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Zum Stand interprofessioneller Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung

22.07.2022 11:20
Gesundheitssysteme in westlichen Gesellschaften stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen: Die Komplexität der Gesundheitsversorgung nimmt zu, nicht zuletzt durch die demografisch bedingte Zunahme chronischer Erkrankungen und Multimorbidität (Sin, Askar et al. 2015, Seger and Gaertner 2020) und die fortschreitende Spezialisierung und Fragmentierung in der Medizin. Gleichzeitig besteht ein eklatanter Fachkräftemangel, insbesondere in ländlichen Regionen, der schon lange nicht mehr nur die Pflege und die hausärztliche Versorgung betrifft (Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. Köln 2021). Vor diesem Hintergrund gilt es, die vorhandenen Ressourcen in Bezug auf Expertise und Leistungserbringung optimal zu nutzen. Der deutsche Wissenschaftsrat postulierte interprofessionelle Zusammenarbeit als Strategie für eine effektive Organisation von Gesundheitsdienstleistungen, um die komplexen Herausforderungen der Versorgung in Zukunft meistern zu können (Wissenschaftsrat 2012).

http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2428

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Abstract

Die zunehmende Komplexität der Gesundheitsversorgung und der gleichzeitige Fachkräftemangel erfordern eine effiziente, patientenzentrierte Organisation der Versorgung. Interprofessionelle Zusammenarbeit kann dazu beitragen. In einer nicht-repräsentativen Experten-Befragung aus der Arbeitsgruppe „Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung“ (AG ZiGEV) im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung e.V. (DNVF e.V.) heraus wurden Einblicke in den aktuellen Umsetzungsstand interprofessioneller Zusammenarbeit und mögliche Ansätze für Verbesserungen aus verschiedenen professionellen Perspektiven zusammengetragen.
Ergebnisse: Die Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten seien nicht klar definiert und stark vom individuellen Engagement und Arbeitsweisen abhängig. Unklare Aufgabenzuordnung trage zu ineffektiver und unkoordinierter Versorgung bei. Es gäbe weder Ressourcen wie etwa ausreichende Zeit noch formale Formate für Kooperationen. Abstimmungsaufwände werden zudem nicht finanziell abgebildet. Zielführend wäre, Gelegenheiten zu gemeinsamem Lernen in Aus-/Fort-/Weiterbildungen und Fallkonferenzen zu schaffen; berufsgruppenübergreifende Aufgabenfestlegung in jeweils definierten Behandlungsteams festzulegen und die Rahmenbedingungen (z.B. Vergütung, Heil-/Hilfsmittelverordnung, Qualitätsstandards der Ausbildungen) anzupassen.

On the state of interprofessional cooperation in health care provision

The increasing complexity of healthcare along with the simultaneous shortage of specialists require an efficient, patient-centered organization of care. Interprofessional collaboration can contribute to this. In a non-representative expert survey from the working group „Cooperation in Health Care“ (AG ZiGEV) in the German Network for Health Services Research e.V. (DNVF e.V.), insights from different professional perspectives into the current implementation status of interprofessional collaboration and possible approaches for improvement were to be collected.
Results: The distribution of tasks and responsibilities appear not to be clearly defined and strongly dependent on individual working methods. This leads to ineffective and uncoordinated care. There are neither resources such as sufficient time nor formal formats for cooperation. Moreover, coordination efforts are not reflected financially. The following options could foster interprofessional care: to create opportunities for joint learning in training, continuing education and case conferences; to define tasks for all occupational professional groups in defined treatment teams; and to adapt the framework conditions (e.g. remuneration, prescription of remedies/auxiliary aids, quality standards for training).

Keywords
Interprofessional care, integrated care, patient centered care, co-operation

Dr. Dr. med. Heidrun Sturm MPH / Dr. med. Aline Flatz MPH / Prof. Dr. oec. troph. Birgit-Christiane Zyriax / Dr. rer. medic. Anne-Madeleine Bau MPH / Dr. rer. medic. Angelika Beyer

Literatur
Dr. Dr. med. Heidrun Sturm MPH
Dr. med. Aline Flatz MPH
Prof. Dr. oec. troph. Birgit-Christiane Zyriax
Dr. rer. medic. Anne-Madeleine Bau MPH
Dr. rer. medic. Angelika Beyer

 

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Zitationshinweis: Sturm et al.: „Zum Stand interprofessioneller Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (04/22), S. 66-73. http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2428

