Ein Preis für erfolgreiche Projekte mit der Kraft zur Verbesserung
http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2374
>> Bitte vervollständigen Sie folgenden Satz: am besten mit einem einzelnen, gern auch etwas längeren Nebensatz: Innovative Ansätze im Gesundheitswesen sind diejenigen, die …
Amelung: ... den Patient:innen unmittelbar nützen, die zu mehr Effizienz im System beitragen oder – und dieser Punkt wird immer wichtiger – die die Arbeitszufriedenheit derjenigen erhöhen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Idealerweise erfüllt eine Innovation alle drei Punkte zugleich.
Dembski: ... ausgehend vom Bedarf der Patient:innen, für bestehende Probleme oder Lücken in der bisherigen Versorgung kreativ neuartige Lösungen finden, so dass beispielsweise eine bessere Behandlungsqualität erzielt wird, Leistungen mit geringerem Ressourceneinsatz erbracht werden können oder Patient:innen in ihrer Kompetenz und damit Autonomie gestärkt werden.
Gerhards: ... Versorgungsqualität und Effizienz nachhaltig verbessern und dabei kundenzentriert sind sowie den Nutzen von Gesundheitsdaten größtmöglich ausschöpfen.
Grandt: ... patientenrelevanten Zusatznutzen im Vergleich zur bisherigen Routineversorgung schaffen und dabei die Versorgungseffizienz und Patientensouveränität erhöhen.
Greiner: … sich von ausgetretenen Pfaden verabschieden, aber trotzdem praktisch umsetzbar bleiben und einen messbaren Nutzen für Patient:innen aufweisen.
Hess: ... medizinische Versorgung durch neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden oder durch verbesserte Strukturen und Kommunikationswege nach vorne bringen.
Wendel-Schrief: … einen konkreten, relevanten Patientennutzen gezeigt haben oder Versorgungsprozesse – im Idealfall ohne Mehrkosten – optimieren, skalierbar und wirtschaftlich sind.
In einem in dieser MVF-Ausgabe veröffentlichten wissenschaftlichen Beitrag kommen der Rechtsanwalt Dr. jur. Dr. rer. med. Thomas Ruppel und die Versorgungsforscherin Prof. Dr. rer. med. habil. Neeltje van den Berg von der Universität Greifswald zu dem Schluss, dass „der Übergang von Forschungsprojekten in die Regelversorgung zurzeit keinem effektiven Rechtsschutz unterworfen“ ist. Es gebe „weder Rechtsschutz gegen ablehnende Empfehlungen des Innovationsausschusses noch gegen eine unzureichende Umsetzung nach positiver Empfehlung“, ebenso „keinen Rechtsanspruch auf Verstetigung abseits von Innovationsfondsprojekten“. Was wäre Ihrer Ansicht nach Voraussetzung für eine Verstetigung?
Amelung: Das Ziel von Pilotprojekten sollte aus meiner Sicht darin bestehen, Ideen für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens zu liefern. Es geht nicht darum, Forschungsprojekte eins zu eins in die Regelversorgung zu überführen. Die meisten Pilotprojekte sind durch sehr spezifische Versorgungssituationen und teilweise auch durch spezifische Akteure gekennzeichnet. Für die Übertragung in die allgemeine Versorgung müssten sie an vielen Ecken und Enden angepasst werden. Ein wichtiger Schlüssel liegt vielmehr darin, in Blaupausen zu denken und Versorgungselemente zu identifizieren, die in verschiedenen Pilotprojekten immer wieder auftauchen und sich dort bewähren. Beispiele dafür sind etwa Lotsenmodelle, der Einsatz von telemedizinischen Tools, um schwer zu versorgende Regionen zu versorgen, die von Fachkräftemangel bedroht sind, oder Apps, die die Einbindung und Selbstverantwortung der Patient:innen stärken.
Gerhards: Grundvoraussetzungen für eine Verstetigung von Innovationsfondsprojekten sind wissenschaftlich fundierte Nachweise der Versorgungsverbesserung bei verbesserter Effizienz. Dies gilt es bei der Verstetigung des Innovationsfonds und der Entwicklung eines Pfades für die Überführung von Projekten in die Regelversorgung, wie es im Koalitionsvertrag der Ampel verankert ist, zu berücksichtigen. Die entsprechenden Feststellungen zu treffen, gehört dabei eindeutig in den Kompetenzbereich der gemeinsamen Selbstverwaltung.
Grandt: Versorgungsinnovationen mit patientenrelevantem Zusatznutzen müssen behandelt werden wie neue Arzneimittel mit attestiertem Zusatznutzen: Der Patient muss einen Anspruch auf diese Versorgung haben.
Greiner: Der Übergang vom Projektstatus zur Regelversorgung ist tatsächlich problematisch, da selbst bei einer positiven Evaluation viele Monate vergehen können, bis eine Empfehlung zur Übernahme in die Regelversorgung vorliegt. Bis dahin könnten bewährte Strukturen bereits nicht mehr vorhanden sein. Bislang behelfen sich die Krankenkassen und die anderen Projektbeteiligten in der Regel damit, dass Verträge zur integrierten Versorgung als Überbrückung geschlossen werden. Dieses Verfahren hat sich im Grundsatz bewährt, wobei auch hier die Probleme im Detail bestehen: Evaluationsergebnisse liegen in der Regel erst zum Ende des Projektes vor und Zwischenergebnisse sind fast immer wegen der noch nicht erreichten nötigen Fallzahl und der ungenügenden Beobachtungsdauer noch nicht sehr aussagekräftig. Dieses Dilemma ist nur durch Vertrauen und eine gewisse Risikobereitschaft aller Partner zu überwinden.
