Qualität und Patientensicherheit im Licht der SARS-CoV-2-Epidemie
doi: http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2378
Im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2/Covid-19-Epidemie sind zahlreiche Grundannahmen, wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Vorgehensweisen zur Thematik Qualität und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung neu zu justieren. Hierzu gehören die Begriffsbestimmung, die Patientenorientierung in Abgleich zu anderen Perspektiven der Zielorientierung, die Methoden der Quantifizierung einschließlich des Indikatorenkonzeptes, die Generierung und Wertung sowie Synthese von Wissensbeständen und vor allem die Methoden zur Qualitätsverbesserung. Ein nachhaltiges Quality Improvement, das hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten klar gezeigt, wird nicht durch punktuelle Einzelmaßnahmen, sondern nur durch ein sinnvoll aufeinander abgestimmtes Maßnahmenbündel erreicht (Komplexe Mehrfachinterventionen). Paradoxe und unerwartete Ereignisse bzw. Ergebnisse stellen keine Auffälligkeiten dar, sondern sind bei einem hochgradig komplexen Geschehen wie einer epidemischen Situation an der Tagesordnung. Sie erfordern daher ein Zusammenwirken von mehreren Fachdisziplinen, auch außerhalb des engeren Bereiches der medizinischen Forschung. In der Zusammenschau muss sich die wissenschaftliche Diskussion im Bereich quality and safety rasch und energisch mit diesen Themen auseinandersetzen, will sie nicht einen Bruch mit ihren bisherigen konzeptionellen Grundlagen und damit eine zukünftige Entwertung ihrer Sichtweisen riskieren.
Quality and patient safety in the light of the SARS-CoV-2-epidemic
In the context of the SARS-Cov-2/Covid-19 epidemic, numerous basic assumptions, scientific findings, and practical approaches to the topic of quality and safety in health care need to be readjusted. These include the definition of terms, patient orientation in alignment with other perspectives of goal orientation, methods of quantification including the indicator concept, generation and valuation as well as synthesis of knowledge assets, and most importantly, methods of quality improvement. Sustainable quality improvement, as research has clearly shown in recent decades, is not achieved by selective individual measures, but only by a meaningfully coordinated bundle of measures (complex multiple interventions). Paradoxical and unexpected events or outcomes do not represent anomalies, but are the order of the day in a highly complex event such as an epidemic situation. They therefore require the interaction of multiple disciplines, including those outside the narrow field of medical research. In synopsis, the scientific discussion in the field of quality and safety must quickly and vigorously address these issues if it does not want to risk a break with its previous conceptual foundations and thus a future devaluation of its views.
Keywords
Quality, Patient Safety, SARS2, Indicators, Complex Multicomponent Interventions
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
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Zitationshinweis: Schrappe, M.: „Qualität und Patientensicherheit im Licht der SARS-CoV-2-Pandemie“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF 01/22), S. 77-81. doi: http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2378
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Plain-Text:
Qualität und Patientensicherheit im Licht der SARS-CoV-2-Epidemie
Viele Themen, die in den letzten Jahren die gesundheitspolitische Diskussion in Deutschland und im internationalen Rahmen stark bestimmt haben, sind durch die Corona-Krise in einen fast entrückt erscheinenden Hintergrund getreten1.
Qualitätsorientierung als zentrales Paradigma – wem ist heute noch die Intensität präsent, mit der Mitte des letzten Jahrzehnts die Qualitätsoffensive diskutiert wurde, die Patientensicherheitsthematik ganz im Vordergrund stand, wettbewerbliche Elemente wie Pay for Performance die Gemüter erhitzte, die Patientenautonomie als größtes Gut hochgehalten und die Patient-Reported Outcomes als Cornerstones der Qualitätsmessung gefeiert wurden. Vielleicht besteht heute die schwierigste Aufgabe darin, zwischen der durch Corona bestimmten Gegenwart und den Themensetzungen dieser entfernt erscheinenden Vergangenheit wieder eine Kontinuität herzustellen. Nicht alles kann ja falsch gewesen sein, aber auf der anderen Seite muss erkannt werden, dass durch Corona einige der als unverrückbar gehaltenen Annahmen und Gewiss-heiten von vor gerade eineinhalb Jahren einer intensiven Diskussion und Ergänzung bedürfen. Im vorliegenden Text kann nur das Problem skizziert und anhand einiger Beispiele ein Arbeitsprogramm vorgestellt werden. Eine ausführliche Ableitung der konzeptionellen Konsequenzen auf der Basis der bisherigen Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie und der fachlich-wissenschaftlichen Grundlagen der Qualitäts- bzw. Sicherheitsdiskussion der letzten Jahrzehnte muss der vertiefenden Diskussion der nächsten Jahre vorbehalten bleiben und wird einen erheblich größeren Umfang einnehmen.
