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Theorien für „den Blick aufs Große und Ganze“

29.01.2022 07:00
„Wenn man sich wie wir als eine große Versorgerkasse mit der Messung von Ergebnissen und Methoden beschäftigt, stellt sich die Frage, welche Theorie hinter der Messung steckt“ (Teichert). „Theorien sind Denkmuster. Theorien sind Arten, wie man Probleme versteht, wie man Sachen angeht“ (Amelung). „Fehlende Theorie ist nicht nur ein wissenschaftliches Problem, sondern auch ein Problem für die Praxis“ (Pfaff). Drei Stimmen, drei Sichtweisen zur Frage, ob die Versorgungsforschung eigene Theorien hat, oder – falls diese noch nicht gefunden und konsentiert wurden – ob sie sie überhaupt braucht. Beim Fachkongress „Theorie wagen“, den „Monitor Versorgungsforschung“ Ende letzten Jahres in Kooperation mit dem Bundesverband Managed Care e.V. (BMC) online durchgeführt hat, wurde schnell klar, was schon in den Zitaten von Daniela Teichert, der Vorstandsvorsitzenden der AOK Nordost, Prof. Dr. Volker Amelung, dem Vorstandsvorsitzenden des BMC, und Prof. Dr. Holger Pfaff, dem Direktor des Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der Universität zu Köln, deutlich wurde: Versorgungsforschung braucht nicht nur eine Theorie, sondern sehr viele, die es in den Wissenschaftsgebieten um sie herum zuhauf gibt. Man muss sie nur kennen und nutzen (wollen).

http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2368

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>> „Wenn es um die Frage geht, welche Veränderung das Gesundheitssystem braucht und wie man die Veränderung erarbeitet und realisiert, wäre es wichtig, dass man eine gute und fundierte Theorie dafür hätte“, erklärte Teichert in ihrem Begrüßungswort, da der Fachkongress eigentlich im Scharounsaal der AOK Nordost hätte stattfinden sollen, aber wegen Corona dann doch online durchgeführt wurde. Die Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost ist der festen Überzeugung, dass eine gute theoretische Grundlage „uns als Krankenversicherung in vielen Fällen die alltägliche Arbeit leichter machen“ würde. Besonders in hochkomplexen Projekten, wie dem der Strukturmigration Mittelbereich Templin, gebe es noch viele offene Punkte. Auch wenn die AOK Nordost sehr gute Ergebnisse in diesem Projekt erkennen würde, wäre es – so Teichert – „wirklich wichtig, eine gute theoretische Grundlage zu haben, um die Bewertung für alle Seiten einfacher zu machen“. Dies gelinge nur, so schränkte Teichert ein, „wenn die Schaffung theoretischer Grundlagen mit der Forderung nach konkreter Ergebnisorientierung verbunden ist“.