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Plain-Text:

Zum Stand interprofessioneller Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung

Gesundheitssysteme in westlichen Gesellschaften stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen: Die Komplexität der Gesundheitsversorgung nimmt zu, nicht zuletzt durch die demografisch bedingte Zunahme chronischer Erkrankungen und Multimorbidität (Sin, Askar et al. 2015, Seger and Gaertner 2020) und die fortschreitende Spezialisierung und Fragmentierung in der Medizin. Gleichzeitig besteht ein eklatanter Fachkräftemangel, insbesondere in ländlichen Regionen, der schon lange nicht mehr nur die Pflege und die hausärztliche Versorgung betrifft (Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. Köln 2021). Vor diesem Hintergrund gilt es, die vorhandenen Ressourcen in Bezug auf Expertise und Leistungserbringung optimal zu nutzen. Der deutsche Wissenschaftsrat postulierte interprofessionelle Zusammenarbeit als Strategie für eine effektive Organisation von Gesundheitsdienstleistungen, um die komplexen Herausforderungen der Versorgung in Zukunft meistern zu können (Wissenschaftsrat 2012).

 

>> Die Forderung nach einer verbesserten interprofessionellen Zusammenarbeit ist nicht neu. Bereits in der Deklaration von Alma Ata 1978 wurden interprofessionelle „health teams“ als essenzieller Baustein für eine effiziente Primärversorgung (Primary Health Care) genannt (Allen, Barkley et al. 2018). Internationale Definitionen von interprofessioneller Versorgung zielen auf eine optimale Versorgungsqualität, wobei der Prozess der Zusammenarbeit verschiedener Akteure im Mittelpunkt steht. Neben den Gesundheitsberufen sind häufig Familien und Betreuende in Care-Teams einbezogen. Hier einige Beispiele:
• „Collaborative practice happens when multiple health workers from different professional backgrounds work together with patients, families, carers, and communities to deliver the highest quality of care“(WHO 2010)
• „… interprofessional collaboration is the process of developing and maintaining effective interprofessional working relationships […] to enable optimal health outcomes” (Canadian Interprofessional Health Collaborative; 2010)
• „… an intervention that involves different health and/or social professions who share a team identity and work closely together in an integrated and interdependent manner to solve problems and deliver services” (Institute of Medicine) (Reeves, Lewin et al. 2016).