>> Die Folgenabschätzung eines epochalen Ereignisses wie der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie verlangt zwingend eine präzise Schilderung der Ausgangssituation prä-Corona. Wenn man hierzu die Erkenntnisse aus den sehr konfliktreichen Diskussionen um Qualität und Patientensicherheit der letzten Jahre zusammenfassen möchte, lassen sich folgende Punkte besonders hervorheben:
• die neutrale Definition von Qualität über die jeweils auszuhandelnden „Anforderungen“, die sich aus objektivem Bedarf, Perspektive der Betrachtung und Strukturrelevanz ergeben, und hinsichtlich derer „Merkmale“ beurteilt werden [1],
• die demgegenüber normative Definition von Patientensicherheit über die „Abwesenheit Unerwünschter Ereignisse“ oder – besser – über die Wahrnehmungs-, Veränderungs- und letztendlich Innovationsbereitschaft von Institutionen und System [2],
• der komplexe Charakter der Gesundheitsversorgung, der nicht zuletzt auch in der Emergenz von patientensicherheitsrelevanten Ereignissen zutage tritt [2],
• die differenzierten und hinsichtlich der statistischen Anforderungen klar voneinander abzugrenzenden Methoden der Erfassung von Qualität und Sicherheit, die vom wissenschaftlichen Zugang (Experiment) über die quantitative Erfassung im Behandlungsalltag großer Kollektive und über den Monitoring-Ansatz des Indikatorenkonzeptes bis zu den generierenden Verfahren reicht, die dem Erkenntnisgewinn im Bereich der sog. Unknown Unknowns dienen (z.B. CIRS oder Surveillance-Methoden im Arzneimittelbereich) [2],
• der zentrale Einsatz von Patient-Reported Outcomes, also Ergebnissen der Behandlung, die nur von Patienten berichtet werden können (im Zusammenhang mit der Patientenzentrierung der Behandlung) [3],
• die regelbasierte Identifikation, Bewertung und Synthese von wissenschaftlichen Studien (evidenzbasierte Medizin und darauf aufsetzend Methodiken der Versorgungsforschung) [4], und
• das umfassende Wissensgebäude zu Wirksamkeit von Interventionen, die eine Qualitätsverbesserung (quality improvement) erreichen können, in einem komplexen Kontext selbst komplexer Natur sind und in der Folge nur dann wirksam sein können, wenn sie aus mehreren, sorgfältig aufeinander abgestimmten Einzelinterventionen zusammengesetzt sind (sog. Complex Multicomponent Interventions) [5].
Corona – die ultimative Herausforderung
Die vorgenannten Punkte können zwar als konsolidiert angesehen werden, stellten aber auch prä-Corona keinesfalls eine „ruhende Situation“ dar. Trotzdem sind die aktuellen Herausforderungen durch Corona von derart mächtiger Natur, dass manche vormals energisch geführte Debatten, wie z. B. zur Bedeutung von Abrechnungsdaten in der Bewertung der Versorgungsqualität oder der Sinnhaftigkeit der Patientenzentrierung aus heutiger Sicht, fast als irrelevant erscheinen könnten. Natürlich ist nicht zu übersehen, dass die durchschlagende Bedeutung von Corona nicht allein auf dem Feld von Qualität und Patientensicherheit zu diskutieren ist, denn es werden Konflikte ausgetragen, die bereits präexistent waren und nun im Zusammenwirken eine solche Relevanz erlangt haben, dass sich geradezu von einem Zeitenwechsel sprechen lässt (zur politischen Theorie s. [6]). Allerdings wird leicht ein im medizinisch-biologischen Feld liegender Aspekt übersehen, nämlich die Tatsache, dass eine Epidemie durch eine Infektion durch ein infektiöses Agens hervorgerufen und als übertragbare Infektionskrankheit sichtbar wird. Dieser Umstand ist unter dem Blickwinkel der Qualität (und Sicherheit) der Versorgung von einzigartiger Bedeutung: Infektionen stellen das einzige Qualitäts- bzw. Sicherheitsproblem dar, das übertragbar ist, also eine eigene biologische Aktivität aufweist. Epidemisch auftretende Infektionskrankheiten tangieren das Miteinander von Patient und Gesellschaft in einem deutlich höheren Maße als andere Erkrankungen. Wie unterschiedlich die Gesellschaften damit umgehen – das Spektrum reicht von Australien bis Schweden und lässt letztlich einen Blick in die innere Verfasstheit einer Gesellschaft zu. Festzuhalten ist jedoch, dass Qualitätsprobleme bei einer Infektionserkrankung neben der individuellen Perspektive besonders stark die Populations- und gesellschaftliche Perspektive betreffen, und zwar nicht nur indirekt (z. B. über die Kosten), sondern direkt: über die Verbreitungskinetik der Erkrankung und die daraus resultierende Krankheitslast.