Theorien für bessere Entscheidungen

Derlei Theorien gibt es. „Es ist extrem wichtig, dass wir nicht von einer Theorie sprechen, sondern von ganz unterschiedlichen, zum Teil ganz alten Theorien“, gab Prof. Dr. Volker Amelung als BMC-Vorstandsvorsitzender und Kooperationspartner des Kongresses „Theorie wagen“ in seinem Grußwort zu Protokoll. So könne man mit der schon 1937 von Coase beschriebenen Transaktionskostentheorie der Frage nachgehen, wie gute Netzwerkstrukturen funktionieren und wie Organisationen aufgebaut sein müssen, um erfolgreich zu sein. Auch könne die Prinzipal-Agenten-Theorie dem Gesundheitswesen besonders für die Frage von Delegation wichtige Impulse geben oder erklären, wie mit Informationsasymmetrien umzugehen ist. Andererseits könne man die Pfadabhängigkeitstheorie sehr gut dafür einsetzen, um zu verstehen, warum zum Beispiel die Digitalisierung so langsam voranschreitet. Oder wo deren „Critical Junctures“ zu verorten sind, also jene Ereignisse, die eine Wende oder eine blockierte Situation auflösen könnten.
Als grundlegendes Theorienmuster nannte Amelung aber auch die Glücksökonomie, mit der Fragen der Arbeitszufriedenheit erklärt werden können, oder welche Anreizmodelle tatsächlich gebraucht werden, um mehr Qualität erzeugen zu können.  Amelung: „Es ist wichtig, diese unterschiedlichen Theorien zu kennen und zu wissen, wo man welche einsetzen kann, um Dinge zu erklären, die sich Erklärungsversuchen aus Wissenschaft und/oder Praxis bisher verschlossen haben.“ Dazu müsse man aber auch dazu übergehen, sich weniger auf Einzel-Studien zu fokussieren, sondern zu versuchen, vor allem komplexe Interventionen auf einer Art Metaebene zu verstehen.
„Wenn wir vom geordneten klinischen Setting  in das Chaos der  Versorgungsrealität  kommen, müssen wir verstehen lernen, was dort passiert und warum etwas so geschieht, wie es geschieht“, sagte Amelung. Das sagte er, weil er als Geschäftsführer von inav, eines Unternehmens, das schon sehr viele Innovationsfondsprojekte begleitet und evaluiert hat, erkannt hat: „Wenn man die abgeschlossenen Projekte betrachtet, ist häufig  nicht das Endergebnis das Spannendste, sondern das, was wir unterwegs gelernt und verstanden haben, was funktioniert und was nicht funktioniert.“
Genau an diesem Punkt seien gefestigte Theorien das Mittel der Wahl. Nicht nur um die Wissenschaft selbst voranzubringen, sondern vor allen Dingen, um die Rolle der Wissenschaft vom einzelnen Datenpunkt und der singulären Erkenntnis auf eine neue Ebene zu bringen. Amelung: „Wenn wir über Theorien und über Wissenschaft reden, müssen wir uns bewusst machen, dass Wissenschaft nicht selbst entscheidet, sondern lediglich gesellschaftliche oder politische Entscheidungen mit evidenzbasierten Fakten unterstützen kann.“ Theorien hätten Amelungs Meinung nach die Kraft, zum einen Aussagen von Studien anzureichern, zum anderen Diskussionen zu entideologisieren und damit letztlich ein höheres Diskussionsniveau zu erreichen.
Dies würde dabei helfen, diejenigen zu unterstützen, die Entscheidungen zu treffen haben – sei es Vorstände von Krankenkassen, die Selbstverwaltung oder die Politik – und damit gute Entscheidungen erst möglich machen. Amelung: „Es muss das Verständnis unserer Rolle sein: Nicht nur zu versuchen, Theorien zu formulieren, um uns in der Versor-gungsforschung nach vorne zu bringen, sondern um die Bedeutung dieser Wissenschaftsrichtung als solche neu aufzuladen.“

