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Versorgungssituation von Patient:innen mit spastischer Bewegungsstörung in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland

22.07.2022 11:20
Schädigungen im zentralen Nervensystem und der zentralnervösen sensomotorischen Zell- und Bahnsysteme haben häufig spastische Bewegungsstörungen („spastic movement disorder“, SMD) zur Folge. Im Sinne der Leitlinien zur Therapie des spastischen Syndroms (AWMF/DGN) ist die Spastik definiert als „gesteigerter, geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand der Skelettmuskulatur, der als Folge einer Läsion deszendierender motorischer Bahnen des zentralen Nervensystems (ZNS) (Großhirn, Hirnstamm, Rückenmark) auftritt und in der Regel mit anderen Symptomen wie Muskelparese, Verlangsamung des Bewegungsablaufs, gesteigerten Muskeleigenreflexen, pathologisch enthemmten Synergismen und spastischer Dystonie einhergeht“. In früheren Studien wurde die Spastik als „geschwindigkeitsabhängige Zunahme des Muskeltonus als Folge einer Übererregbarkeit des spinalen tonischen Dehnungsreflexes“ bezeichnet [1]. Eine erweiterte Definition der SPASM-Gruppe bezeichnet die Spastik als positive Phänomene, die aufgrund einer Störung der sensomotorischen Kontrolle infolge einer Läsion des ersten Motoneurons hervorgerufen werden. Die Ausprägung sind anhaltende unwillkürliche Aktivierungen von Muskeln [2]. Die SMD ist ein häufiges Syndrom von Erkrankungen wie einem Schlaganfall, der Multiplen Sklerose oder dem Schädel-Hirn-Trauma. In Deutschland erleiden laut Schätzungen jedes Jahr bis zu 260.000 Menschen einen Schlaganfall [3]. Bei knapp der Hälfte der Überlebenden (bis zu 46%) tritt innerhalb der ersten drei Monate nach dem Schlaganfall eine Spastik auf [4, 5]. Auch zu späteren Zeitpunkten kann sich noch eine Spastik entwickeln [4]. Höhergradige Lähmungen und Sensibilitätsstörungen sind Prädiktoren bei der Entwicklung einer Spastik, z. B. als Folge eines Schlaganfalls, und können mit schweren Einschränkungen bei der Alltagsbewältigung einhergehen [6]. Betrachtet man die Zeiträume nach einem Schlaganfall detaillierter, ergibt sich, dass innerhalb der ersten vier Wochen bei 4% bis 27% der Patient:innen eine Spastik beobachtet werden konnte. Die Prävalenz erhöht sich in der postakuten Phase (ein bis drei Monate) auf 19% bis 26,7%. Über den Zeitraum von drei Monaten hinaus zeigt sich eine PSS (Post Stroke Spasticity) von 17% bis 42,6% [4].

