaten oder Real-World-Data (RWD) sind Gesundheitsinformationen aus der realen Welt. Sie entstehen überall dort, wo medizinische Versorgung stattfindet: beispielsweise bei Ärzt:innen, in Kliniken, in Form von Abrechnungsdaten bei den Krankenkassen oder in Patientenregistern. Zunehmend kommen die Daten auch aus der
unmittelbaren Lebensumgebung der Patient:innen und dem privaten oder professionellen Versorgungssetting/Betreuungsumfeld – und das 24h/7T/365T. Digitale Biomarker über digitale Endgeräte wie Smartphones erfasst, können beispielsweise wichtige diagnostische Hinweise zum Krankheitsverlauf generieren und gleichzeitig Endpunkte für klinische Studien liefern. Für Erkrankungen wie Multiple Sklerose (Digital Health: Smartphone-based monitoring of multiple sclerosis using Floodlight 2022) oder ALS können solche Versorgungsdaten in der Arzneimittelforschung neue Horizonte öffnen. Die wissenschaftliche Diskussion im Rahmen der klinischen Entwicklung ist im Gange (LoCasale et al. 2021).
Auch für die Zulassung von Arzneimitteln sind die Versorgungsdaten immer relevanter: Europäische und US-Zulassungsbehörden haben sie klar im strategischen Fokus (International Coalition of Medicines Regulatory Authorities 2022; Arlett et al. 2022).
Versorgungsdaten: Wenn ein Wirkstoff im klinischen Alltag ankommt
Die klassischen kontrollierten Studien liefern evidenzbasierte Daten darüber, was ein Medikament kann und was nicht. Mit der Zulassung kann auf der Grundlage einer durch Evidenz abgesicherten Arbeitshypothese in die Versorgung gestartet werden. Danach wird im Prinzip geschaut, was passiert, wenn beispielsweise geriatrische und/oder multimorbide Patient:innen behandelt werden. Soll heißen: Der Wirkstoff kommt in der realen Welt an, in der auf einmal nicht mehr stratifizierte Patientenpopulationen zu behandeln sind, sondern die ganz reale Vielfalt der Routineversorgung (u.a. mit Blick auf breite Altersbänder, Multimorbidität, sozialmedizinische Determinanten).
Das heißt auch: Bei Zulassung liegen nur Daten zur „Efficacy“ vor. Diese beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Wirkung zustande kommt. Was die in der Versorgung eigentlich interessiert, ist hingegen die „Effectiveness“, die viele Detailfragen adressiert:
1. Hält der Wirkstoff in der Versorgungs-
realität, was er in den Studien verspricht, treten Wechselwirkungen auf?
2. Gibt es Signale über sehr seltene Nebenwirkungen, die erst mit einer Masse an behandelten Patient:innen zutage treten?
3. Gibt es positive Effekte bei Patientengruppen, die gar nicht Teil der Studien waren?
RCTs zeigen das Potenzial eines Wirkstoffes und sein klinisches Sicherheitsprofil. Doch erst durch die Erfahrungen aus der Versorgung wird offenbar, wie es wirklich funktioniert, bei wem es besser funktioniert oder gegebenenfalls welche Therapiesequenz optimal ist. Ergänzend zum Datenstrom aus klinischen Studien braucht es zunehmend den Datenstrom aus dem „echten Leben“, eben die Real-World-Data. Werden sie richtig strukturiert, ausgewertet und sinnvoll verknüpft, entsteht daraus Evidenz; die sogenannte Real-World-Evidence (RWE) (U.S. FDA December 2018; Sherman et al. 2016; Concato und Corrigan-Curay 2022).