Es gibt nicht die eine Theorie

Mit dem Satz „nichts ist praktischer als eine gute Theorie“ zitierte Prof. Pfaff vom IMVR Kurt Lewin, den emigrierten, führenden Sozialpsychologen Deutschlands, der postuliert hätte, dass die Theorie die Praxis anleiten sollte. Für Pfaff wiederum braucht jede Wissenschaft Theorien, um den „Suchprozess nach guten Lösungen in der Praxis zu strukturieren“.
Dieser Pfaff‘sche Satz hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie man weltweit und vor allem auch in Deutschland Versorgungsforschung betreibt, sichtbar geworden in den vielen Innovationsfondsprojekten: mit dem erklärten Anspruch und Willen, ein praktisches Problem zu lösen, wäre zu wenig bis überhaupt nicht auf eine mögliche Theoriegrundlage geachtet worden. Pfaff: „Es gibt aber immer ein Vorher, das das Nachher bestimmt. Wer sich theorielos ans Werk macht, um komplexe Probleme gleich welcher Art zu lösen, wird sich auf der Projektebene zumeist in einem Trial-and-Error-Prozess und auf der Evaluationsebene in einem Puzzlespiel wiederfinden, ohne Halt und Orientierung.“
Gerade auf der Ergebnisebene sei es wichtig, sich vor- und nicht erst nachher mit der Frage der dem Versuch zu Grunde liegenden Theorie auseinanderzusetzen. Pfaff: „Es ist ein ganz wichtiger Punkt, sich vor Beginn eines Projekts mit der Theorie auseinanderzusetzen, denn im Nachhinein ist es nahezu unmöglich, eine Theorie dem Projekt anzupassen.“
Dazu muss ein Versorgungsforscher jedoch erst einmal wissen, welche Theorien es überhaupt gibt; und dies, obwohl in Deutschland Theorielehre noch nicht einmal im Curriculum steht. Es gebe zudem, so Pfaff, Wissenschaftler, die meinten, es könne nur eine richtige Theorie geben. Dies sei aber falsch, denn es gebe einen ganzen Werkzeugkasten, den man auf die Fragestellungen des hochkomplexen und ebenso kontextsensitiven Versorgungssystems anwenden könnte, das man immer nur akteurs-, kultur- und  wissenschaftsübergreifend verstehen könne. Pfaff: „Das heißt auch, dass wir verstärkt die Kulturen auch in der Wissenschaft zusammenbringen müssen, die bisher oft noch gar nicht miteinander geredet haben.“
Dem begegne man seit einiger Zeit an der Universität zu Köln mit einem sogenannten Brückeninstitut zwischen der medizinischen, der humanwissenschaftlichen und seit kurzem auch der sozialwissenschaftlichen Fakultät, die als eine Art „Research Triangle“ funktionieren. Wobei gerade der Sozialwissenschaft eine Kernrolle zukomme: Man könne sich laut Niklas Luhmann das Versorgungssystem als eine Funktion verschiedener Teilsysteme vorstellen: technische Systeme mitsamt dem Einsatz digitaler Medien, das Körpersystem, also das, was der Mediziner beherrscht, und schließlich das psychische System, also der Art und Weise, wie einzelnen Akteure von ihrem Denken, Fühlen und Handeln her zusammenarbeiten – oder eben auch nicht.
Ergänzend dazu gibt es aber auch noch das soziale System, das die Interaktion zwischen Arzt und Patient, aber auch die des gesamten Versorgungsteams und der -organisation determiniert. Schließlich existiert nach Pfaff noch ein kulturelles System, das bei Luhmann gar nicht auftauche. „Wenn man versucht, praktische Probleme in der Versorgung zu lösen, braucht man Theorien darüber, wie die Technik, wie der Körper, wie die Psyche und wie das soziale und kulturelle System funktioniert. Erst dann kann man alle diese Systeme in irgendeiner Form adressieren und in einen logischen Gesamtzusammenhang bringen“, sagte Pfaff und erklärte damit sehr deutlich, warum es nicht die eine, alleserklärende Über-Theorie, die es auf die Versorgungsforschung anzuwenden gilt, geben könne.
Wie kommt man nun auf eine (oder auch mehrere) für ein Projekt passende Theorie? Hier gibt Pfaff den wichtigen Hinweis, dass sich die zu verwendenden Theorien am primären Outcome orientieren müssten. Ähnlich wie beim RCT das Studiendesign durch die vorher formulierte These und den festgelegten Endpunkt bestimmt wird, muss sich ein Versorgungsforscher beim Aufsetzen eines neuen Projekts eine Frage stellen: Was will ich mit welcher zu erklärenden Variable erreichen? Pfaff: „Die Theorie hängt immer von der zu erklärenden Variable ab.“ Wer verschiedene Outcomes hätte, brauche eben auch unterschiedliche Theorien. Da dies jedoch eine große Herausforderung sei, wäre es hilfreich, einen einzigen primären Outcome festzulegen und für diesen die passende Theorie zu finden.