Hess: Der Innovationsfonds ist bewusst unabhängig vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eingerichtet worden, um erfolgversprechende Innovationen im Gesundheitswesen auf ihre Eignung und Effizienz für eine Leistungserbringung in der Regelversorgung zu erproben und diesen Erprobungsprozess und insbesondere seine Evaluation finanziell zu fördern. Die Entscheidung über eine Verstetigung kann nur der G-BA nach den dafür gesetzlich vorgegebenen Kriterien treffen oder die Krankenkassen in von ihnen abschließbaren Verträgen über eine besondere Versorgung nach § 140a SGB V, wozu sie aber rechtlich nicht verpflichtet werden können. Nach dem Auslaufen der Förderung durch den Innovationsfonds besteht daher auch bei einer positiven Evaluation kein Rechtsanspruch auf Fortsetzung der Finanzierung durch die Krankenkassen.
Falls diese Voraussetzungen gegeben sind, was wäre seitens der Politik zu leisten, um eine Translation erfolgreicher innovativer Ansätze im Gesundheitswesen nicht nur zu befördern, sondern zum Anspruch zu machen?
Amelung: Es sollte meines Erachtens keinen direkten und vollumfänglichen Anspruch auf die Überführung innovativer Projekte in die Regelversorgung geben. Aufgabe und Pflicht der Politik und der Selbstverwaltung ist es, sich mit den Best-Practice-Modellen auseinanderzusetzen. Der Schub für die Translation von innovativen Ansätzen ergibt sich idealerweise aus dem Erfolg eines Projektes. Wenn eine Innovation überzeugend ist, wird man sie gern weiterentwickeln und übertragen. Der Fokus sollte also auf dem Wollen liegen, nicht auf dem Müssen.
Gerhards: Ein wichtiger Baustein stellt hier sicherlich das Digitale-Versorgung-Gesetz dar. Im Rahmen des DVG wurde der Innovationsfonds bis 2024 verlängert und mit einem Fördervolumen von 200 Millionen Euro per anno ausgestattet, so dass innovative Versorgungsansätze gefördert werden können. Mit der avisierten Verstetigung des Innovationsfonds durch die Ampelkoalition sehe ich eine konstante Basis, um innovative Projekte zu fördern und erfolgreiche Projekte ggf. in die Regelversorgung überführen zu können. Zudem hat der Gesetzgeber mit den Änderungen des § 68b im Rahmen des DVG den richtigen Weg eingeschlagen, so dass Krankenkassen mehr Möglichkeiten erhalten, digitale Innovationen im Sinne der Patient:innen zu fördern und Versicherte zu innovativen Versorgungsangeboten zu informieren. Diesen Weg gilt es weiterzugehen, um innovative Versorgungslösungen auch als Differenzierungsmerkmal innerhalb der GKV flächendeckend und gleichzeitig individuell auf die Bedürfnisse der Versicherten abgestimmt im Gesundheitswesen zu etablieren.
Grandt: Kosteneffiziente neue Versorgungsformen mit patientenrelevantem Zusatznutzen müssen zum Behandlungsstandard erklärt werden und Patient:innen einen Anspruch auf diese Versorgungsformen erhalten. Sobald für ein neues Arzneimittel gezeigt wird, dass es der bisherigen Therapie überlegen ist, wird es zum Behandlungsstandard. Das muss auch für neue Versorgungsformen gelten, für die ein Zusatznutzen im Vergleich zur bis dahin üblichen Routineversorgung belegt ist. Insbesondere, weil die Messlatte für neue Versorgungsformen deutlich höher liegt als für neue Arzneimittel: Während letztere bei entsprechendem Zusatznutzen auch deutlich teurer sein dürfen als die zweckmäßige Vergleichstherapie, sollen neue Versorgungsformen auch bei erheblichem Zusatznutzen preiswerter sein als die bisherige Routineversorgung. Was übrigens aus Sicht der Patient:innen nicht verständlich und sinnvoll ist.
Greiner: Einen Anspruch auf Übernahme in die Regelversorgung kann es aus meiner Sicht auch zukünftig nicht geben. Dafür sind die Projekte in der Regel zu komplex und müssen als Einzelfall beurteilt werden. Dabei spielen sicher auch politische Opportunitäten eine Rolle, im Mittelpunkt der Entscheidung sollte aber die Übertragbarkeit auf andere Regionen und das Ergebnis der Evaluation stehen. Wichtiger wäre aus meiner Sicht, die Erkenntnisse aus einem Projekt einfacher als bisher als Grundlage für ein Anschlussprojekt innerhalb des Innovationsfonds verfügbar zu machen. Entsprechende Anschlussprojekte wären unkomplizierter umsetzbar als der größere Schritt direkt in die Regelversorgung, wenn noch einzelne Fragen offengeblieben sind, die sich erst im Laufe der Projektlaufzeit ergeben haben.
Hess: Der Gesetzgeber hat im DVG für so genannte Gesundheits-Apps, auch DiGA genannt, eine Finanzierung durch die Krankenkassen eingeführt, wenn das BfArM als zuständige Bundesoberbehörde sie nach CE-Zertifizierung und Nachweis eines positiven Versorgungseffektes in das DiGA-Verzeichnis eingetragen hat. Eine systemkonform vergleichbare Regelung könnte darin bestehen, dass die aus dem Innovationsfonds geförderten Projekte nach Ablauf der Förderung einen Anspruch auf eine Nutzenbewertung durch den G-BA haben und bei einem evidenzbasierten Nachweis eines Nutzens Teil der Regelversorgung werden. Eine solche Nutzenbewertung lässt sich allerdings für strukturelle Innovationen nicht umsetzen, weil die Zulassungsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Versorgung nicht projektbezogen, sondern trägerbezogen (z. B. MVZ) definiert sind und von den Zulassungsinstanzen und nicht vom G-BA getroffen werden.