Eine koordinierte patientenzentrierte Versorgung, die den gesamten Versorgungsverlauf im Blick hat, ist dabei zentral, eine abgestimmte Vorgehensweise ein Grundbaustein (Lerberghe, Evans et al. 2008). Trotz methodischer Schwächen gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass interprofessionelle Zusammenarbeit zur Verbesserung der Versorgungsqualität, Patientenzufriedenheit und Arbeitszufriedenheit beitragen kann (Reeves 2017, Sangaleti, Schveitzer et al. 2017, Somé, Devlin et al. 2020, Carron, Rawlinson et al. 2021). Sie ermöglicht die optimale Nutzung spezialisierten Wissens und der Praktiken verschiedener Berufsgruppen (Sangaleti, Schveitzer et al. 2017). Die Kombination diverser Kompetenzbereiche gewinnt besonders im Hinblick auf die Zunahme lebensstilbedingter Erkrankungen und Multimorbidität an Bedeutung (Seger and Gaertner 2020). So tragen beispielsweise bei der Beratung zu einer angepassten Ernährung neben Ernährungsfachkräften auch andere Gesundheitsberufe wie Pflegefachpersonen, Ärzt:innen und Apotheker:innen zur Vermittlung evidenzbasierter Informationen bei und helfen, Versorgungsbrüche zu vermeiden (McClinchy, Williams et al. 2015).
In Deutschland fordert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bereits seit 2007 eine Stärkung der interprofessionellen Zusammenarbeit in verschiedenen Kontexten (Fischer, Glaeske et al. 2007, Gerlach, Greiner et al. 2014, Gerlach, Greiner et al. 2018). Auch Wissenschaftler:innen (Frenk, Chen et al. 2010, Wissenschaftliche Kommission fur ein modernes Vergütungssystem – KOMV 2019), Stiftungen (Alscher 2011, Alscher 2013, Verein zur Förderung der Wissenschaft in den Gesundheitsberufen (VFWG) 2020), Politik (Bär, Schönemann-Gieck et al. 2019) und Berufsverbände (Alscher 2011, Alscher 2013, Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (BVMD), Bundesarbeitsgemeinschaft Junge Pflege im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe e.V. (DBfK) et al. 2018, Romijn, Teunissen et al. 2018, BPhD -Bundesverband der Pharmaziestudierenden in Deutschland e.V. 2019, Höppner 2020) drängen seit Jahren auf eine vermehrte Interprofessionalität. Gesetzliche Krankenkassen betonen die Bedeutung von Koordination und Zusammenarbeit (BARMER 2017). Drittmittelfinanzierte Projekte ver-
stärkten die Diskussion posi-tiv, als Beispiel seien die „PORT
– Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“ genannt, bei denen multiprofessionelle Teams eine konzeptionelle Basis bilden (Schmid 2020).
Es fehlt also nicht an Appellen. Die 2018 eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur sektorenübergreifenden Versorgung konstatiert 2020 erneut, dass die Abstimmung zwischen z. B. Ärzt:innen und Pflegefachpersonen oft von den individuellen Akteuren abhängig ist (Bund-Länder-AG 2020). Auch wenn die Evidenz des Mehrwerts interprofessio-
neller Zusammenarbeit wächst,
ist in der Umsetzung offen-sichtlich noch „Luft nach oben“.
Vor diesem Hintergrund
gründete sich 2017 im Deut-
schen Netzwerk Versorgungs-forschung e.V. (DNVF e.V.) die Arbeitsgruppe „Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung“ (AG ZiGEV) mit dem Ziel, den Dialog der verschiedenen Gesundheitsprofessionen in der Ver-
sorgungsforschung anzuregen.
Neben der Definition der Be-
grifflichkeiten, die im Kon-
text von Zusammenarbeit in
der Gesundheitsversorgung
verwendet werden, beschäft-igt sich die AG mit den Themen Arbeitstei-lung und Anforderungen an die Zusammenarbeit. Im Rahmen dieser Arbeit wurde das Expert:innen-Netz-
werk der Mitglieder der AG ZiGEV genutzt, um Einblicke in den aktuellen Umsetzungsstand interprofessioneller Zusammenarbeit aus verschiedenen professionellen Perspektiven zu bekommen und daraus mögliche Ansätze für Verbesserungen resp. Forschungsbedarf abzuleiten.
Aktuelle Einschätzungen zur interprofessionellen Zusammenarbeit
Wir führten im Sommer 2020 eine nicht-repräsentative schriftliche Befragung unter den AG-Mitgliedern (n=66) durch. Zum Einsatz kam ein von Mitgliedern der AG konstruierter, hypothesenbasierter Fragebogen, der im Rahmen einer AG-Sitzung einen Pilottest durchlaufen hat. Es wurden überwiegend offene Fragen gestellt zu regelmäßigen Kooperationen mit anderen Berufsgruppen, professionsspezifischen Kompetenzen, Versorgungsaufgaben und deren Aufteilung sowie nach wahrgenommenen strukturellen und formalen Hürden bzw. Förderfaktoren für eine patientenzentrierte Versorgung. Aufgrund eines zunächst nur schleppenden Rücklaufs wurden die AG-Mitglieder gebeten, den Fragebogen in ihren Netzwerken zu verteilen. Insgesamt lagen für die Analyse 28 Antworten aus acht verschiedenen Berufsgruppen vor, wobei die Gruppe der Ernährungsfachkräfte (EFK)1 mit neun Teilnehmenden deutlich überrepräsentiert ist (Tab. 1).
Die Auswertung erfolgte deskriptiv, angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse durch drei Wissenschaftler:innen (HS, AF, AB) unter Nutzung von MAXQDA 12 (Release 12.3.6). Die Antworten wurden inhaltlichen Kategorien zugeordnet, entlang derer die Ergebnisse im Folgenden dargestellt sind. Um die Herkunft der Antworten transparent zu machen, ist, wo möglich, die Berufsgruppe der Antwortenden angegeben (vgl. Tab.1).

Wer arbeitet mit wem zusammen?
Alle Antwortenden gaben an, regelmäßig mit verschiedenen Berufsgruppen zusammenzuarbeiten. Dabei sind Ärzt:innen, gefolgt von Pflegefachpersonen und Therapeut:innen die insgesamt am häufigsten genannten (vgl. Abb. 1). Der berufliche Austausch fand über die medizinischen Gesundheits(fach)berufe hinaus mit vielen nicht-medizinischen Berufen statt, die teilweise durch Sozialversicherungsträger, teilweise durch kommunale Körperschaften finanziert werden. Dazu zählen Seelsorger:innen, Servicekräfte, Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen, Gesetzliche Betreuer:innen, Sportfachkräfte und Betreuungspersonal in Behinderteneinrichtungen, Jugendamt, Gericht sowie Mutter-Kind-Einrichtungen.