Das machen aber nicht die digitalen Techniken allein. Da ist methodische Stringenz gefragt (Zhang et al. 2020; Fralick und Kesselheim 2020). Viele wissenschaftliche Beiträge liefern Lösungen auch im Umgang mit Versorgungsdaten. Frameworks (Gatto et al. 2019) und Abläufe zur Machbarkeit wurden mittlerweile vorgeschlagen und können die Umsetzung eines RCT-RWE-Konfluenz-Modells (Gatto et al. 2022) fördern. Denn ansonsten setzen wir uns dem Risiko aus, möglicherweise nicht kausale Assoziationen zu erfassen. Confounding und Bias-Varianten bleiben die maßgeblichen Herausforderungen, um letztlich interne und externe Validität gleichermaßen abzusichern (s. a. Windeler 2008). Darum geht es bei der konfluierenden Evidenz im Hinblick auf die methodische Seite. Das ist komplexe Highend-Forschung mit vielen Kontaktpunkten und Schnittstellen. Das muss für die Breite der Versorgung organisiert werden – und zwar im gesamten Ökosystem der Versorgung. Ansätze dazu gibt es. Dass es nicht schneller und umfassender geht, ist dabei weder ein methodisches noch ein technisch-digitales Thema.
Nun gilt es, diese beiden evidenzbasierten Erkenntnisströme – die aus den klassischen Studien und die aus der Versorgung – zusammenzuführen. Dies kann in einem RCT-RWE-Konfluenz-Modell geschehen, das am besten durch eine bildliche Darstellung erklärbar ist: Die Daten aus den klinischen Studien wirken wie ein kraftvoller, fokussierter Suchscheinwerfer, der messerscharf ausleuchtet, was wir sehen wollen. Nimmt man nun Daten aus der Versorgung hinzu, wird das Flutlicht dazugeschaltet, mit dessen Hilfe das gesamte Suchfeld überblickt werden und man einfach mehr als vorher sehen kann. Damit kann man beispielsweise neue Stellschrauben entdecken, die bisher nicht zu sehen waren. Gleichzeitig können so Therapien besser gemacht werden und Behandlungserfolge erzielt werden, die vorher nicht möglich waren.
Mit digitaler Technik die Arzneimittelforschung auf ein neues Level bringen
Nun werden einige sagen: Nichts davon ist wirklich neu. Daten aus klinischer Forschung und aus der Versorgung sind seit langem vorhanden und werden auch genutzt, um die Medizin besser und sicherer zu machen. Wahr ist aber auch, dass bislang das gewaltige Potential der digitalen ‚Vermessung‘ der Medizin für Viele noch gar nicht richtig erfasst ist. Denn in der Vergangenheit haben diese Forschungsprozesse und die dann folgende Implementierung Jahre gedauert und sie waren extrem kostenintensiv, weil alles analog geplant und durchgeführt werden musste. Bereits implementierte digitale Infrastrukturen in Israel oder Dänemark haben in der Pandemie gezeigt, wie schnell Erkenntnisse zu Prävention, Impfstoffwirkung in der Versorgung etc. ankommen können. Die technische Möglichkeit, große Mengen von Daten zu speichern, zu lesen, sinnvoll miteinander zu verknüpfen und daraus wissenschaftliche fundierte Schlüsse zu ziehen, gibt es erst seit ein paar Jahren. Über Machine-Learning und Künstliche Intelligenz zukünftig weiter verstärkt erschließen sich Welten, die aus Datenseen zusätzliche Muster und Erkenntnisse mit klinischer Relevanz generieren, vorausgesetzt die Datenqualität ist gewährleistet. Hard- und Software sind der Schlüssel, mit dem sich bisher nicht verstandene medizinisch-biologische Zusammenhänge erschließen lassen. Datenforscher nennen diesen Punkt „inflection point“. Das ist der Wendepunkt, mit dem und ab dem es überhaupt möglich ist, die Medizin im Allgemeinen und die Arzneimittelforschung im Speziellen auf ein neues Level zu heben.