http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2430

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Abstract

Hintergrund: Die Studie beleuchtet die aktuelle Versorgungssituation von Patient:innenen mit spastischer Bewegungsstörung (SMD) in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland. Die medikamentöse und nicht-medikamentöse Versorgung wird vor dem Hintergrund einer leitlinienkonformen Behandlung der SMD analysiert und diskutiert.
Methodik: Die retrospektive Befragung von niedergelassenen Allgemeinmedizinern beinhaltet einen zweiseitigen Fragebogen, der sich an die praktizierenden Hausärzt:innen richtete, sodass die Therapieentscheidungen, die im Ermessen der teilnehmenden Ärzt:innen lag, dargestellt werden konnten. Die insgesamt 26 Fragen beinhalten demografische und krankheitsrelevante Daten der jeweiligen Patient:innen, Angaben zu den angewandten Therapieverfahren und der Überweisung an Spezialisten. Von insgesamt 300 zufällig ausgewählten niedergelassenen Allgemeinmedizinern in Deutschland wurden 24 Teilnehmende erfasst. Diese lieferten Daten zur demografischen Struktur und dem Krankheitsbild sowie der Versorgungssituation im Rahmen der hausärztlichen Behandlung von 97 Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen und wurden mithilfe deskriptiv-statistischer Verfahren analysiert.
Ergebnisse: Insgesamt wurden Daten zu 97 Patient:innen von den 24 teilnehmenden Allgemeinmedizinern erfasst. Das durchschnittliche Alter der Patient:innen liegt bei gerundet 70 Jahren. Die bei diesem Patientenkollektiv am häufigsten genannte Ursache für eine SMD ist ein Schlaganfall (44%). Der Schweregrad der SMD wird bei 47% der Patient:innen durch den behandelnden Allgemeinmediziner als „schwer“ eingeschätzt. Von den 97 Patient:innen haben 69% einen Pflegegrad von 3 und höher. Bei 61 von 97 Patient:innen (63%) gaben die befragten Ärzt:innen an, dass der jeweilige Patient aufgrund der SMD einem höheren Pflegegrad zugeordnet wurde. Bei 49% der Patient:innen trat eine Depression und bei 47% eine Kontraktur der Gelenke als Begleiterkrankung auf. 86% der Patient:innen erhielten zur Reduktion der SMD eine Physiotherapie, wovon bei 40% pro Halbjahr zwischen 12 und 24 Sitzungen angeordnet wurden. 67 der 97 Patient:innen (69%) wurden durch den behandelnden Allgemeinmediziner an einen anderen Facharzt überwiesen. Bei 61 Patient:innen (63%) wurden antispastische Medikamente eingesetzt. Baclofen machte davon den größten Anteil (61%) aus. Bei 4% der Patient:innen wurde mit Botulinum-Neurotoxin A-Injektionen therapiert. Der häufigste Grund für eine fehlende Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin A ist eine mangelnde Verfügbarkeit in der Nähe (47%).
Konklusion: Diese nicht-interventionelle Studie bestätigt die Ergebnisse mehrerer Studien, die eine Fehl- und Unterversorgung von Patient:innen mit SMD in Deutschland aufgezeigt haben und weitet den Betrachtungsbereich auf die Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen aus. Klare Regelungen und Vereinfachungen bei der Abrechnung und Kostenübernahme von Behandlungen, die entsprechend der Leitlinien empfohlen werden, könnten flächendeckend Ärzt:innen zu einer weiteren Anpassung an die leitliniengerechte Versorgung motivieren. Berufsverbände und Fachgesellschaften sollten sich der Versorgungssituation vom SMD-Patient:innen zuwenden und verbindliche, interdisziplinäre Versorgungsanpassungen und strukturelle Vereinfachungen vorantreiben, um eine langfristige und nachhaltige Versorgung von Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen zu gewährleisten.

Care situation of patients with spastic movement disorder in inpatient care facilities in Germany

Background: The study highlights the current care situation of patients with spastic movement disorder (SMD) in inpatient care facilities in Germany. Drug and non-drug care is analysed and discussed against the background of guideline-compliant treatment of SMD.
Methods: The retrospective survey of general practitioners includes a two-page questionnaire addressed to the practising general practitioners, so that the therapy decisions, which were at the discretion of the participating doctors, could be presented. The total of 26 questions contain demographic and disease-relevant data of the respective patient, information on the therapy methods used and referral to specialists. Of a total of 300 randomly selected general practitioners in Germany, 24 participants were recorded. These provided data on the demographic structure and the clinical picture as well as the care situation in the context of GP treatment of 97 patients with SMD in inpatient care facilities and were analysed using descriptive-statistical methods.
Results: In total, data on 97 patients were collected from the 24 participating general practitioners. The average age of the patients is rounded 70 years. The most frequently cited cause of SMD in this patient population is a stroke (44%). The severity of the SMD is assessed as „severe“ in 47% of the patients by the treating general practitioner. Of the 97 patients, 69% have a care level of 3 or higher. In 61 out of 97 patients (63%), the doctors interviewed stated that the respective patient was assigned to a higher care level due to the SMD. 49% of the patients had depression and 47% had joint contracture as a concomitant disease. 86% of the patients received physiotherapy to reduce the SMD, of which 40% received between 12 and 24 sessions per six months. 67 of the 97 patients (69%) were referred to another specialist by their general practitioner. Antispastic drugs were used in 61 patients (63%). Baclofen accounted for the largest proportion (61%). Botulinum neurotoxin A injections were used in 4% of patients. The most common reason for not receiving botulinum neurotoxin A treatment was a lack of availability nearby (47%).
Conclusion: This non-interventional study confirms the results of several studies that have shown a lack of care and insufficient care for patients with SMD in Germany and expands the scope of observation to include patients with SMD in inpatient care facilities. Clear regulations and simplifications in the billing and reimbursement of treatments recommended according to the guidelines could motivate physicians across the board to further adapt to guideline-compliant care. Professional associations and specialist societies should address the care situation of SMD patients and promote binding, interdisciplinary care adjustments and structural simplifications to ensure long-term and sustainable care for patients with SMD in inpatient care facilities.