Wäre mehr interprofessionelle Zusammenarbeit sinnvoll?
(Vgl. additionales Material online: Tab. 3)

Situationsbezogen wird eine vermehrte Kooperation als sinnvoll erachtet, z.B. die schnellere Übermittlung von Arztberichten, sie funktioniere aktuell am ehesten im stationären Setting. Allerdings waren nicht alle von der Sinnhaftigkeit vermehrter interprofessioneller Zusammenarbeit überzeugt, aber bis auf die Ärzte forderten alle befragten Berufsgruppen mehr Austausch. Kritisch wurde dabei v. a. der dafür notwendige Zeitaufwand und fehlende Ressourcen gesehen.
Als Vorteile einer verstärkten Zusammenarbeit wurden benannt:
• Mehr Patientenzentrierung
• Verbesserte Qualität durch Kontinuität im Austausch und bessere Nutzung der vorhandenen Expertise, auch intraprofessionell
• Höhere Effizienz, indem verfügbare Zeit und Synergieeffekte besser genutzt werden und Überversorgung verhindert werden kann. Auch Einsparpotenzial wird vermutet.

Auf die Frage nach dem Bedarf von Evidenz wurde hinsichtlich der Effekte von interprofessioneller Zusammenarbeit konstatiert, dass es praktisch „keine Möglichkeit zu Nutzenbewertung und Forschung (wenig Zugang)“ (EFK19) bezüglich interprofessioneller Zusammenarbeit gäbe. Das bereits vorhandene Wissen aus Modellen müsse in die Praxis überführt werden. Vorgeschlagen wurde „die Initiierung von Forschungsprojekten, z. B. durch/mit Fragen, die aus der Praxis entstehen; Anschluss an den internationalen Wissensstand ermöglichen“ (Log5). Helfen würde es, die Versorgungsforschung gemeinsam zu gestalten. So wurde etwa eine wissenschaftlich begleitete Evaluation der Pflegetätigkeiten gefordert, unter Berücksichtigung der zunehmenden Pflegeschwere mit einer korrekten Pflegeaufwandberechnung.
Hürden und Lösungsvorschläge
Aktuelle Aufgabenverteilung
Für manche Berufe gäbe es zwar formal definierte (Vorbehalts-) Aufgaben (z. B. Hebammen, Pflegefachpersonen, begrenzt für Ernährungsfachkräfte), die meisten Aufgaben würden jedoch kompetenzbasiert oder situationsbezogen ausgeführt und dadurch bestünden zahlreiche Überlappungen, eine scharfe Abgrenzung fehle. Teilweise käme es dann zu „Kompetenzgerangel“ (Heb21).
Die beschriebenen Aufgaben ließen sich grob in Therapieplanung, -durchführung, Koordination und Patientenbegleitung sowie Prävention und Befähigung (Kurse, Schulungen) unterteilen. Die meisten Überlappungen fielen in die Bereiche Patientenbegleitung und Koordination. Dort sahen sich insbesondere Hausärzt:innen, Pflegefachpersonen sowie Medizinische Fachangestellte in der Pflicht, beim Überleitungsmanagement waren es auch Ernährungsfachkräfte und Therapeut:innen. Um die Umsetzung der theoretischen Aufgabenverteilung im Alltag zu verbessern, scheint die gemeinsame Festlegung von Aufgaben unter Berücksichtigung aller Gesundheitsberufe ebenso wichtig wie die formale (gesetzliche) Festschreibung von Kompetenzen und Tätigkeitsvorbehalten.
Vorhandene Kompetenzen würden nicht regelmäßig und ausreichend nachgefragt. Auch Heilmittelverordnungen (d. h. die gesetzlich definierten Aufgaben) würden nicht hinreichend ausgeschöpft, z. B. bei der Wochenbettbetreuung oder in der klinischen Geburtshilfe und bei Beratungen. Kompetenzen der Ernährungsfachkräfte würden ausgeschöpft, sofern funktionierende Strukturen etabliert seien, wie bspw. Ernährungsteams oder Schwerpunktpraxen. Die antwortenden Hausärzt:innen sahen das für ihre Berufsgruppe unterschiedlich: während eine Antwort konstatierte, dass hausärztliche Kompetenzen oft nicht ausgeschöpft seien, da Fachärzt:innen direkt aufgesucht würden, wies eine andere darauf hin, dass alle im Studium und Beruf erlernten Kompetenzen im