Wissenschaftsverständnis der Versorgungsforschung

In der aktivistischen Zeit, in der wir derzeit leben, sei es ziemlich riskant, einen Kongress zu wagen, der sich der Diskussion um Theorie verschreibt, sagte Prof. Dr. Matthias Schrappe, wie Pfaff einer der Mitbegründer der deutschen Versorgungsforschung. Man habe sehr häufig das Gefühl, dass erst etwas getan und danach erst gefragt werde, wie das Getane in irgendeine Fachlichkeit, geschweige denn Theorie einzuarbeiten ist. Hier sei es wichtig, zuerst einmal über das Wissenschaftsverständnis der Versorgungsforschung zu sprechen, die aktuell aufgehe in zahllosen Facetten vieler Versorgungswissenschaften, die Schrappe daher ganz bewusst in den Plural setzte. Seine Frage: „Wann braucht man Theorien?“ Seine Antwort: Immer dann, wenn man unter Druck steht.“ Theorie sei dann besonders wichtig, wenn die eigene Arbeitsweise und daraus entstehenden Postulate unter Feuer kommen, wie in den letzten beiden Corona-Jahren schmerzlich bemerkt worden sei. Dann sei es ein Segen, wenn man sich auf ein theoretisches Wissen und ein auf breiten Schultern ruhendes, theoretisches Grundkonzept zurückziehen könne. Schrappe: „Damit kann man nicht nur gute Forschungsergebnisse generieren, sondern auch die nötigen Konsequenzen formulieren und verteidigen.“ Jedoch schränkte er ein, dass ansonsten die ureigene Wissenschaftsrichtung im Großen und Ganzen ungehört unterzugehen drohe, wie das im derzeitigen, an Panik erinnernden Aktionismus durchweg geschehen sei.
Das liege indes auch darin begründet, dass es schwierig sei, die „umsetzungsorientierte Versorgungsforschung unter Alltagsbedingungen“ (ein Begriff, der von Pfaff geprägt worden sei) von Public Health und Gesundheitsökonomie abzugrenzen. Doch wie, so fragte Schrappe, könne man Wissenschaft definieren? Oder: Ab wann ist von Wissenschaftlichkeit zu sprechen? Das Erste, was jede Wissenschaft brauche, sei eine Methodik. Diese sei zu Beginn der Versorgungsforschung in Deutschland in verschiedenen Memoranden formuliert worden, um so „reliable und valide Ergebnisse und die Synthese von Ergebnissen“ zu ermöglichen, wie das auch in der evidenzbasierten Medizin bei der klinischen evaluativen Forschung der Fall sei. Doch brauche man gerade bei der Implementierung von Versorgungsinnovationen vor allen Dingen eine Verhaltensänderung und demzufolge auch eine sozialwissenschaftliche Methodik und, wie bereits Pfaff in seinem Vortrag ausgeführt hätte, „ganz besonders auch deren Theorie“.
Aber eben nicht nur die, meinte Schrappe, der auf die Bedeutung gesundheitswissenschaftlicher und gesundheitsökonomischer Konzepte und Theorien hinweist. Seien es erfahrungsbasierte und intuitive ökonomische Theorien wie die Rational Choice als lineare, nutzenmaximierungsbasierte Theorie. Ebenso werde mit der Verhaltensökonomie, der Prospect Theorie oder dem Governance-Modell versucht, die Komplexität gesellschaftlichen Seins und Funktionierens in ein netzförmiges Modell zu übertragen.