Keywords
Spasticity, botulinum neurotoxin A, general practice, care situation, Germany

Lukas Völkel MSc / Prof. Dr. rer. pol. h.c. Herbert Rebscher / Prof. Dr. rer. soc. Dr. med. Reinhard P.T. Rychlik

Literatur
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Zitationshinweis: Völkel, L., Rebscher, H., Rychlik, R.: „Versorgungssituation von Patient:innen mit spastischer Bewegungsstörung in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (04/22), S. 81-87. http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2430

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Plain-Text:

Versorgungssituation von Patient:innen mit spastischer Bewegungsstörung in stationären
Pflegeeinrichtungen in Deutschland

Schädigungen im zentralen Nervensystem und der zentralnervösen sensomotorischen Zell- und Bahnsysteme haben häufig spastische Bewegungsstörungen („spastic movement disorder“, SMD) zur Folge. Im Sinne der Leitlinien zur Therapie des spastischen Syndroms (AWMF/DGN) ist die Spastik definiert als „gesteigerter, geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand der Skelettmuskulatur, der als Folge einer Läsion deszendierender motorischer Bahnen des zentralen Nervensystems (ZNS) (Großhirn, Hirnstamm, Rückenmark) auftritt und in der Regel mit anderen Symptomen wie Muskelparese, Verlangsamung des Bewegungsablaufs, gesteigerten Muskeleigenreflexen, pathologisch enthemmten Synergismen und spastischer Dystonie einhergeht“. In früheren Studien wurde die Spastik als „geschwindigkeitsabhängige Zunahme des Muskeltonus als Folge einer Übererregbarkeit des spinalen tonischen Dehnungsreflexes“ bezeichnet [1]. Eine erweiterte Definition der SPASM-Gruppe bezeichnet die Spastik als positive Phänomene, die aufgrund einer Störung der sensomotorischen Kontrolle infolge einer Läsion des ersten Motoneurons hervorgerufen werden. Die Ausprägung sind anhaltende unwillkürliche Aktivierungen von Muskeln [2]. Die SMD ist ein häufiges Syndrom von Erkrankungen wie einem Schlaganfall, der Multiplen Sklerose oder dem Schädel-Hirn-Trauma. In Deutschland erleiden laut Schätzungen jedes Jahr bis zu 260.000 Menschen einen Schlaganfall [3]. Bei knapp der Hälfte der Überlebenden (bis zu 46%) tritt innerhalb der ersten drei Monate nach dem Schlaganfall eine Spastik auf [4, 5]. Auch zu späteren Zeitpunkten kann sich noch eine Spastik entwickeln [4]. Höhergradige Lähmungen und Sensibilitätsstörungen sind Prädiktoren bei der Entwicklung einer Spastik, z. B. als Folge eines Schlaganfalls, und können mit schweren Einschränkungen bei der Alltagsbewältigung einhergehen [6]. Betrachtet man die Zeiträume nach einem Schlaganfall detaillierter, ergibt sich, dass innerhalb der ersten vier Wochen bei 4% bis 27% der Patient:innen eine Spastik beobachtet werden konnte. Die Prävalenz erhöht sich in der postakuten Phase (ein bis drei Monate) auf 19% bis 26,7%. Über den Zeitraum von drei Monaten hinaus zeigt sich eine PSS (Post Stroke Spasticity) von 17% bis 42,6% [4].