hausärztlichen Alltag benötigt und auch angewendet werden. Im Alltag scheinen viele Aufgaben nicht klar zu Berufen bzw. damit verbundenen Kompetenzen zugeordnet zu sein. Um dies zu verbessern, wurden neben der Förderung eines besseren gegenseitigen Verständnisses auch klare Aufgaben- und Kompetenzdefinitionen vorgeschlagen. Insgesamt wurde betont, dass alle Berufsgruppen entsprechend ihrer jeweiligen Kernkompetenzen eingesetzt, ihnen mehr Verantwortung für Gesundheitsberufe bei Dia-gnostik, Therapieplanung und Evaluation zukommen und damit die Arztzentrierung verringert werden sollte.
Neuordnung von Aufgaben
Im Zusammenhang mit der Einschätzung der Notwendigkeit für vermehrte interprofessionelle Zusammenarbeit wurde der Neuordnung von Aufgaben eine zentrale Rolle zugesprochen, verbunden mit der Erwartung, dass diese zur Entlastung beitragen kann und dadurch Kapazitäten erhöht werden können. Dabei sollte jede Berufsgruppe ihre eigenen Kompetenzen möglichst vollständig ausschöpfen. Anstelle Aufgaben abzugeben, was insbesondere von Therapeut:innen abgelehnt wurde, ginge es „…eher um die Übernahme von Aufgaben, weniger die Abgabe“ (Phys10). Einige Antwortende sahen hingegen auch einen Nutzen bei der Abgabe von Aufgaben. „So wäre eine Entlastung z. B. der Ärzteschaft möglich“ (HÄ17).
Insgesamt wurde betont, dass es für eine tatsächliche effiziente, patientenzentrierte Versorgung v.a. um eine sinnhafte Koordination und Kooperation im jeweiligen Versorgungsnetz und in der jeweiligen Versorgungssituation gehe. Anstelle einer Umverteilung müsse eher die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt und die Versorgungsübergänge zu anderen Berufsgruppen besser gestaltet werden. Dabei gehe es nicht um die Entlastung einzelner Berufsgruppen, sondern um eine kompetente interprofessionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Hier zeige sich jedoch das „große Problem des Loslassens von Aufgaben“ (PFP24). Für die Teamarbeit sollten die Aufgabenzuteilungen im individuellen Fall klar kommuniziert werden.
Es gab Antwortende, die befürchteten, dass es zu Qualitätsverlusten durch Kompetenzüberschreitung kommen könne und die Versorgung dadurch weiter „gestückelt“ würde. Kompetenzüberschreitungen müssten vermieden werden. Notwendige Kompetenzen für Delegationsaufgaben könnten durch spezielle Lehrgänge erworben werden, wohingegen manche Professionen aufgrund ihrer Ausbildung bereits jetzt ausreichend vorbereitet seien. Um die Versorgungsqualität auch mit vermehrter Zusammenarbeit zu sichern, sei eine inhaltliche Rückkopplung mit anderen Behandelnden zwingend. Zusätzlich müssten die Ausbildungen an die aktuellen Bedarfe angepasst und deren Qualität gesichert werden. Für eine optimale Aufgabenverteilung müsse auch die Qualifizierung sichergestellt werden. Bemängelt wurden die individuell unterschiedlichen Qualifikationen und deren fehlende Qualitätssicherung sowohl in der Ausbildung als auch in der Leistungserbringung, woraus eine unterschiedliche Leistungsqualität resultiere.
Versorgungskultur
Hierarchische Strukturen
Aktuell stünden der patientenzentrierten Versorgung „vor allem hierarchische Gefüge und professionsbezogene Machtansprüche und alte tradierte Standesdünkel entgegen“ (PFP24). Um hier eine Verbesserung zu erreichen „wäre ein Umdenken im Grundverständnis von integrierter Versorgung notwendig, das nicht bedeutet wir verzahnen ambulante und stationäre medizinische Versorgung, sondern jede Profession im Gesundheitswesen trägt ihr Know-how und Mitwirken diagnose- und patientenbezogen bei.“ (EFK19). Hierzu bedürfe es jedoch förderlicher formaler und finanzieller Rahmenbedingungen.