Qualitätsbegriff unter Stress
Es steht folglich außer Zweifel, dass die Corona-Epidemie Anlass gibt, neben der individuellen auch die regionale Populations- und gesellschaftliche Perspektive in die Formulierung des konstituierenden Begriffs der „Anforderung“ mit einzubeziehen. Allerdings sind die bisherigen Qualitätskonzepte nicht in der Lage, die Vielfalt der Perspektiven adäquat abzubilden. Es kann hier nicht darum gehen, Donebedian zu hinterfragen, auch sind bidimensionale Konzepte wie die der OECD bzw. IQTIG [7] weiter gültig (wenngleich nicht zufriedenstellend), doch zeigt die aktuelle Diskussion um Corona, dass differenziertere Konzepte dringend notwendig sind, die die gesellschaftliche in Ergänzung der individuellen und institutionellen Perspektive dezidiert berücksichtigen. In „Qualität 2030“ [8] hat der Autor ein Konzept vorgestellt, das die Frage der Perspektive als eine von drei Dimensionen explizit abbildet (s. Abb. 1). Eine ähnliche Erweiterung ist hinsichtlich der Outcome-Betrachtung in der Versorgungforschung vorzunehmen: es zählt, was wirklich beim Patienten ankommt, aber es zählt ebenso, was auf Ebene der Populationen, regional oder als staatliche Struktur definiert, realisiert wird [9].
Die Populations- bzw. gesellschaftliche Perspektive ist auch bei der Verlaufsbeurteilung von entscheidender Bedeutung, denn die regionale Betroffenheit durch Corona ist extrem unterschiedlich und schwankt im zeitlichen Verlauf. Waren es einmal die Metropolen, die als „Aerosolhöllen“ für die Verbreitung zuständig erschienen, machten nur ein paar Wochen später die ländlichen Regionen am meisten Sorgen. Waren es einmal die „Champions“ (Beispiel Irland), die alles „im Griff hatten“, bricht dort nur kurz später die Epidemie wieder mit aller Macht los. Wie diese Entwicklung im Einzelnen zu erklären ist, das wird späteren Analysen vorbehalten sein, lineare Modelle werden kaum adäquate Erklärungen liefern können.