Welchen medizinischen Nutzen Versorgungsdaten haben, zeigt sich daran, dass es bereits Wirkstoffe gibt, die von den zuständigen Behörden ausschließlich oder unter Berücksichtigung von Real-World-Evidence zugelassen wurden. Dazu gehört das gesamte Corona-Impfstoffportfolio (Abu-Raddad et al. 2021; Zheng et al. 2022), ebenso wie antivirale Therapien gegen COVID-19. Aber auch in Gebieten mit geringerem Zeitdruck gibt es Fallbeispiele. So erteilte im Jahr 2019 die US-Zulassungsbehörde FDA einem Medikament zur Behandlung des männlichen Brustkrebses, Palbociclib, die Zulassung auf Basis von RCT-Studien bei Frauen und maßgeblich unterstützt durch RWE abgeleitet aus elektronischen Gesundheitsakten und strukturierten Routinedaten von Männern (Wedam et al. 2020). Es wurde unter Verwendung von RWD nachgewiesen, dass das Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil des für Frauen bereits zugelassenen Wirkstoffes mit dem für die Männer übereinstimmt. Das ist umso bedeutsamer, da Brustkrebs bei Männern extrem selten ist, was RCTs so gut wie unmöglich macht. In solchen Fällen greift das RCT-RWE-Konfluenz Modell und deutet sein weitreichendes Potenzial an. In den USA und in Japan gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Wirkstoffen, bei deren Beurteilung Real-World-Evidence eine wichtige Rolle gespielt hat. In Europa – und ganz besonders in Deutschland – ist man da noch reservierter.
Real-World-Evidence: Medizin in Echtzeit
Das ist umso erstaunlicher, als dass die Datenmengen, aus denen sich wertvolle Evidenz gewinnen lässt, zunehmen werden. Da sind beispielsweise Informationen aus Digi-talen Gesundheitsanwendungen (DIGAs), deren Nutzung rasant steigt. Die Zahl von Patientenregistern wird zunehmen, gerade auch im Bereich der seltenen Erkrankungen, wo seit Jahren die Zahl innovativer Therapien zunimmt. Künftig könnten auch Daten aus verschiedenen nationalen Gesundheitssystemen genutzt werden, wenn der Europäische Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space) umgesetzt ist. Hinzu kommen diagnostische Tools wie die Liquid Biopsy („Flüssigbiopsie“), die es möglich machen, Tumor-DNA im Blut zu identifizieren (Wan et al. 2017; Rijavec et al. 2019; Englmeier et al. 2022). Der Vorteil dabei ist, dass bei Patient:innen, bei denen behandlungsbedingt kein Tumorgewebe mehr nachweisbar ist, durch ein solches Verfahren festgestellt werden kann, ob der Tumor noch aktiv ist: Das ermöglicht eine sofortige Fortsetzung der Therapie, weil die Erkenntnis, dass der Krebs (noch) nicht besiegt ist, nicht von der Feststellung abhängt, dass wieder Tumorgewebe nachgewachsen ist. So wird aus einer Medizin, die primär retrospektiv arbeitet („Was haben wir gemacht und was ist passiert?“) eine Medizin in Echtzeit. „Living Guidelines” kommen immer mehr an die Implementierung in Echtzeit heran, beispielsweise für die Schlaganfallversorgung in Australien (Turner et al., 2022). Im Fall von Krebs kann das eine Frage von Leben oder Tod sein.
Die Nutzung von RWE lässt aber auch ganz innovative Studiendesigns zu. So sind zum Beispiel virtuelle, auf Versorgungsdaten basierende Studienarme möglich. Darunter versteht man, dass für den Vergleich zwischen einer neuen Substanz und dem aktuellen Behandlungsstandard für den Vergleichsarm keine Patient:innen in die laufende Studie eingeschlossen werden müssen. Die Information zu Krankheitsverläufen kann aus retrospektiven Versorgungsdaten generiert werden – ein weiterer Faktor, der klinische Forschung effizienter machen kann.