>> Die Lebensqualität ist je nach Einzelfall unterschiedlich stark beeinträchtigt. So kann es neben kaum wahrnehmbaren klinischen Ausprägungen auch zu starker Beeinträchtigung der Mobilität und der Selbstversorgung kommen [7]. Schwierigkeiten bei der Durchführung der körperlichen Hygiene und Selbstpflege, ein vermindertes Selbstwertgefühl und ein gestörtes Selbstbild können weitere Komplikationen sein, die infolge einer Spastik auftreten [8]. Diverse Komorbiditäten stellen für die Patient:innen, die Angehörigen und das Pflegepersonal eine zusätzliche Belastung dar, die teilweise die Rehabilitation der Patient:innen beeinträchtigen kann [8]. Neben der Belastung der Pflegekapazitäten entstehen zudem für die Versorgung von Patient:innen mit SMD nach einem Schlaganfall vierfach höhere Gesundheitskosten im ersten Jahr [9]. Ein Großteil der Patient:innen fühlt sich in seiner Lebensqualität beeinträchtigt und leidet unter einem Verlust der Unabhängigkeit, an Depressionen und Stimmungsschwankungen und an Schmerzen in den oberen Extremitäten [10, 11].
Gemäß der Leitlinien zur Therapie des spastischen Syndroms der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [12] gibt es verschiedene Therapieempfehlungen, die zu einer Verbesserung der motorischen Funktionen, der Erleichterung der Pflege und zur Schmerzlinderung führen sollen. Dabei wurde auch die S2e (evidenzbasierte) DGNR-Leitlinie „Behandlung der Spastizität nach Schlaganfall“ [13] berücksichtigt. Je nach Art und Schwere der Erkrankung werden verschiedene Übungsbehandlungen zur Verbesserung der passiven und aktiven motorischen Funktionen empfohlen. Neben der „konventionellen“ Physiotherapie finden weitere nicht-medikamentöse Therapiemaßnahmen wie die Bewegungsinduktionstherapie, das geräteunterstützte passive Bewegen und die physikalische Therapie (thermische, Stoßwellen-, Elektrostimulations- und Magnetstimulationstherapie, Ganzkörpervibration) ihre Daseinsberechtigung.
Orale Antispastika sollten nur eingesetzt werden, wenn eine Spastizität trotz adäquater physikalischer und therapeutischer Maßnahmen nicht ausreichend kontrolliert werden kann. Die im Abstand von 3 Monaten zu erfolgende Injektion von Botulinum-Neurotoxin A
(BoNT A) sei zur Behandlung der fokalen, multifokalen und segmentalen spastischen Tonuserhöhung der oralen Antispastika vorzuziehen und kann um weitere adjuvante Therapien ergänzt werden. Auch die Intrathekale Baclofen-Pumpe (ITB) sollte erst nach nicht zufriedenstellenden physikalischen, physiotherapeutischen und oral-medikamentösen Behandlungsversuchen verwendet werden. Zusätzliche chirurgische Eingriffe können sich im Einzelfall als sinnvoll erweisen.