Von Kindern und anderen nicht-trivialen Maschinen

Damit sind wir bei der Organisationsforschung angekommen, die Prof. Dr. Werner Vogd, der Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Fakultät für Gesundheit (Department für Humanmedizin) der Universität Witten/Herdecke in seinem Vortrag „Theorien, um sehen zu können (und zu sehen, was man nicht sieht)“ ansprach. So ließen sich zum  Beispiel die Probleme der nicht-trivialen Maschinen erklären. Vogds einfaches Beispiel: „Jeder, der zum Beispiel versucht hat, Kinder zum Aufräumen zu bringen, kennt das: Man wendet einen Trick an, eine Intervention – drei-, viermal funktioniert das, beim fünften Mal trickst einen das Kind aus, weil sich der innere Zustand des Kindes respektive die Verarbeitungsfunktion des Systems geändert hat und wir damit vor dem Problem stehen, dass diese wunderbare Intervention auf einmal nicht mehr funktioniert.“
Eng damit verwandt sei das Problem der Evolution, das immer dann auftrete, wenn bei Organisationen ein ökonomischer, ökologischer oder anderer Problemdruck dazu führe, dass sich entweder das System oder die Organisation an das System anpassen müsse.
Last but not least sei die Fragilität zu beachten. Jede Intervention könne entweder zu einer Robustheit führen, jedoch ab eines gewissen Grenzwerts auch zu einem Bruch oder zu einer Antifragilität führen. Dies jedoch nur dann, wenn eine Intervention einem System vielfältige Ressourcen zur Verfügung stelle, selbst mit Problemen fertigzuwerden.
Als Beispiel dafür nannte Vogd die sehr unterschiedliche Corona-Politik in England oder in China. Bei beiden stelle sich die Frage, ob die jeweiligen politischen Interventionen zur Antifragilität oder zum Bruch geführt hätten, ob nun aus ökonomischen oder interkulturellen oder ganz anderen Gründen. Dies sei seines Erachtens nach ein sehr wertvolles Thema gerade für die Versorgungsforschung, wenn sie sich diesen Fragen theoriegeleitet mit den vorgestellten metatheoretischen Ansätzen annehmen würde. Als weiteres Theo-
rie-Feld führte Vogd die funktionale Differenzierung der Systemtheorie an, die es erlauben würde, wirklich qualifizierte Qualitätsmanagementinstrumente oder auf Jahre angelegte Krankenhausplanungen einzuführen.
Seine persönlichen Theorie-Favoriten, die sich in der Organisationsforschung bewährt hätten, ist zum einen der Strukturationsansatz von Sydow/Ortmann. Dieser gehe von einer „Achse der Legitimation“ aus, die besa-
ge, dass Gesetze eben nur dann wirken, wenn sie auch sanktioniert werden. Zu sehen ist das nach Vogd bei der Corona-Politik in Sachsen, die schlichtweg Vorgaben nicht sanktioniert. Zusätzlich gebe es auch noch die „Achse der Herrschaft“ sowie die „Achse der Kultur“.
Eine weitere Theorie, mit der er bereits viele gute Erfahrungen gemacht hätte, sei die Habitustheorie. Er könne sich vorstellen, dass gerade dieser Ansatz bei Lotsensystemen eine große Rolle spielen könne, die am zweiten Tag des MVF-Fachkongresses im Mittelpunkt standen (Beitrag dazu in MVF 02/22). Vogd: „Damit kann man sich der Frage nähern, welches symbolische Kapital, welchen Wert  Lotsen zugestanden wird: Anerkennung, Macht oder soziale Stellung, mit der sie gegenüber Ärzt:innen oder anderen Akteur:innen des Gesundheitssystems auftreten und damit ernst genommen werden.“
Ergänzend dazu gebe es noch viele weitere Theorien, die helfen würden, Organisationen in Referenz zur Gesellschaft (Legitimation), zu den Innenspannungen (Entkoppelung) und den Unsicherheitslagen (mimetische Anpassung) zu verstehen:
• Entkoppelung von „Action, Decision and Talk“ (Brunsson 1989)
• „Maintaining the Dream of Rational Organization“ (Brunsson 2006)
• „Institutionalized Organizations: Formal Structures as Myth and Ceremony“ (Meyer/Rowan 1977)
• „Permanently Failing Organizations“
(Meyer/Zucker 1989).
• „Coercive, mimetic and normative isomorphism“ (DiMaggio/Powell 1983)
• „Insitutional Logics“ (Thornton/Ocasio 2012)