Kein Wunder also, dass RWD vermehrt in den Fokus von Wissenschaft und Forschung rücken, auch weil sie schon während der Entwicklung neuer Medikamente wichtige Impulse liefern können. Das gilt insbesondere für Indikationen, bei denen der medizinische Bedarf groß ist, die Patientengruppen aber klein sind, was dazu führen kann, dass sich die Rekrutierung der Studienteilnehmer verzögert.
Versorgungsdaten können auch dabei helfen, Wissenslücken zu füllen. Sie sind ein Hebel, die Versorgung besser und effizienter zu gestalten. Daraus ergeben sich ganz neue Möglichkeiten, medizinische Versorgung zu steuern. Wie das Beispiel der Liquid Biopsy zeigt, wird Medizin in Echtzeit möglich, weil schon während der Behandlung Ereignisse gesehen werden können, auf die man dann zeitnah reagieren kann. Bisher ist ein solches Reagieren erst nach Abschluss und Auswertung einer Studie möglich, was seine Zeit dauert. Solche Auswertungen sind immer retrospektiv und dauern schon mal Jahre. Gleichzeitig dreht sich aber der Innovationszyklus nicht nur weiter, sondern er wird auch immer schneller. Wer so handelt, muss wissen: Die reale Versorgung läuft damit dem wissenschaftlichen Fortschritt immer hinterher.
Was muss passieren? Die Berliner Erklärung
Was also ist zu tun, um das Potenzial des RCT-RWE-Konfluenz-Modell zu heben? Ehrlich gesagt: Eine Menge. Einerseits müsste die stark fragmentierte Dateninfrastruktur zusammengeführt werden und gleichzeitig müssen wir ein Umdenken bei der Zulassung und der Nutzenbewertung von medizinischen Innovationen herbeiführen, das mehr Flexibilität zulässt. So finden sich Versorgungsdaten meist da, wo sie erhoben werden, und sind nicht verknüpft – es gibt unzählige Dateninseln. In der Masse sind sie nicht standardisiert und strukturiert (und damit nur bedingt brauchbar). Die fragmentierte deutsche Gesundheitslandschaft ist da mehr Hindernis als Hilfe. Datentechnisch betrachtet sind die Sektorengrenzen – hier der Bereich der niedergelassenen Ärzt:innen, dort die Krankenhäuser – im Grunde zwei Welten. Es gibt zwischen den beiden Sektoren kein Datenkontinuum, was zwangsläufig Doppeluntersuchungen nach sich zieht. Damit startet jede Behandlung mit dem Wechsel von der Niederlassung in die Klinik im Grunde neu. All die gemachten Erfahrungen – welche Therapie hat funktioniert, welche nicht – gehen dabei verloren.
In der Berliner Erklärung zur Digitalisierung der Medizin, die viele pharmazeutischen Unternehmen unterzeichnet haben, wurden sieben Punkte zusammengetragen, die dazu beitragen sollen, dass Deutschland die Potenziale der digitalen Transformation umsetzen kann.
Dort heißt es beispielsweise: „Dazu muss ein Umdenken weg von realitätsferner Datensparsamkeit hin zu einem gestaltenden Datenschutz mit Datennutzung zum Wohle des Menschen erfolgen.“
Gefordert wird hier vor allem der Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur, unter Berücksichtigung der Datensicherheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger:innen. Ein wichtiger Punkt dabei ist auch die Frage des Zugangs: Wer darf die Gesundheitsinformationen unter welchen Bedingungen nutzen? Nach den bisherigen Plänen ist der privaten Gesundheitswirtschaft, also den Entwicklern und Herstellern von Diagnostika und Arzneimitteln, der direkte Zugang nicht gestattet. Das ist eine politische Entscheidung mit dem Kollateraleffekt, dass die Unternehmen, die in diesem Land rund 80 Prozent der klinischen Studien durchführen, solche Daten für ihre Forschungen nicht nutzen dürfen.