Fachliche Silos
Die fehlende Wertschätzung und Unwissen führe dazu, dass Gesundheitsberufe nicht entsprechend ihrer jeweiligen Qualifikation eingesetzt und somit ihr Potenzial nicht ausgeschöpft würde: „Es herrschen leider viel Unkenntnis und Vorurteile gegenüber der Profession“ (EFK19). Das fehlende Wissen um vorhandene Kompetenzen könne die Qualität beeinträchtigen und zu suboptimalen Therapien führen, indem Angebote nicht genutzt oder suboptimale Therapien angeboten werden. Grundsätzlich sei „der Austausch über die Berufsgruppen hinweg […] elementar (PFP23), er „fördert den gleichen Wissenstand“ (Heb3) und sei hilfreich, um „gewisse Vorgehensweisen zu verstehen und um sein eigenes Wissen zu erweitern“ (MFA1). Erforderlich seien insbesondere berufsübergreifende Aus-, Fort- und Weiterbildungen.
Organisation der Zusammenarbeit
Fehlende ritualisierte Kooperation
Erschwerend sei für eine patientenzentrierte Kommunikation und Organisation der Zusammenarbeit die „kleinteilige ambulante Versorgungsstruktur ohne ,ritualisierte‘ Zusammenarbeit“ (HÄ18). Kooperation bliebe „im ambulanten Bereich dem Engagement der einzelnen Therapeuten überlassen“ (Phys10). Eine übergreifende definierte Zuständigkeit fehle. Zusätzlich stünden die formale Schweigepflicht und DSGVO dem interprofessionellen Austausch entgegen oder die Institutionen wehrten sich gegen einen Austausch.
Zeitnahe und sektorenübergreifende Informationen seien eine notwendige Voraussetzung für die Patientenversorgung. Die Kommunikation müsse insgesamt intensiviert und systematisiert werden. Vorgeschlagen wurden insbesondere interprofessionelle Fall- und Teambesprechungen.

Mangelnde Zeit
Vielfach konstatierten die Antwortenden, dass schlicht die Zeit für die Zusammenarbeit fehle, auch wegen mangelnder personeller Ressourcen. Besonders angemerkt wurden neben dem Fachkräftemangel und fehlenden „Auxillaries“ (Heb25) ein inadäquater Stellenschlüssel, u.a. auch wegen unklarer Daten hinsichtlich der aktuell eingesetzten Ressourcen.  