Sie sind Juroren des nun seit einer Dekade Jahr für Jahr ausgeschriebenen MSD Gesundheitspreises, für den bisher rund 100 innovative Versorgungsprojekte nominiert worden sind. Was waren für Sie wahre Leuchtturmprojekte und warum?
Amelung: Leuchtturmprojekte sind für mich diejenigen, die ganz dicht an den Patient:innen dran sind, diese in ihrer Situation stärken und echte Hilfestellungen im Alltag bieten. Darüber hinaus haben mich in der Vergangenheit immer wieder Projekte beeindruckt, die das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure gefördert und Wagenburgmentalitäten aufgebrochen haben. In diesem Zusammenhang erscheint mir auch noch ein anderer Punkt wichtig: In meiner Wahrnehmung sind nicht zuletzt solche Projekte besonders erfolgreich, denen es gelingt, die Versorgung zu verbessern und gleichzeitig positive Energie freizusetzen. Unser Gesundheitswesen war zuletzt über weite Strecken von zu viel Blockade geprägt – Silodenken, Bestandsschutzansprüchen, Hierarchiegebaren. Dass heute so viel Unzufriedenheit unter den im Gesundheitswesen Tätigen herrscht, ist auch ein Ergebnis dieser Mentalität. Angesichts der großen und vielfältigen Herausforderungen, vor denen wir im Gesundheitswesen aktuell stehen, ist diese Haltung aber nicht mehr zeitgemäß. In anderen Branchen ist schon heute zu beobachten, dass Erfolg dort geschieht, wo Menschen vernetzt arbeiten, wo sie mitgestalten können und ihren eigenen Beitrag als wertvoll erleben. Die Freude an der Arbeit resultiert daraus ganz automatisch – und wo Arbeit gern gemacht wird, wird sie meistens auch besonders gut gemacht.
Dembski: In jedem Jahrgang bewerben sich zahlreiche hochinteressante und erfolgreiche Projekte um den Preis, die in ihren individuellen Themenfeldern zur Verbesserung der Versorgung beitragen. Da ich seit 2017 in der Jury bin, habe ich seitdem etwa 200 Projekte bezüglich ihrer Preiswürdigkeit versucht einzuschätzen. Da fällt es wirklich schwer, einige wenige besondere Projekte an dieser Stelle hervorzuheben. Mir sind die Projekte besonders wichtig, die die Patient:innen stärken und Menschen in Krisen unterstützen. So war eines meiner persönlichen Highlights das Projekt „Ambulante parenterale Antibiotikatherapie in der Kölner Metropolregion“ (K-Apat) der Kölner Universitätsklinik in 2021.
Gerhards: Für mich steht der Begriff „Leuchtturmprojekt“ vor allem für innovative digitale Lösungen, die Hilfe für einen großen Teil der Bevölkerung im Umgang mit einer stark einschränkenden oder gar lebensbedrohenden Krankheit versprechen. Insbesondere Easy Oncology der Uni-Klinik Köln mit Dr. Elter ist für mich ein wahres Leuchtturmprojekt, da dies akute Probleme der onkologischen Versorgung, wie überlastete Tumorboards und eine Überforderung von Patient:innen, angeht. Dieses Modell zeigt, was in Echtzeit mit Datenanalysen möglich ist, um Tumorboards zu unterstützen und die richtige Therapie bzw. optimale Behandlungsstandards vorzuschlagen. Das spart Zeit bei den Ärzt:innen, aber auch den Patient:innen, gibt Sicherheit und Orientierung, übersetzt gleich verständlich die medizinischen Therapieansätze, erhöht damit die Compliance, verbessert die Versorgung, erspart den Patient:innen falsche Behandlungswege mit gegebenenfalls fatalen Folgen und mindert damit das Leid der Erkrankten. Und es ist kein Thema des Wettbewerbs der einzelnen Versorger – dies kann und muss der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Dieses Projekt verdeutlicht, wie die verfügbaren Daten und deren Analyse Ärzt:innen in ihrer Behandlung unterstützen können und die Digitalisierung und Daten im Sinne des Patientenwohls genutzt werden können.
Grandt: Innovative, Versorgungsdefizite behebende Projekte, die von einem motivierten Team unter Einbeziehung der Patien-ten(-perspektive) eigeninitiativ umgesetzt wurden, sind die Champions. Eben diese wurden auch ausgezeichnet.
Hess: Sektorenübergreifend vernetzte Organisationsstrukturen, die allgemein oder für bestimmte Krankheitsbilder insbesondere für chronisch kranke Versicherte eine Versorgung aus einer Hand gewährleisten. Forschungsvorhaben, die auf die diagnostische und therapeutische Verbesserung der Behandlung seltener Erkrankungen gerichtet sind. Digitalisierte Programme, die die Kommunikation innerhalb vernetzter Strukturen zur Verbesserung der Qualität der Versorgung oder die eine kontinuierliche Betreuung von chronisch Kranken in ihrem häuslichen Umfeld auch unter Einsatz telemedizinischer Verfahren ermöglichen.
Wendel-Schrief: Unter den Projekten waren viele herausragend und einzelne „herauszupicken“ fällt daher schwer. Ich möchte drei Leuchtturmprojekte benennen, bei denen sich MSD aktiv über den Gesundheitspreis hinaus bei der Skalierung der Projekte als Kooperationspartner einbringt:
• Easy Oncology: eine qualitätsgesicherte Entscheidungshilfe, die Ärzten eine schnelle, leitlinienorientierte Unterstützung zu Diagnostik, Therapie und Behandlung von Krebserkrankungen gibt.
• Mein Kinder- & Jugendarzt App: ein digitales, professionelles Impfrecall System zur Förderung STIKO empfohlener Impfungen in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte.
• Dimini: ein vom Innovationsfonds gefördertes Projekt zur Früherkennung und Primärprävention des Typ-2 Diabetes.