Das klingt absurd und ist eigentlich auch nicht rational erklärbar. Statt eine potente Forschergruppe außen vor zu lassen, sollte vielmehr über eine Art „Straßenverkehrsordnung“ nachgedacht werden. In der kann genau geregelt werden, wer diese medizinischen Datenautobahnen nutzen darf und wer nicht – und unter welchen Bedingungen.
Dabei sollte auch die politische Dimension eine Rolle spielen: Das deutsche Gesundheitswesen steht unter einem enormen Reformdruck. Dabei kann es nicht nur darum gehen, wie man die Kosten senkt. Man muss vielmehr über effizienzsteigernde Möglichkeiten nachdenken und diese ermöglichen. Ein steigender Versorgungsbedarf, sich verknappende Ressourcen (Ärzt:innnen und erfahrene Pflegende) und die steigende Komplexität (Innovationen in Therapie und Diagnostik) machen auch hier ein Umsteuern erforderlich.
Gesucht: Neue Geschäftsmodelle
Neue Geschäftsmodelle werden gebraucht und müssen entwickelt werden. Dazu gehören zum Beispiel klinische Entscheidungsunterstützungssysteme wie NAVIFY. Dabei handelt es sich um eine digitale Plattform für Onkolog:innen, die wie eine Lotsin oder ein Lotse durch die Datenfluten navigiert, Expert:innen vernetzt und die Umsetzung der Präzisionsonkologie nachhaltig unterstützt. Oder Unternehmen, wie etwa Flatiron Health. Die US-Firma, ein Unternehmen der Roche-Gruppe, setzt auf Aufbereitung von Gesundheitsdaten nach einheitlichen, qualitätsgeprüften Maßstäben und ermöglicht es damit, dass aus RWD anwendbares medizinisches Wissen wird. Flatiron Health macht aus Daten fundierte Entscheidungsgrundlagen. Auch die Evidenz für die Zulassung des Arzneimittels gegen männlichen Brustkrebs stammt aus Daten des Unternehmens. Die Idee dahinter: Aus den Daten jeder einzelnen Patient:in zu lernen, um das Leben mit Krebs zu verbessern.
Darum geht es auch bei einem Pilotprojekt, das Roche zusammen mit dem Comprehensive Cancer Center des Klinikums der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) gestartet hat. Dahinter steht die Idee, dass vor allem eine Verbesserung der Vernetzung innerhalb der Medizin große Chancen mit sich bringen kann, um innovative Therapiekonzepte schneller in die Behandlungsrealität zu überführen. Dafür soll eine klinisch-genomische Datenbank aufgebaut werden, die eine möglichst personalisierte Therapie ermöglichen kann. Auch mit dem Universitätsklinikum Freiburg geht es gemeinsam in diese Richtung: Geschaffen werden soll ein gemeinsamer Datenraum, um Versorgungsdaten noch besser zu durchdringen, damit interdisziplinäre Tumorboards bessere Entscheidungen treffen können. Denn hinter jedem Datenpunkt stehen Entscheidungen, aus denen gelernt werden kann: Erfolge, die sich wiederholen lassen; Misserfolge, die vermieden werden können. Die smarte Krebsmedizin lässt grüßen: Intelligente Datennutzung kann Fortschritt beschleunigen.
Weil dieses Herauswachsen aus der analogen Welt noch einige Jahre in Anspruch nehmen wird, sollte zunächst „klein“ angefangen werden, indem man zum Beispiel mit einer Indikation startet. Schließlich sind die Herausforderungen auch so noch groß genug. Denn selbst, wenn die entsprechende Infrastruktur in Form von integrierten Forschungsnetzwerken stehen sollte, müssen die Berechnung der Daten und ihre Analyse unter strengen evidenzbasierten Kriterien stattfinden. Die Onkologie würde sich dafür anbieten, um das RCT-RWE-Konfluenz-Modell anzuwenden. Doch sollte immer beachtet werden, dass aus Datenströmen auch viel Unsinn herausgelesen werden kann, wenn man es nicht richtig macht. Die Qualität der Daten und die zu entwickelnden Algorithmen müssen darum höchsten Qualitätskriterien genügen. Und auch ein kontinuierliches Investment in die entsprechende Datensicherheitstechnologie muss gewährleistet sein.