Gerade der Institutional-Logics-Ansatz sei nach Vogd geeignet, unterschiedliche Handlungslogiken in Organisationen zu erklären, seien es rechtliche, mikropolitische,  wirtschaftliche, medizinische oder auch pflegerische Logiken, die meist nicht alleine, sondern parallel existieren.
Das AGIL-Schema von Parsons hingegen sei in der Lage zu erklären, warum Krankenhausmanager ganz andere Ziele haben als diejenigen, die das Gesundheitssystem finanzieren. Als letzte Theorie nannte Vogd die Identity Economics, die der Nobelpreisträger Akerlof eingeführt hat. Diese besage, dass Menschen ihre Identität oftmals auch dadurch aufbauen, indem sie gegen Stigmatisierungen agieren. Vogd: „Jedes Mal, wenn wir zum Beispiel gut gemeint sagen, das jemand sozial benachteiligt ist, wird demjenigen ein Stigma auferlegt: Und dann wundern wir uns irgendwann, warum derjenige eine Underdog-Identität aufbaut oder sich gegen die Menschen wehrt, die ihm eigentlich doch nur helfen wollen.“ Dies sei in der Drogen-Szene zu erkennen, ganz aktuell jedoch auch bei Corona-Leugnern.

Der Blick aufs Große und Ganze

In gleich zwei Studien beschäftigten sich Prof. Dr. Lena Ansmann und ihr Doktorand Helge Schnack mit der Frage, warum Krankenhäuser trotz einer relativ hohen und sogar steigenden Anzahl von Ärzt:innen im stationären Sektor immer noch massive Probleme haben, offene Stellen zu besetzen. Als Gründe dafür würden eine Vielzahl verschiedener Faktoren genannt, vom Renteneintritt der Babyboomergeneration, über ein steigendes Patientenaufkommen durch den demografischen Wandel bis hin zu  einer potenziellen Fehlallokation von Ärzt:innen. Um die beiden Forschungsfragen (a: Wie nehmen Krankenhäuser den Ärzt:innenmangel und dessen Einfluss auf das Krankenhaus wahr? Und b: Welche organisationalen Strategien und Maßnahmen nutzen Krankenhäuser, um in dieser schwierigen Situation trotzdem irgendwie klarzukommen?) beantworten zu können, nutzen Ansmann und Schnack die Ressourcenabhängigskeitstheorie (RAT).
Die zentrale Publikation „External Control of Organizations“ sei zwar schon 1978 von den beiden US-amerikanischen Organisationsforschern Jeffrey Pfeffer und Gerald Salancik beschrieben worden, doch könne diese ganz gut erklären, wie es um die Beziehung zwischen der Umwelt und dem Verhalten einer Organisation
selbst steht. Jede Ressource, die eine Organisation braucht – zum Beispiel das Personal und dessen Verfügbarkeit – wird mit dieser Theorie mit Merkmalen dieser Ressource und der Umwelt einer Organisation in eine Beziehung gesetzt, wobei immer dann, wenn  die Ressourcenabhängigkeit groß wird, in der Folge die Unsicherheit steigt. Dies führe dann wiederum dazu, dass Organisationen versuchen, diese Unsicherheit zu minimieren. Dies geschehe durch eine Anpassung an die Umwelt, diversen Bindungs- und Rekrutierungs-Strategien oder den Versuch sich mit anderen Organisationen zusammenzuschließen.
Doch: Warum wird die RAT in der Versor-gungsforschung in (Deutschland) so wenig genutzt? Ansmanns Antwort: Weil RAT hierzulande nicht bekannt ist, weil sie nicht gelehrt wird und weil es zudem relativ wenig Austausch zwischen Wirtschaftswissenschaften und der Versorgungsforschung (Ausnahme Organizational Behavior in Healthcare, z. B. Körner et al. 2018) gebe. Auch sei durchaus eine Angst spürbar, größere Theorien anzupacken und sie auf die Forschung anzuwenden, weil viele das Gefühl hätten, dass sie dann  vielleicht nachher „nicht so ganz spezifisch Aussagen treffen“ könnten. Daher gebe es viele kleinere Studien mit wenig Theoriehintergrund, die aber dann ein wenig „den Blick aufs Große und Ganze“ verlören. <<

von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier

 

Zitationshinweis

Stegmaier, P.: „Theorien für den Blick aufs Große und Ganze“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/22), S. 14-19. http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2368

Hinweis

Hier finden Sie alle Vorträge, Audiofiles und eine Video-Dokumentation des Fachkongresses.

Hier finden Sie die ersten vorgestellten Theorien

Ausgabe 01 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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