Andere Perspektiven des Qualitätsbegriffes sind weit in den Hintergrund getreten, z.B. der Nutzen einzelner Maßnahmen, obwohl dieses Thema in den letzten Dezennien die Diskussion stark beherrscht hat. Man kann fast von einer Krise der Evidenz-Generierung sprechen, die bei der Nutzenbeurteilung eine so große Rolle spielte; vielerorts wurde ein Rückfall in die vorwissenschaftliche Welt konstatiert. Randomisierte Studien, Wertung von Studien gemäß ihrer methodischen Stärke, nachvollziehbare Synthesen von Wissen – Fehlanzeige. Stattdessen dominieren Meinungen, es werden Einzelwissenschaftler zu Instanzen erklärt, Vorveröffentlichungs-Server werden zu wichtigen Informationsquellen, und der methodische Diskurs weicht der skandalisierenden Meldung. Teilweise wurde sogar offen gegen Einrichtungen der evidenzbasierten Medizin polemisiert, und es waren mehrere dringende Appelle notwendig, um das völlige Überbordwerfen einer kritischen Rezeption von Wissen und Erfahrung zu verhindern. Gleiches gilt für die Patienten und Patientenrechte, die noch vor wenigen Jahren gesetzlich stark betont worden waren (s. Patientenrechtegesetz von 2013). Natürlich wird alles Mögliche getan, um in dieser schweren Zeit Patientenleben zu retten, trotzdem waren Besuchsrestriktionen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit an der Tagesordnung, auch wenn z.B. ältere Personen dezidiert den Wunsch äußerten, auch auf die Gefahr einer Infektion Kontakte zur Außenwelt aufrechtzuerhalten (zur Frage der Aufklärung vor Corona-Impfung s. [10]). Mitarbeiter im Gesundheits- und Pflegedienst spielen unfreiwillig das Sprachrohr für „Patient-Reported Outcomes“, wenn sie von erhöhter, zum Teil dramatisch erhöhter Aggressivität und Verzweiflung von Patienten berichten, vom Schicksal Sterbender ganz zu schweigen.
Zur Verwendung von quantitativen Maßzahlen
Die Corona-Epidemie hat eines der Grundgesetze der Quantifizierung komplexer Versorgungsprobleme wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht: Möchte man die Rate nosokomialer intravasaler Katheterinfektionen auf einer Intensivstationen erfassen, muss man diese Ereignisse quantitativ erfassen und zur Gesamtzahl der Patienten „at risk“ in Beziehung setzen. Möchte man dagegen der komplexen Fragestellung nachgehen, wie
gut die Versorgung auf einer oder mehrerer Intensivstationen insgesamt ist, kann man ebenfalls die Rate der Katheterinfektionen benutzen, aber als Indikator, also als Vorhersagewert für das Auftreten von Qualitätsproblemen (zur ausführlichen Diskussion [2]).
Einen solchen Bedeutungswandel haben wir auch bei Corona erlebt: War die notification rate (deutsch Mel-
derate, auch ungenau als „Inzidenz“ bezeichnet [11]) zunächst als Wert zur Erfassung der Infiziertenzahl intendiert, wandelte sich der Gebrauch Anfang 2021, und man sprach nun von einem „Indikator“. Diesen Begriff verwendete auch das Bundesverfassungsgericht in den anhängigen Verfahren zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Ausgangssperre. Der Autor hat in einem wissenschaftlichen Fachgutachten zu einem dieser Verfahren dazu ausgeführt, dass es nur dann sinnvoll ist, von einem relevanten Indikator zu sprechen, wenn er [12]
a. statistisch adäquat dargestellt und spezifiziert ist,
b. reliabel (zuverlässig) gemessen werden kann,
c. valide in der Vorhersagefunktion ist (die Probleme nachweisbar vorhersagt),
d. und nicht von dritten Einflussfaktoren (sog. Confoundern) beeinflusst wird (bekannt oder unbekannt), die den Vorhersageprozess verfälschen, oder er muss entsprechend korrigiert werden (Risikoadjustierung).
Diese Bedingungen sind im Falle der in der Corona-Epidemie verwendeten „7-Tage-Inzidenz“ nicht erfüllt und führten zu einem Großteil der Probleme, die bei der Bewältigung der epidemischen Situation auftraten (mangelnde Glaubwürdigkeit der politischen Aktion, unerwartete Verläufe, die nicht vorhergesagt werden konnten etc., nicht einmal die Impfquote konnte offensichtlich messtechnisch erfasst werden). Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, dass nicht reliable Indikatoren in ihrer Vorhersagefunktion nie valide sein können.
Es muss allerdings betont werden, dass diese Situation selbstverschuldet ist und bei Berücksichtigung des Kenntnisstandes, der sich z. B. in der Qualitäts- und Sicherheitsforschung längst etabliert hat, ohne Probleme hätte verhindern lassen. Eine Möglichkeit ist die Kohortenstudie, bei der longitudinal in einer zufällig ausgewählten Population mit regelmäßig durchgeführten Tests eine tatsächliche Aussage zur Neuerkrankungsrate (Inzidenz) leicht hätte machen lassen. Eine andere Option wäre die Etablierung von Indikatoren-Sets, wie sie auch in anderen Versorgungsgebieten eingesetzt werden (ausführliche Übersicht und Diskussion [2]). Ein erster Vorschlag für die Corona-Epidemie kam von der Deutschen Krankenhausgesellschaft [13] und führte völlig richtig eine (längst überfällige) Altersstratifizierung ein. Im genannten Gutachten und in Thesenpapier 8 [6] wurde dieser Ansatz im 14-Tage-Ansatz [11] noch um weitere Indikatoren zu Wirts- und Umgebungsfaktoren sowie um die Testfrequenz erweitert (s. Tab. 1).