Eben wurde das Attribut „erfolgreich“ zum Begriff „innovative Ansätze“ gestellt. Frage: Was ist für Sie erfolgreich?
Amelung: Erfolg kann auf sehr unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Messbarkeit ist hier ein wichtiger Faktor, gleichzeitig erleben wir aber immer wieder, wie schwer es sein kann, Dinge wie Patientenzufriedenheit, Lebensqualität oder Arbeitszufriedenheit in valide Zahlen zu übersetzen. Ein Nutzen auf der Ebene der Patient:innen oder der sinnvolle und effiziente Einsatz der knappen Ressourcen im Gesundheitswesen stellen in meinen Augen wichtige Erfolgskriterien dar. Besonders die Ressource Personal rückt momentan immer stärker in den Fokus. So wäre beispielsweise ein Projekt besonders erfolgreich, wenn es dazu beiträgt, dass Pflegekräfte länger in ihrem Beruf bleiben, weil ihre Arbeitszufriedenheit deutlich erhöht wird.
Dembski: Erfolgreich ist ein Projekt, wenn es seine Ziele nachweislich erreicht. Wenn ich „Erfolg“ inhaltlich beschreiben sollte, würde ich definieren: Ein erfolgreiches Projekt verändert die Versorgungslandschaft zum Positiven.
Gerhards: Erfolgreich sind für mich insbesondere Projekte, die die Gesundheitsversorgung verbessern und dabei „Anwender“ – oftmals Ärzt:innen – und „Rezipienten“ – oftmals Patient:innen – in den Fokus nehmen und diese bereits in der Konzeption innovativer Versorgungsansätze einbeziehen. Im Idealfall tritt dabei die Verbesserung der Gesundheitsversorgung ohne nen-nenswerten Mehraufwand ein, z. B. durch eine verbesserte (automatisierte) Nutzung bereits vorhandener Daten. Letztendlich muss natürlich, neben der Versorgungsverbesserung, auch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit gegeben sein, damit sich innovative Ansätze erfolgreich durchsetzen können.
Grandt: Erfolgreich zu sein hat mehrere Aspekte: Es ist die Wirksamkeit und Akzeptanz auf Ebene des einzelnen Patienten, ist aber auch die Praxistauglichkeit für den Roll-Out in die Routineversorgung
Greiner: Erfolgreiche Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Rekrutierungsziele erreicht haben und bezüglich der vorab bestimmten Ergebnisparameter einen posi-
tiven gesundheitlichen Nutzen für Patient:in-nen zeigen konnten. Zudem sollte erkennbar sein, dass ein erfolgreicher Transfer auf andere Partner und Regionen möglich erscheint.
Hess: Erfolgreich sind innovative Ansätze dann, wenn sie nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin einen höheren Nutzen für die medizinische Versorgung haben als die bisher angewandten Strukturen oder Verfahren.
Wendel-Schrief: Erfolgreich heißt für mich
u.a., dass ein Projekt zum einen ein relevantes Versorgungsproblem verbessert oder gar löst, zum anderen der Outcome hinsichtlich des Patientennutzens steigt. Zudem muss eine Skalierbarkeit umsetzbar und praktikabel,
aber auch der Nutzen für das Gesundheitssystem insgesamt und ökonomisch darstellbar sein.
Wie fließen die eben genannten Kriterien in den 2021 von der Jury weiterentwickelten Bewertungsrahmen ein?
Amelung: Eine „lesson learned“ aus zehn Jahren MSD Gesundheitspreis ist, dass der Bewertungsrahmen so gestaltet sein muss, dass nicht alle Kriterien gleichermaßen für alle Projekte relevant sind. Deshalb brauchte es die Möglichkeit, Wahlentscheidungen zu treffen, welche Kategorien man besonders bewerten möchte bzw. umgekehrt, welche Dimensionen für ein Projekt möglicherweise gar keine Rolle spielen. So verfolgen manche Projekte zum Beispiel keinerlei wirtschaftliche Ziele, sodass das Kriterium Wirtschaftlichkeit dann in der Bewertung auch nicht negativ ins Gewicht fallen darf. Ich denke, dass der neue Bewertungsrahmen der Vielfältigkeit der Bewerbungen und der damit einhergehenden Komplexität besser Rechnung trägt.
Dembski: Der von der Jury 2021 weiter entwickelte Bewertungsrahmen beurteilt die Faktoren, die ein Projekt beeinflussen, wenn es das Potenzial hat, positive Veränderungen in der Versorgung zu bewirken: Patientennutzen, (Auswirkung auf) Versorgungs- und Gesundheitssystem, Gesundheitsökonomie und Evaluation, Management des Projektes und Professionalität und, als Sonderkategorie, Unterstützung der Digitalisierung. Diesen Faktoren jeweils zugeordnet sind Kriterien, auf die das Projekt einwirkt, wenn es eine positive Wirkung auf die Versorgung entfaltet. Der Patientennutzen ist an erster Stelle genannt. Ein Patientennutzen kann sich zeigen, indem Patient:innen einen Mehrwert durch das Projekt haben sowie sich ihre Lebensqualität und Fähigkeit verbessert, mit der Erkrankung umzugehen (Empowerment) usw. Um diese Wirkung auf einen individuellen Patienten zu haben, muss ein Projekt aber auch das Gesundheitssystem als Ganzes im Blick haben, also zum Beispiel ein für die Versorgung relevantes Problem in den Fokus stellen, Strukturen oder Prozesse optimieren und/oder Sektorengrenzen aufbrechen. Auch eine Einsparung von personellen oder finanziellen Ressourcen kann Ziel eines Projektes sein und widerspricht nicht einem möglichen Mehrwert für Patient:innen.