Formale Anpassungsnotwendigkeiten
Ein weiterer zentraler Hinderungsgrund für Kooperation seien eine fehlende Finanzierung und Fehlanreize. Hierzu müssten Abrechnungskriterien und -möglichkeiten geschaffen werden. In Bezug auf Heil- und Hilfsmittelleistungen wurde bemängelt, dass diese zu stark von der ärztlichen Verordnung abhängen und einen hohen bürokratischen Aufwand erforderten. Zudem würden die Heilmittelrichtlinien die Arbeit einschränken. Eine offenere und situationsgerechtere Gestaltung der Heil- und Hilfsmittelverordnungen und anderer Versorgungsformen sei hier zielführend. So wurde von Therapeut:innen ein Direktzugang zu Heilmittelberufen gefordert, allerdings unter dem Vorbehalt einer verbesserten Ausbildung.
Um den Gestaltungsspielraum und die Selbständigkeit der Berufsgruppen zu stärken, wäre eine Verkammerung notwendig. Um Überversorgung zu vermeiden und eine bessere Patientenzentrierung zu erreichen, wurde ein Primärarztsystem vorgeschlagen.
Zusammenfassung und Verbesserungsansätze
Ziel der alltagsbasierten, explorativen Befragung war es, Hürden und konkrete Ansatzpunkte aufzuzeigen, mit deren Hilfe die interprofessionelle Zusammenarbeit verbessert werden kann. Aus den Antworten der 28 Expert:innen ließen sich folgende Verbesserungsansätze ableiten, die teilweise ohne weitreichende gesetzliche Änderungen im Alltag angegangen werden könnten (vgl. Tab. 2):
• Berufsgruppenübergreifende gemeinsame Festlegung der Aufgaben im Team: alle Berufsgruppen sollten ihre Kernkompetenzen ausschöpfen. Das bedeutet u.U. auch mehr Verantwortung in Diagnostik, Therapieplanung und Evaluation für die jeweiligen Berufsgruppen. Dadurch wird eine Erhöhung der Gesamtkapazitäten erwartet.
• Umdenken im Grundverständnis von integrierter Versorgung:  die interprofessionelle Zusammenarbeit soll im Hinblick auf patientenzentrierte Kooperation und Koordination gestärkt werden, in der jeder sein Know-how beisteuert. Dabei liegt der Fokus insbesondere auf Versorgungsübergängen zwischen Professionen.
• Unterstützen können dabei berufsgruppenübergreifende Aus-, Fort- Weiterbildungsmöglichkeiten sowie eine ritualisierte und formalisierte Zusammenarbeit (z. B. Fallkonferenzen, fachlicher Austausch).
• Qualitätssicherung: Aus-, Fort- und Weiterbildungen werden an aktuelle Bedarfe angepasst und entsprechende Qualitätsstandards definiert. Außerdem ist ein formalisierter Informationsaustausch zwischen den Berufsgruppen, insbesondere mit Ärzten, zwingend.
• Ressourcen bereitstellen, um interprofessionelle Zusammenarbeit zu ermöglichen: Es braucht adäquate Stellenschlüssel sowie die Festlegung von Abrechnungskriterien und -möglichkeiten für Kooperationen.
• Spielräume für situationsgerechtere (flexiblere) Gestaltung der Versorgung: Dazu braucht es einerseits eine formale Festschreibung von Kompetenzen und Tätigkeitsvorbehalten, andererseits eine Flexibilisierung der Heil- und Hilfsmittelverordnungen. Ein Beispiel dafür ist der Direktzugang zu Heilmittelberufen.
Bekannte Hürden und Lösungen in der
politischen Diskussion
Ebenso wie in vielen Ländern haben auch die hier befragten Expert:innen überwiegend die Notwendigkeit für mehr interprofessionelle Zusammenarbeit gesehen (Carron, Rawlinson et al. 2021). Die in der internationalen Literatur beschriebenen Hürden (Rawlinson, Carron et al. 2021), die zu großen Anteilen auf Zeitmangel, Trainingsdefiziten, unklarer Rollenverteilungen und damit zusammenhängenden Verlustängsten sowie auf einem Mangel an Kommunikation beruhen, stimmen zum Großteil mit den hier beschriebenen Wahrnehmungen überein. Hinderungsgründe für eine bessere Umsetzung seien der vorliegenden Umfrage zufolge neben unklaren und gleichzeitig teilweise zu rigiden Aufgabenzuschreibungen zu einzelnen Berufen eine hierarchische Kultur, fehlende ritualisierte Teamarbeit und mangelnde Kenntnis über vorhandene Kompetenzen. Außerdem behinderten Zeitmangel und fehlende Vergütungsanreize eine funktionierende interprofessionelle Zusammenarbeit. Viele klar benannte Aufgaben könnten an Berufsgruppen mit passenderer Qualifikation abgegeben oder von ihnen übernommen werden.