Eine leitliniengerechte Versorgung von Patient:innen mit SMD ist in Deutschland nicht flächendeckend und in vorgegebener Regelmäßigkeit vorhanden [13-19]. Die Versorgung von Patient:innen mit oralen Pharmaka soll gemäß der Leitlinien ausdrücklich nur dann erfolgen, wenn „eine alltagsrelevante Spastizität trotz adäquater physikalischer und therapeutischer Maßnahmen nicht ausreichend kontrolliert werden kann“, da nicht selten unerwünschte Nebenwirkungen wie Antriebsstörung und Sedierung auftreten [12]. Trotzdem werden in Deutschland oftmals Patient:innen mit oralen Pharmaka statt mit Physio- und Ergotherapie, ITB und BoNT A fehl- bzw. unterversorgt [13-19]. Diese Fehl- bzw. Unterversorgung konnte anhand von Patient:innen mit spastischen Bewegungsstörungen nach Schlaganfall insbesondere dann aufgezeigt werden, wenn die Behandlung nicht interdisziplinär, sondern durch Allgemeinmediziner erfolgte [14]. Dies kann sowohl gravierende Folgen für die Lebensqualität der Patient:innen als auch negative wirtschaftliche Auswirkungen mit sich bringen [16, 20]. Eine multiprofessionelle Zusammenarbeit scheint zur Gewährleistung einer effizienten Versorgung unabdingbar. Diese Versorgung scheint für Patient:innen insbesondere in stationären Pflegeeinrichtungen aufgrund der zusätzlichen Belastung nicht realistisch zu sein. Mithilfe eines Surveys soll die Versorgungsrealität von Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland evaluiert und potenzielle Fehl- und Unterversorgungsprobleme beleuchtet werden.
Methodik
Ergänzend zur Publikation von Potempa et al., der die Versorgungssituation in Deutschland von Patient:innen mit SMD analysierte, wurde eine Datenerhebung zur Versorgungssituation von Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen durchgeführt. Die retrospektive Befragung von niedergelassenen Allgemeinmediziner:innen beinhaltete einen zweiseitigen Fragebogen, der sich an die praktizierenden Hausärzt:innen richtete, sodass die Therapieentscheidungen, die im Ermessen der teilnehmenden Ärzt:innen lag, dargestellt werden konnten. Die insgesamt 26 Fragen beinhalten demografische und krankheitsrelevante Daten der jeweiligen Patient:innen, Angaben zu den angewandten Therapieverfahren und der Überweisung an Spezialisten.
Zur Rekrutierung wurden insgesamt 300 zufällig ausgewählte niedergelassene Allgemeinmediziner:innen in Deutschland auf postalischem Weg kontaktiert. Die Rückläufer wurden in ein bestehendes Datenbanksystem eingepflegt und mithilfe deskriptiv-statistischer Verfahren analysiert. Die Befragungen wurden zu Beginn des Jahres 2021 durchgeführt, wobei sich die Fragen selber auf das zweite Halbjahr 2019 beziehen. Von einer vorerst angedachten Befragung zum Jahr 2020 wurde letztendlich abgesehen, da die außergewöhnliche, durch die coronavirus-bedingte Situation in diesem Jahr zu unabsehbaren Verzerrungen in der Versorgungsrealität geführt haben könnte. In diesem Zusammenhang sollten etwaige Unsicherheiten in der Auswertung grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Ergebnisse
Die Darstellung der Ergebnisse dieses Surveys kann in zwei Teile untergliedert werden. Zu Beginn werden die demografischen Angaben sowie Informationen zum Krankheitsbild der Patient:innen dargestellt. Im zweiten Abschnitt werden die Ergebnisse bezüglich der Versorgungssituation einschließlich der verwendeten Therapiemaßnahmen und der möglichen Zusammenarbeit mit anderen Fachärzt:innen aufgeführt.