Der Interventions-Goldstandard:
Komplexe Mehrfachinterventionen
Hinzu kommen grundsätzliche Überlegungen, die das Verständnis einer Epidemie und der Strukturierung von Präventionsmaßnahmen betreffen. Es kann keinen Zweifel geben: es reicht nicht aus, an einer einzigen Schraube zu drehen. Jede Einpunkt-Strategie ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, das haben jahrzehntelange Versuche und Studien, z. B. in den Bereichen nosokomialer Infektionen oder Patientensicherheit, deutlich gezeigt. Dabei ist es unerheblich, ob man eine Einpunkt-Intervention auf Vorschriften („Gebote“), auf Sanktionen, auf technische Systeme, auf Training, auf wissensbasierte Überzeugungsarbeit oder auf finanzielle Anreize aufbaut – das Ergebnis ist jedes Mal das Gleiche: wenn überhaupt ein Effekt zu beobachten ist, dann ist er klein, nur kurzfristiger Natur und verschlechtert mittelfristig die Stimmung („war ja wieder nichts“).
Der Grund für dieses vorhersehbare Versagen von Einpunkt-Interventionen liegt in der Eigenschaft komplexer Systeme, punktuelle Änderungen und Reize aus der Umgebung zu absorbieren und den vorherigen Zustand wieder einzunehmen. Anhaltende Veränderungen können in komplexen Systemen nur durch Mehrfachinterventionen initiiert werden, die zeitgleich oder in zeitlich gut abgestimmter Art und Weise verschiedene Interventionsebenen koordiniert einsetzen. Zusätzlich zu den o.g. Interventionsebenen sollten dabei auch Gruppentrainings, soziale Wertschätzung etc. Berücksichtigung finden. Man spricht auch von complex multicomponent interventions (CMIs), ein Konzept, das in der Bekämpfung und Steuerung von Krankenhausinfektionen entwickelt und wissenschaftlich umfangreich evaluiert wurde. Die Präventionsmaßnahmen zur Beherrschung und Steuerung einer Epidemie vergleichbar mit SARS-CoV-2/Covid-19 ist der typische Fall, in dem solche komplexen Mehrfachinterventionen eingesetzt werden müssen.
Die CMIs gehen auf wissenschaftliche „landmark“-Studien (Leuchtturm-Studien) im Bereich infection control (Infektionssteuerung) in den USA zurück, wo man vor mehr als 20 Jahren versucht hat, dringend notwendige Maßnahmen zur Beherrschung von infektions-epidemiologischen Notsituationen zu entwickeln, die in ihrer Wirksamkeit die begrenzte Effektivität traditioneller Ansätze übertreffen können. Diese sog. Michigan-Studien von Peter Pronovost et al. [14] gingen zunächst von überregionalen Krankenhaus-Assoziationen aus (waren also organisationstheoretischen Ursprungs), wurden aber umfangreich international repliziert und dürfen heute als Standard jeglicher Bemühungen gelten, im Bereich Infektionsmanagement (infection control) nachhaltige Fortschritte zu erzielen. Diese Studien gingen von der Einsicht aus, dass Epidemien zwar auf ein biologisches Agens (Erreger) zurückgehen, im Kern aber soziale Geschehen darstellen, die nur durch ein Angreifen an mehreren Punkten zugleich in den Griff zu bekommen sind. Die eindimensional-lineare Vorstellung, man bräuchte im Falle SARS-CoV-2/Covid nur die Übertragung zu verhindern (die bekannte „R-Faktor unter 1“-Forderung), kann vor diesem Hintergrund nur als reduziert und letztlich veraltet klassifiziert werden. Auf die immer wieder geäußerte Frage, warum denn diese Ansicht trotzdem fortwährend vorgetragen würde und in den Medien wie in der Politik eine so durchschlagende Aufmerksamkeit auf sich zieht, kann nur geantwortet werden, dass so gut wie alle Experten, die persönlich mit Epidemien in entwickelten Ländern selbst Erfahrung sammeln konnten (z.B. HIV-Infektion, nosokomiale Infektionen) und nicht nur einen molekulargenetischen bzw. big- data-getriebenen Hintergrund haben, über solche komplexen Interventionen als Schlüssel zum Erfolg berichten. Diese Experten wenden sich auch darüber hinaus den praktisch relevanten Fragestellungen zu (wie die Frage der Übertragung über unbelebte Gegenstände im März 2020).