Gerhards: Userexperience, Grad der digitalen Innovation, Interoperabilität und ein optimaler Umgang mit Datenschutz und -sicherheit sind Parameter, die neu in den Bewertungsrahmen eingeflossen sind. Beispielsweise ist die Nutzerfreundlichkeit ein Kernelement für die Bereitschaft, eine innovative Versorgungslösung zu nutzen und damit Grundvoraussetzung für deren Wirksamwerden. Semantische und syntaktische Interoperabilität sind zudem zwingend erforderlich, um „Lock-in-Effekte“ im Gesundheitswesen zu vermeiden. Hierfür müssen verbindliche Datenstandards durchgesetzt werden, damit die Daten nahtlos zwischen unterschiedlichen Sektoren, Organisationen, Systemen und Anwendungen fließen können.
Wendel-Schrief: Der MSD Gesundheitspreis spricht in zunehmenden Maßen digitale Versorgungsinnovationen an. Dies wurde zum Anlass genommen, die Bewertungskriterien grundlegend zu überarbeiten. Erfolgreiche Projekte überzeugen durch den konkreten Patientennutzen und einen Nutzen für das Gesundheits- und Versorgungssystem. Dabei können sie durch digitale Versorgungskomponenten unterstützt werden. Der medizinische und/oder ökonomische Nutzen muss wissenschaftlich begleitet werden und durch ein professionelles und versorgungsnahes Management überzeugen.
Ein wichtiges Augenmerk der Jury lag von Anfang an stets auf der Frage nach einer wissenschaftlichen Evaluation. Nun ist bekannt, dass wissenschaftliche Studien für Komplexinterventionen, wie sie „innovative Ansätze“ zumeist darstellen, alles andere als trivial sind; zudem kann es sein, dass selbst Studien mit höchstem Evidenzlevel nicht oder in zu geringem Maße dazu in der Lage sind, die wahren Erfolgsparameter herauszuarbeiten. Welche Studienansätze/-typen haben Sie bisher am ehesten überzeugt?
Amelung: Studienkonzepte müssen immer daran gemessen werden, wie gut sie sich für die jeweilige Fragestellung eignen. Die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) ist für viele Fragestellungen mit Abstand das beste Studiendesign. Für manche Fragestellungen ist sie aber komplett ungeeignet. Besonders spannend sind in meinen Augen die bei komplexen Interventionen notwendigen Mixed-Methods-Ansätze. Aus Versorgungsforschungssicht stehen wir hier noch ganz am Anfang – das macht dieses Forschungsfeld aber eben auch so interessant. Entscheidend ist, dass überhaupt eine wissenschaftliche Begleitevaluation stattfindet. Sie sollte bereits bei der Konzeption des Projektes mitgedacht werden. Ohne Evaluation sind letztendlich überhaupt keine Aussagen über die Effekte eines neuen Versorgungsansatzes möglich.
Grandt: Goldstandard ist und bleibt der RCT. Aber der beste RCT nützt nichts, wenn die Endpunkte oder das Studienkollektiv nicht passgenau gewählt wurden. Berücksichtigen muss man auch, dass es sich meist um komplexe, multifaktorielle Interventionen handelt, deren Darstellung und Bewertung differenziert erfolgen muss.
Greiner: Ich bin nicht der Ansicht, dass für komplexe Interventionen grundsätzlich andere Bewertungsmaßstäbe oder -designs gelten müssen als für einfacher strukturierte Forschungsfragen. Allerdings erfordert die Komplexität der Interven-tionen ein größeres Maß an Studienvorbereitung, denn es muss vorab genau geprüft werden, an welchem messbaren Ergebnis das Projekt beurteilt werden soll. In der Regel wird es dabei nicht möglich sein, den Einfluss einzelner Komponenten genau zu bestimmen. Für das Gesamtprogramm sollten aber einzelne Messvariablen zur Beurteilung des Gesamterfolges definierbar sein. Ein besonderes Problem in diesem Zusammenhang stellt die Kontrollgruppe dar. Häufig ist es den Patient:innen kaum zuzumuten, zufällig der einen oder der anderen Gruppe zugelost zu werden. Wir haben hier gute Erfahrungen mit Wartelistendesigns gemacht, ansonsten bietet sich als Second-Best-Lösung der Vergleich mit einer anderen Region und Matched-Pairs oder ein Stepped-Wedge-Design an.
Hess: International wissenschaftlich anerkannter und damit auch rechtlich gesicherter Standard für die wissenschaftliche Evaluation sind die Kriterien der evi-denzbasierten Medizin, wobei RCT zwar die höchste, aber nicht alleinige Evidenzstufe ist und je nach zu bewertender Innovation und Studienmöglichkeit auch niedrigere Evidenzlevel akzeptiert werden.
Der MSD Gesundheitspreis möchte herausragenden und innovativen Versorgungslösungen eine Bühne geben und deren Weiterentwicklung bis hin zur Regelversorgung weiter vorantreiben. Hat der MSD Gesundheitspreis diesen selbstgesetzten Anspruch erfüllt?
Amelung: Auf jeden Fall! Der MSD Gesundheitspreis gehört zu den wichtigsten Plattformen für die Sichtbarkeit und Wertschätzung von innovativen Versorgungsformen in Deutschland. Insbesondere fasziniert mich, dass die Qualität – analog zum Innovationsfonds – über die Jahre überhaupt nicht abgenommen hat und jedes Jahr neue spannende Konzepte hinzukommen. Das zeigt auch, wie lebendig und vielfältig das Gesundheitswesen an der Versorgungsbasis eben doch auch ist. Während in den großen Medien meist nur über das berichtet wird, was im Gesundheitswesen nicht gut funktioniert, zeigt die MSD Projektdatenbank einen anderen Ausschnitt, der Mut macht und Aufbruchstimmung vermittelt.