Demografische Daten und Krankheitsbild der Patient:innen
Insgesamt wurden Daten zu 97 Patient:innen von den 24 teilnehmenden Allgemeinmediziner:innen erfasst. Sie enthalten Angaben zur demografischen Struktur und dem Krankheitsbild sowie der Versorgungssituation im Rahmen der hausärztlichen Behandlung von Patient:innen mit SMD, die in Pflegeeinrichtungen untergebracht sind (Tab. 1)
Das durchschnittliche Alter der Patient:innen liegt bei gerundet 70 Jahren (69,85) und der Median bei einem Alter von 71 Jahren (Tabelle 1). 59%, also 57 der 97 Patient:innen, lebten in einem Senioren- oder Pflegeheim, 16% in einer betreuten Wohneinrichtung und 15% in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. 9 weitere Patient:innen (9%) lebten in keiner stationären Pflegeeinrichtung und wurden Zuhause von einem Pflegedienst betreut.
Wie einleitend beschrieben, kann eine SMD durch viele mögliche Ursachen auftreten. Die bei diesem Patient:innenkollektiv am häufigsten genannte Ursache ist ein Schlaganfall bei 43 der 97 Patient:innen (44%). Bei 24% wird die Ätiologie durch eine Zerebralparese und bei 16% durch ein Schädel-Hirn-Trauma erklärt. Weitere Ursachen sind Multiple Sklerose (5%) und eine Rückenmarksläsion (3%). Bei 13 Patient:innen (13%) werden andere Ursachen genannt, darunter Unfälle, Demenz, Hydrocephalus, Poliomyelitis, Chorea Huntington, Korsakow, Alzheimer, Parkinson und Dupuytren-Kontraktur-Sklerodermie.
Darüber hinaus wurde zusätzlich die Ausprägung der Erkrankung der Patient:innen bei den behandelnden Allgemeinmedizinern erfragt. Bei 31% der Patient:innen tritt die SMD halbseitig, an jeweils einem Arm und Bein, auf. Bei 26% ist sie multifokal ausgeprägt und bei 13% an den Beinen beidseitig lokalisiert. Die Ausprägung an allen Gliedmaßen wurde bei 20% und an nur einem Arm einseitig bei 10% der Patient:innen durch den behandelnden Arzt angegeben. Die fokale (1%), und an beiden Armen beidseitige (3%) Lokalisation treten am wenigsten häufig auf. Ein Arzt gab bei einer Patient:in keine Angabe zur Ausprägung der Bewegungsstörung an. Der Schweregrad der SMD wird bei 47% der Patient:innen durch den behandelnden Allgemeinmediziner als „schwer“ eingeschätzt. Bei 46% der Patient:innen wurde die Angabe „mittelgradig“ und bei lediglich 6% eine leichte Bewegungsstörung verzeichnet.
Sowohl für die Darstellung der Versorgungssituation des Patient:innenkollektivs als auch für die daraus ableitbaren gesundheitsökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen ist das Vorliegen eines Pflegegrades relevant. Von den 97 Patient:innen haben 69% einen Pflegegrad von 3 und höher. 20% haben den Pflegegrad 3, 24% den vierten und 25% den fünften Pflegegrad. Insgesamt 13% der Patient:innen haben keinen oder nur einen niedrigen Pflegegrad (3% kein Pflegegrad, jeweils 5% Pflegegrad 1 und Pflegegrad 2). Bei 19 Prozent der Patient:innen (18 von 97) wurde durch den behandelnden Arzt keine Angabe zum Pflegegrad gemacht.
Aufgrund der schwerwiegenden Einbußen in der Motorik und den daraus resultierenden Alltagseinschränkungen der Patient:innen, kann die SMD ein bedeutender Faktor für eine höhere Pflegegrad-Einstufung sein. Bei 61 von 97 Patient:innen (63%) gaben die befragten Ärzt:innen an, dass der jeweilige Patient aufgrund der SMD einem höheren Pflegegrad zugeordnet wurde. Bei 13% (13 Patient:innen) wurde diese Aussage verneint und bei 24% wurde keine Angabe gemacht.
Durch die SMD treten eine Reihe von Begleiterkrankungen auf. Es treten verstärkt psychische Erkrankungen auf. In dieser Befragung wurde bei 49% der Patient:innen eine Depression diagnostiziert. Eine weitere Begleiterscheinung stellt bei 47% der Patient:innen eine Kontraktur der Gelenke dar (Abb. 1).
Dekubitus sind bei 24% der Patient:innen aufgetreten und bei 11% Mazerationen der Haut. Auftretende Infektionen sind mit 9% eine weitere mögliche Begleiterscheinung. Bei 4% der Patient:innen wurden vom behandelnden Arzt ergänzende Erkrankungen angegeben, darunter rezidivierende Dekubitus, das als Indikator für eine Mangelversorgung verstanden werden kann, Neuralgien, Lymph-ödeme und Adipositas. Bei 18% der Patient:innen (17 von 97) beantwortete der Arzt diese Frage nicht.