Ein dickes Brett, das da zu bohren ist.
Aber eines, das sich zu bohren lohnt. Pa-tient:innen könnten von einer wirklich patientenzentrierten Versorgung profitieren. Die Translationsgeschwindigkeit, also das Tempo, mit dem Forschungsergebnisse in der realen Versorgung ankommen, wird beschleunigt und die Werthaltigkeit der Innovation kann besser erfasst und geschätzt werden. Ärzt:innen können zunehmend auf evidenz-basierte Erkenntnisse zurückgreifen, weil Tiefe und Breite des medizinischen Wissens zunehmen. Und für pharmazeutische Unternehmer ergeben sich wertvolle Erkenntnisse für Forschung, Entwicklung und Zulassung.
Die Medizin der Zukunft ist datengetrieben
Die aus Versorgungsdaten generierte Evidenz liefert schon heute wertvolle Erkenntnisse, die die Ergebnisse aus den randomisierten klinischen Studien komplementär ergänzen. Nun muss man Mut haben, in die Zukunft schauen und sich fragen: Welche Bereiche, seien es Arzneimittel, Medizinprodukte oder Diagnostika, können am meisten von der strukturierten Nutzung von RWD profitieren? Um das umzusetzen, brauchen wir ein neues Denken, wie Forschung, Entwicklung und Zulassung von Arzneimittelinnovationen in der Zukunft aussehen kann und soll. Es braucht Klarheit über Rollen in diesem Prozess. Es braucht Klarheit über die internationale Organisation. Der evidenzbasierten Medizin tut dies kein Abbruch; vielmehr ist das RCT-RWE-Konfluenz-Modell genau im Sinne ihres Grundgedankens (Sackett et al. 1996): „It‘s about integrating individual clinical expertise and the best external evidence.“
Dabei sollte allen klar sein: Wenn wir die sich durch Digitalisierung ergebenden Möglichkeiten nicht nutzen, werden wir ganz viele Chancen vergeben, um die medizinische Versorgung zu optimieren. Für eine nationale Gesundheitspolitik ist das brisant. Die Digitalisierung wird mittel- bis langfristig in digital organisierten Ländern Transparenz über die damit verbundene Leistungsfähigkeit zutage fördern. Deshalb gilt es nun, aus vielen Gründen das Beste aus den beiden Welten ohne Scheuklappen zusammenzuführen und effizient zu organisieren. Für eine Medizin, die genauer hinschauen kann. Für eine Medizin, die schneller lernt, sicherer ist und effizienter: „Living Guidelines“-Logik für die Versorgung und gleichermaßen patientenrelevante Impulse für die Arzneimittelforschung in Echtzeit. Für eine Medizin, die schlicht besser ist.
Es heißt: Die Medizin der Zukunft ist patientenzentriert und datengetrieben. Aber eigentlich müsste es heißen: Erst wenn sie datengetrieben ist, wird sie wirklich patientenzentriert sein. <<
von:
Univ.-Prof. Dr. Dr. Klaus Nagels 1
Dr. Claudia Ivascu 2
1: Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement und Versorgungsforschung, Universität Bayreuth
2: Innovation Lead, Health System and Governmental Affairs, Roche Pharma
Korrespondenzadresse:
Universität Bayreuth
Lehrstuhl für Medizinmanagement und Versorgungsforschung
Univ.-Prof. Dr. Dr. Klaus Nagels
Parsifalstrasse 25
95445 Bayreuth
eMaiL: Klaus.Nagels@uni-bayreuth.de
Zitationshinweis: Nagels, K., Ivascu, C.: „Medicine meets Digital: Plädoyer für ein neues Denken“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/22), S. 40-43. http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2461
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