Dembski: Ich denke ja. Der MSD Gesundheitspreis findet viel Aufmerksamkeit. Das zeigen auch über 50 Anträge jedes Jahr, die Einbettung der Preisverleihung in die Fachveranstaltung des Forums, die Einbeziehung von durch den Innovationsausschuss geförderten Projekten, der Publikumspreis, die Projektdatenbank, und nicht zuletzt die vielen Filme, die die nominierten Projekte darstellen und von den Projektinhabern zur Werbung für ihr Projekt eingesetzt werden können. Das sind Maßnahmen, die m.E. die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit für den Preis und damit die Projekte generieren.
Gerhards: Meines Erachtens hat der MSD Gesundheitspreis diesen selbstgesetzten Anspruch absolut erfüllt. Allein die Vielfalt der seit 2012 knapp 100 nominierten Projekte, die alle versorgungsrelevante Themen adressieren und verbessern wollen, verdeutlicht die Bedeutung des MSD Gesundheitspreises für innovative Versorgungslösungen. Darüber hinaus sind circa 58 Prozent der Projekte in die Regelversorgung oder eine sonstige vertragliche Bindung eingegangen. Zusätzlich hat der MSD Gesundheitspreis auch fördernde Impulskraft auf die Projekte und deren Weiterentwicklung. 79 Prozent aller im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation befragten nominierten Projekte haben dies bestätigt (1).
Grandt: Definitiv. Nicht nur, dass er Motivation und Bühne für engagierte Mitarbeiter im Gesundheitswesen ist, er hilft auch durch die Vorgabe von Kriterien bei der Ausrichtung und Selbstbewertung durch die Projektpartner. Er ist also hilfreich für alle sich bewerbenden Projekte und hilft natürlich den Nominierten besonders, mehr Verbreitung zu erreichen.
Greiner: Die Organisatoren des MSD Gesundheitspreises schaffen es jedes Jahr, die aktuell relevanten Projekte mit innovativen Versorgungsansätzen zur Teilnahme zu animieren. Es ist als Jurymitglied eine große Freude, all diese interessanten Projekte kennenzulernen, und es ist jedes Jahr schwierig, sie für die Preisvergabe in eine Reihenfolge zu bringen. Die Veranstaltung zur Preisverleihung gibt anschließend den Preisträgern und auch denjenigen, die zumindest in die engere Auswahl gekommen sind, die Bühne, um die darin enthaltenen Ideen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und vielleicht den Anstoß zu neuen Innovationen zu geben oder die erprobten Prozesse für andere Regionen anzuwenden. Der festliche und professionell organisierte Rahmen der Preisverleihung führt darüber hinaus dazu, dass für die teilnehmenden Projekte auch die ihnen gebührende Anerkennung deutlich wird.
Hess: Der MSD Gesundheitspreis bietet innovativen Projekten eine Bühne zur Bewertung und gegebenenfalls zur preisgewürdigten Darstellung ihres Nutzens. Damit setzt der MSD Gesundheitspreis Anreize zur Weiterentwicklung ausgezeichneter Projekte. Preisträger vergangener Jahre berichten häufig über diese Weiterentwicklung, die auch eine Einbindung in die Regelversorgung oder die Erweiterung von Verträgen mit Krankenkassen zur besonderen Versorgung umfasst hat.
Wendel-Schrief: Für MSD ist der Gesundheitspreis eine wahre Erfolgsgeschichte. Jedes Jahr überrascht uns die Vielzahl innovativer und wegweisender Versorgungsprojekte. Der MSD Gesundheitspreis leistet einen belegbaren Beitrag zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems. Und deshalb loben wir auch im zwölften Jahr den MSD Gesundheitspreis mit großer Freude erneut aus.
Welche Schwerpunkte erwarten Sie in 2022? Erwarten Sie, dass der Trend zu digitalen Projekten und/oder solchen mit erheblichen Digitalisierungs-Anteilen weiterzunehmen wird?
Amelung: Es gibt heute sehr wenige innovative Versorgungsprojekte, die nicht auch digitale Komponenten beinhalten. Digitalisierung ist aber kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ich erwarte noch mehr Projekte mit digitalem Schwerpunkt, die darauf abzielen, dem Personal im Gesundheitswesen den Alltag zu erleichtern. Daneben gehe ich davon aus, dass wir in Zukunft mehr Projekte sehen werden, die sich mit den sozialen Determinanten von Gesundheit auseinandersetzen, bei denen also gesundheits- und sozialpolitische Aspekte stärker ineinanderfließen. Das betrifft zum einen den Bereich der psychischen Erkrankungen, zum anderen werden aber auch Themen wie Gesundheit und neue Formen des Wohnens oder Gesundheit und Klimawandel an Bedeutung gewinnen.
Dembski: Ich erwarte, dass in der Tat der Trend zu digitalen Projekten und Projekten mit erheblichem Digitalisierungsanteil weiter zunehmen wird. Ich könnte mir vorstellen, dass Projekte zur Rehabilitation von Patient:innen mit Long Covid eine Rolle spielen werden.
Gerhards: Wir stehen noch am Anfang der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Entsprechend erwarte ich eine weitere Steigerung der Ideen/Modelle, die sich mit datengestützter Analyse, oftmals auch mit Künstlicher Intelligenz, beschäftigen und die Therapie und Patientenpfade deutlich unterstützen und verbessern. Es obliegt der Politik die rechtlichen Rahmenbedingungen herzustellen, so dass Gesundheitsdaten, und einhergehend der Einsatz von KI, effektiv genutzt werden können. Dazu ist ein erster Schritt mit dem Koalitionsvertrag gemacht worden, in dem ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz vereinbart ist.
Grandt: Digitale Unterstützung ist wichtig, um Versorgungsdefizite zu beheben, aber kein Selbstzweck, sondern nur ein Hilfsmittel als Teil einer neuen Versorgungsform. Mit größerer Verbreitung der Informationstechnologie auch in Patientenhand und besserem Verständnis der Chancen technischer Unterstützung werden Projekte mit digitalen Komponenten sicher zunehmen.