Diese Barrieren haben offensichtlich auch im deutschen Versorgungsalltag nach wie vor Bestand, obwohl selbst die hier formulierten Lösungsvorschläge bereits weitgehend in der politischen Diskussion aufgegriffen werden: im „Gesamtkonzept Gesundheitsberufe“ des BMG sollen durch eine Modernisierung der Berufsgesetze u.a. die Qualitätsstandards der Ausbildungen geregelt werden (Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 2020). Alle großen Parteien bekannten sich in ihren Wahlprogrammen zu einer Weiterentwicklung der Qualifikationen der Gesundheitsberufe (bvmd 2021). Auch der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) unterstreicht die Notwendigkeit, die Aufgabenverteilung und Kooperationsformen grundlegend zu prüfen und die Autonomie von Pflegefachpersonen rahmenrechtlich sicherzustellen (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) 2021). Selbst die Ärzteschaft, die noch 2018 einer Aufgabenteilung äußerst kritisch gegenüberstand (Bundesärztekammer 2018), bestätigte beim Ärztetag 2021 im Prinzip alle hier formulierten notwendigen Maßnahmen (Bundesärztekammer 2021). Die Robert Bosch Stiftung legte kürzlich einen „Handlungskatalog für Politik und Selbstverwaltung“ vor, in dem u.a. auch die Erfordernisse der Einbindung der Gesundheitsberufe in eine gute Versorgung dezidiert beschrieben sind (Hofmann, Igl et al. 2021).
Konkrete Verbesserungsansätze bereits jetzt?
Trotz all dieser Aktivitäten ist die Diskrepanz zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit und der tatsächlichen Umsetzung bemerkenswert. Prozessbezogene Erkenntnisse zur Umsetzung scheinen deshalb zentral, denn nur so können praktische Lösungsansätze entwickelt werden (Innovationsausschuss 2021). Einige unserer Ergebnisse beschreiben konkrete Maßnahmen, die im Alltag bereits jetzt und regelungsunabhängig umsetzbar sind.
So kann dem mangelnden Wissen übereinander mit berufsübergreifenden, gemeinsamen Aus-, Weiter- und Fortbildungen (Ulrich, Amstad et al. 2020) entgegen gewirkt werden. Gemeinsame Arbeitsplätze (Co-Location) etwa in Primärversorgungszentren (Rawlinson, Carron et al. 2021) fördern eine niedrigschwellige Änderung der Kooperationskultur. Der Austausch zwischen Professionen und Einrichtungen kann bereits jetzt durch die Möglichkeiten eines „asynchronen Informationsaustauschs“ ohne die Notwendigkeit gleichzeitiger Verfügbarkeit verbessert und gefördert werden (Philipps, Scheible et al. 2021).
Die Implementierung neuer Versorgungsansätze erfolgt langsam und inkonsistent. Neuere Ansätze wie etwa „embedded implementation research“ (Churruca, Ludlow et al. 2019) oder Reallabore nutzen die engere Verknüpfung von der Praxis mit der Forschung, um Innovationen gemeinsam mit den Implementierenden effizienter und kontextbezogener umzusetzen. Projekte, die u.a. durch den Innovationsfonds in den letzten Jahren bundesweit gefördert und umgesetzt werden, erfordern im Prinzip ein solches Vorgehen. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass erfolgreiche Projekte auch in die Regelversorgung übernommen werden, auch wenn kein Rechtsanspruch darauf besteht (Ruppel and van den Berg 2022). Viele dieser Projekte beinhalten Elemente vermehrter interprofessioneller Zusammenarbeit oder intersektoraler Kooperation. Allein die Vielzahl der aktuell in ganz Deutschland implementierten und laufenden  Lotsen- und Case-Managementprojekte (BMC 2021) zeigt, dass Zuständigkeiten und Rollen im Versorgungsteam klar definiert und mehr Raum zum Austausch geschaffen werden müssen. Die Implementierung zeitlich abgestimmter Treffen (z.B. Fallkonferenzen), die in der Regel zusätzliche Ressourcen benötigen, kann so aktuell im Rahmen von Projekten angegangen werden. Auf diese Weise tragen die Projekte damit bereits zur Kulturänderung bei, auch wenn formale Anpassungen eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Änderung sind. Aber nur durch Erfahrungen im Versorgungsalltag kann die Zusammenarbeit eingeübt, können die vorhandenen Kompetenzen der jeweils Mitbehandelnden ausgeschöpft und damit die Behandlung interprofessionell und patientenzentrierter und ohne Versorgungsbrüche gestaltet werden.
Eine Konkretisierung der Zusammenarbeit zieht die Anpassung der Ausbildungsinhalte nach sich. Außerdem liefern diese „bottom-up-Prozesse“ auch Informationen zur Neuordnung formaler Vorbehaltsaufgaben, etwa, dass Gesundheitsberufe mehr Verantwortung bei Diagnostik, Therapieplanung und Evaluation bekommen. Weiteres Beispiel ist ein klareres Rollenverständnis in Teams, das für Veränderungsprozesse im Gesundheitswesen unverzichtbar ist (Hibbert, Basedow et al. 2021) und durch projektbezogene Prozesse gefordert und gefördert wird.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bereits jetzt Gelegenheiten zu mehr interprofessioneller Zusammenarbeit geschaffen und genutzt werden können, um patientenorientierte Kooperationsstrukturen umzusetzen. Durch die Intensivierung von interprofessioneller Zusammenarbeit können die vorhandenen Kompetenzen verschiedener Professionen optimal ausgeschöpft werden, Abläufe stringenter organisiert und optimiert werden. Dies trägt mit einer entsprechenden Aufgabenverteilung dazu bei, die steigenden Bedarfe bei multimorbiden chronisch Kranken zu decken, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen und damit das Gesundheitswesen nachhaltig zu stärken. <<

Ausgabe 04 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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