Arbeitsprogramm: Qualität und
Sicherheit post-Corona
Der eingangs geschilderte, vor Corona erreichte Diskussionsstand muss in einer konzertierten Anstrengung der fachkompetenten Einrichtungen und wissenschaftlichen Institutionen daraufhin überprüft werden, inwieweit durch die Corona-Epidemie Anpassungen oder Erweiterungen notwendig geworden sind. In erster Linie sind folgende Themen zu beachten:
• Die gesellschaftlichen, regionalen und Populations-Perspektiven müssen bei der Formulierung der Anforderungen an die Qualität der Gesundheitsversorgung eine größere Relevanz erfahren. Diese Relevanz vergegenständlicht sich nicht nur in Abgrenzung von der institutionellen Perspektive, sondern auch in Abgrenzung zur individuellen Patientenperspektive – die stark utilitaristisch argumentierenden Standpunkte, die in den letzten Monaten laut geworden sind, lassen dies unumgänglich erscheinen. Hierbei muss strikt auf eine akkurate Spezifizierung der entsprechenden Anforderungen geachtet werden.
• Das Verständnis von Patientensicherheit muss daraufhin abgeklopft werden, ob es in der bisherigen Form beibehalten werden kann, und in welcher Form gesellschaftliche Faktoren in der Verwirklichung von Patientensicherheit gegenüber dem individuellen Schutz vor Unerwünschten Ereignissen unter den Bedingungen einer Epidemie verlässlich eingefordert werden können.
• Hinsichtlich der Messung von Qualität und Sicherheit ist unter Wahrung der differenzierten Anwendung der unterschiedlichen Methoden zu prüfen, wie es zu einem Rückfall in die Nutzung singulärer, größtenteils weder reliabler noch valider Messwerte kommen konnte, und wie validere Messinstrumente (z.B. Scores oder quantitative Messwerte aus Kohortenstudien) entwickelt werden können, gerade auch im Hinblick auf evtl. zukünftig auftretende Epidemien.
• Zur Patientenzentrierung und den Patient-Reported Outcomes hat ein grundlegendes Nachdenken darüber einzusetzen, ob es sich hierbei wirklich um ein belastbares Konzept handelt, oder sich hier eine wissenschaftlich-fachliche Modeerscheinung verselbständigt hat, die bei der ersten tatsächlichen Belastungsprobe völlig irrelevant geworden ist.
• Die Evidenzgenerierung und -synthese durch die EBM stellt eine der wichtigsten Errungenschaften der Gesundheitswissenschaften der letzten Jahrzehnte dar und war immer eng mit der Thematik Qualität/Sicherheit verbunden. Hier ist zu diskutieren, wie es möglich war, dass wieder eminenzgenerierte Vorgehensweisen in den Vordergrund traten und Personen bzw. Institutionen, die sich für die Methodik der EBM auch hinsichtlich Corona einsetzten, sogar angegriffen und diffamiert wurden. Dieser Aspekt ist für das Wissenschaftssystem von vorrangiger und übergreifender Bedeutung.
• Bei der Planung von Präventionsmaßnahmen und anderen Interventionen sind die Komplexen Mehrfachinterventionen (Complex Multicomponent Interventions) als Standard zu berücksichtigen. Das Beharren auf einer einzigen Maßnahme (z.B. Lockdowns) ist längst überholt und sollte durch intelligente komplexe Interventionen abgelöst werden. In der praktischen klinischen Infektions-epidemiologie existieren hier zahlreiche, wissenschaftlich hervorragend evaluierte Instrumente und Vorgehensweisen. <<