Wendel-Schrief: Es ist zu erwarten, dass der Trend zu digitalen Projekten weiter zunehmen und sich sogar beschleunigen wird. Heute integrieren bereits gut drei Viertel aller beim Gesundheitspreis nominierten Versorgungsprojekte digitale Komponenten. Angesichts der akuten Belastungen der Praxen, Krankenhäuser und der Finanzlage der Kassen wird es verstärkt darauf ankommen, digitale Versorgungslösungen auch (Kosten-) effizient und anwendungsfreundlich auszuführen. Weder kann es die eine universelle Gesundheitsanwendung geben, die in sich alle denkbaren Versorgungsszenarien und Nutzer-ansprüche vereint, noch werden wir Erfolg haben, wenn jede App, jeder Selektivvertrag eigene Webportale, Schnittstellen und Plug-Ins erfordert. Es braucht ein über die Leistungserbringer hinausgehendes digitales Gesundheitsökosystem, in dem alle Teilnehmer:innen sicher und vertrauenswürdig qualitätsgesicherte Daten über standardisierte Schnittstellen teilen und auch miteinander kommunizieren können. Wir brauchen ein ebenes Spielfeld für den Wettbewerb über die besten Versorgungslösungen, der am Ende uns allen nützt. <<
Das Fünfte Sozialgesetzbuch fordert in § 12 Abs. 1 SGB V, dass „die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein müssen und „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ dürfen. Damit können zum einen Versicherte Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, nicht beanspruchen, zum anderen dürfen sie Leistungserbringer nicht durchführen und Krankenkassen gar nicht bewilligen. Wie könnte trotz allen sicher notwendigen Sparwillens das zur Verfügung stehende Budget so allokiert werden, dass aus dem Minimalanspruch des §12 SGB V ein möglichst maximaler wird?
Amelung: Das Gesundheitswesen unterscheidet sich von anderen Lebensbereichen und Wirtschaftsbranchen dadurch, dass die schlichte Kausalität „Je teurer, desto besser“ in weiten Teilen nicht der Realität entspricht. Innovative Versorgungsmodelle konnten in der Vergangenheit zeigen, dass beispielsweise eine bessere Versorgung von Menschen mit Diabetes oder mit psychischen Erkrankungen auch günstiger sein kann, wenn nicht sogar muss, etwa weil dadurch Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Deshalb muss die Agenda der Gesundheitspolitik immer darauf ausgerichtet sein, so gute Versorgung wie möglich zu erreichen.
Dembski: Es scheint sich allerdings abzuzeichnen, dass die Krankenkassen neuartige Versorgungsprojekte und -Maßnahmen gerne als Instrument im Wettbewerb verwenden und in Selektivverträge einbetten. Damit kommen diese Neuerungen nicht allen Patient:innen zugute. Die Versorgungslandschaft in Deutschland zerfasert. Aber davon abgesehen: Grundsätzlich scheint es mir als Mitglied der GKV sinnvoll zu sein, dass über den § 12 SGB V der „Nachweis der Wirtschaftlichkeit“ die „Eintrittskarte in die Regelversorgung“ darstellt. Die umstrittenen Individuellen Gesundheitsleistungen, kurz IGeL, zeigen, dass Leistungen ins System kommen können, deren Nutzen und damit Wirtschaftlichkeit nicht erwiesen ist, wenn die Schranke des § 12 SGB V nicht gilt – zum Schaden von Versicherten und Patient:innen.
Gerhards: Die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes ist grundsätzlich richtig, damit Versichertenbeiträge sorgsam und effektiv eingesetzt werden. Zur Wirtschaftlichkeit gehört aber auch, die innovativen Potenziale einer Versorgungslösung zu nutzen, um Krankheit zu lindern, zu heilen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Das kann durch das Heben der Digitalisierungspotenziale geschehen. Zum Beispiel eine flächendeckende und mit aktuellen Informationen gefüllte elektronische Patientenakte könnte zur Verbindung der Sektoren beitragen oder Doppeluntersuchungen vermeiden. Zudem bietet die Möglichkeit einer besseren Datennutzung erhebliche Potenziale, um Versicherten frühzeitig und auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmte Versorgungsangebote zu unterbreiten. Das ist der Weg von einer reaktiven Behandlung hin zu einem präventiven Gesundheitserhalt. Darüber hinaus bieten Patient-Reported-Outcome-Measures, kurz PROMs, eine vielversprechende Möglichkeit zur effektiven Mittelverwendung, indem die Qualität und der Erfolg von Behandlungen stärker bei den Leistungsausgaben berücksichtigt wird.
Grandt: Das ist kein Minimalanspruch, sondern eine Maxime, die sich aus dem Solidaritätsprinzip ableitet. Die Beschränkung auf Erstattung von Leistungen, deren Wirksamkeit und Kosteneffizienz belegt ist, hat auch nichts mit Sparen zu tun, sondern mit Handeln auf Basis von Evidenz.
Greiner: Die im erwähnten § 12 des SGB 5 festgelegten Grundsätze haben sich über die Jahrzehnte im Grundsatz sehr bewährt. Sie öffnen sehr breite Möglichkeiten der Leistungsgewährung durch die Krankenkassen, wie man im internationalen Vergleich mit anderen Ländern sehr deutlich feststellen kann. Die Beitragsfinanzierung erfordert, dass die im Rahmen einer Pflichtversicherung erhobenen Mittel wirtschaftlich verwendet werden, denn die Finanzierung von unwirksamen Therapieformen wäre den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern sicher nicht zuzumuten. Die Norm ist somit nicht Ausdruck eines übertriebenen Sparwillens, sondern schützt das umfassende Sozialsystem vor ungerechtfertigten Leistungsansprüchen. Maximal sollte ein Anspruch gegen ein Versicherungssystem ohnehin nicht sein, wenn man an seiner langfristigen Finanzierbarkeit interessiert ist. Natürlich sind im Rahmen der Abwägung, was nachweisbar zweckmäßig und ausreichend sowie wirtschaftlich ist, auch schwierige Entscheidungen zu treffen, insbesondere wenn es um sehr kostenintensive Therapien geht oder bei Therapien, bei denen die Studienlage noch unzureichend ist. Auch die Frage, inwieweit der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in lebensbedrohlichen Situationen gelten soll, bedarf immer wieder der Entscheidung im Einzelfall. Obwohl es hierzu mittlerweile eine umfangreiche Rechtsprechung gibt, bleibt ein gewisses Maß an Unsicherheit, die aber letztlich unvermeidlich ist.
Hess: Die deutsche soziale Krankenversicherung ist geprägt durch das Solidarprinzip und den Sachleistungsanspruch der Versicherten. Die Solidargemeinschaft trägt durch ihre unabhängig vom Gesundheitszustand und Familienstand eines Versicherten aus Solidarbeiträgen die Kosten seiner im Sachleistungssystem zu Lasten seiner Krankenkasse in Anspruch genommenen Leistungen. Daraus resultiert der Anspruch der Solidargemeinschaft, dass ihre Beiträge nur zur Finanzierung notwendiger und zweckmäßiger Leistungen verwandt werden dürfen. Dabei geht es nicht ums Sparen. Auch teuerste Leistungen sind zu Lasten der Solidargemeinschaft zu erbringen, wenn sie notwendig sind und gleichwertige Alternativen nicht bestehen.
Wendel-Schrief: Der MSD Gesundheitspreis berücksichtigt den Gedanken der „optimalen Ressourcennutzung“ von Anfang an im Kriterienkatalog: „Verbesserung der medizinischen und/oder ökonomischen Ergebnisqualität“. Erwünscht sind Projekte, die medizinische Versorgung nachweislich verbessern und wirtschaftlich sind. Wenn der Outcome passt, dann wollen auch die an der Versorgung Beteiligten innovative Versorgungsprojekte verstetigen. Dies unterstreicht auch die bereits erwähnte Publikation (1) zum MSD Gesundheitspreis, circa 58 Prozent der Projekte sind in die Regelversorgung oder eine sonstige vertragliche Bindung eingegangen.
Kann Digitalisierung dazu beitragen, Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermeiden? Und: Wie?
Dembski: Nach meiner Einschätzung hat die Digitalisierung ein großes Potenzial für die Verbesserung der Behandlung. Telemedizin kann zum Beispiel über Entfernungen hinweg die spezielle Expertise ausgewählter Experten zu den Patient:innen bringen. Nicht die Patient:in reist, sondern die Informationen. Ob aber die Digitalisierung dazu beitragen kann, Über-, Unter- und Fehlversorgung grundsätzlich zu vermeiden, vermag ich nicht einzuschätzen. Zumal die zunehmende Digitalisierung ihrerseits neue Probleme schaffen wird.
Gerhards: Eindeutig: Ja! Und ich würde sogar sagen, es ist fast fahrlässig die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht zu nutzen. Mit einer quartalsweisen Übermittlung von Abrechnungsinformationen, wie im ambulanten Bereich, verlieren wir beispielsweise wertvolle Zeit. Daten sollten nutzbar sein, sobald sie erfasst sind, um Über-, Unter- und Fehlversorgungen zu erkennen, Interventionspunkte frühzeitig zu identifizieren und individualisierte Gesundheitsangebote zur Verfügung zu stellen.
Grandt: Insbesondere bei der Arzneimitteltherapie ist dies der Fall. Bei 1.860 ambulant verordneten Arzneimittelwirkstoffen in 454.012 gleichzeitig verordneten Kombinationen von 2 Wirkstoffen ist evident, dass auch der qualifizierteste Arzt dies nicht ohne elektronische Unterstützung sicher beherrschen kann (2).
Wendel-Schrief: Digitalisierung ist bereits jetzt ein starker Treiber in der Versorgung. Sie ist aber kein Selbstzweck. Sie muss den Patient:innen nutzen! Deshalb ist die ePA so wichtig. Aus Sicht der Patient:innensicherheit ist sie alternativlos, z.B. um Doppeluntersuchungen zu vermeiden, schnellere Diagnosestellungen zu ermöglichen und Fehlmedikationen zu verhindern. Mit AI wollen wir in Zukunft erwartbare Nebenwirkungen früh erkennen und die Therapietreue erhöhen. Der Trend geht zugleich zu einer personalisierten Therapie. Erste Pilotvorhaben im Bereich der Immuntherapien zeigen, wie die Auswertung großer und vielfältiger Datenmengen hilft, Gemeinsamkeiten von bislang unzureichend ansprechenden Patient:innen zu entdecken. Und Therapieansätze richten sich zunehmend nicht mehr an einzelnen Organen aus, sondern knüpfen an bestimmten Wirkmechanismen im Körper an. Versorgungsdaten haben hier bereits helfen können, kurzfristig auch Zulassungen in weiteren Indikationen zu erhalten.
Danke für das Gespräch!
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis:
Amelung et al.: „Ein Preis für erfolgreiche Projekte mit der Kraft zur Verbesserung“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (01/22), S. 48-55. http://doi.org/10.24945/MVF.01.22.1866-0533.2374
Literatur
1: Amelung (Korrespondenzautor), Dembski, Fiedler, Göhl, Hecker, Hess, Koschorrek, Schwartz, Scriba und Wendel-Schrief: „Fördern Preisverleihungen Innovationen?“, wissenschaftlicher Beitrag in „Market Access & Health Policy“ 01/2019, S. 26-30.
2: Arzneimittelreport der BARMER 2018