Die SMD führt aufgrund ihrer schweren Symptomatik und den einhergehenden Einschränkungen in der selbständigen Lebensführung oftmals zu einem großen Leidensdruck der Patient:innen. Bei dieser Befragung wurde bei 52% der Patient:innen der Leidensdruck durch den Allgemeinmediziner als „erheblich“ eingestuft und bei 38% als „mäßig“. Lediglich bei 8 Patient:innen (8%) wurde ein geringeres Leiden der Patient:innen durch den Arzt vermerkt. Bei 2 Patient:innen wurde diese Frage durch den behandelnden Arzt nicht beantwortet.
Versorgungssituation der Patient:innen
in Deutschland
Eine wichtige Fragestellung ist, inwieweit der Versorgungsalltag einer leitliniengerechten Behandlung entspricht. Nachfolgend werden die entsprechenden Ergebnisse dargestellt. Neben Angaben zur medikamentösen Therapie und der Anzahl und Art an Arztbesuchen zählen dazu auch Überweisungen an andere Fachdisziplinen.
38% der Patient:innen traten im 2. Halbjahr 2019 laut Angaben der Allgemeinmediziner:innen 1-3 Mal mit ihren Hausärzt:innen in Kontakt. Bei 30% kam es 4-6 Mal und bei 16% 7-9 Mal zu einem Arzt-Patienten-Kontakt. Bei den restlichen 15 Patient:innen (15%) wurden 10 oder mehr Arzttermine durch die Ärzt:innen verzeichnet. Bei diesem Patientenkollektiv ist die Art und Häufung des Arzt-Kontaktes durch die Wohnsituation in einer Pflegeeinrichtung bedingt. Bei der überwiegenden Anzahl der Patient:innen, 88% (85 Patient:innen), kam der Arzt-Patienten-Kontakt durch einen Hausbesuch des Arztes in der jeweiligen Einrichtung zustande. Lediglich 12 Patient:innen (12%) besuchten die Praxis der behandelnden Ärzt:innen.
Die nachfolgend aufgeführten Ergebnisse beziehen sich auf Fragen, welche die konkrete Behandlung der SMD dieser Patient:innen durch die Allgemeinmediziner:innen fokussieren.
Für eine leitlinienkonforme Therapie dieses Patientenkollektivs ist eine ergo- und physiotherapeutische Behandlung erforderlich. Bei den nicht-invasiven Therapieverfahren wurde die Physiotherapie dementsprechend als häufigste Methode angegeben. 86% der Patient:innen erhielten zur Reduktion der SMD eine Physiotherapie. Bei 13% wurden Orthesen angewandt und 3% der Patient:innen erhielten eine Akupunktur-Therapie. Zudem wurden bei 18 Patient:innen (19%) ergänzende nicht-invasive Therapiemaßnahmen durch den Arzt genannt, darunter die Verwendung von CBD-Tropfen, Krankengymnastik, Verwendung eines Rollstuhls, ein aktives Bewegungsangebot in der Pflegeeinrichtung, Ergotherapie sowie eine Lymphdrainage. Wenn den Patient:innen Physiotherapie verschrieben wurde, wurden pro Halbjahr bei 40% der Patient:innen 12-24 Sitzungen angeordnet und bei jeweils 24% bzw. 25% (je 23 bzw. 24 Patient:innen von 97) 6-12 oder mehr als 24 Sitzungen. Lediglich bei einer Patient:in wurden weniger als 6 Sitzungen angeordnet. Bei 10 Patient:innen (10%) beantwortete der jeweilige Arzt diese Frage nicht.
Der häufigste Grund für eine fehlende Physiotherapie in der Behandlung war die Ablehnung von sieben Patient:innen (50%). Weitere Gründe sind der durch den jeweiligen Arzt beurteilte mangelnde klinische Erfolg (14%) sowie die Situation, dass keine medizinische Indikation dafür vorlag (21%). Bei einer Patient:in (7%) ist diese Behandlungsoption nicht in der Nähe verfügbar gewesen, bei einer anderen Patient:in (7%) wurden die Kosten nicht oder nur eingeschränkt von der Krankenkasse übernommen. Bei einer weiteren Patient:in (7%) begründete der behandelnde Arzt, dass keine Physio-
therapie aufgrund des hohen Alters der Patient:in und den sehr fortgeschrittenen Einschränkungen verordnet wurde. Bei einer weiteren Patient:in (7%) wurde zu dieser Frage keine Angabe gemacht.
Gezielte Bewegungsangebote in den jeweiligen Einrichtungen können die Behandlung fördern und eine Besserung der SMD bewirken. Doch bei 58 Patient:innen (60%) gibt es in der jeweiligen stationären Einrichtung der Patient:innen keine speziellen Bewegungs- oder Therapieangebote, bei 29 Patient:innen (30%) sind solche Angebote in den Pflegeheimen verfügbar. Bei 10 Patient:innen (10%) wurde keine Angabe dazu getroffen.
Ergänzend zu der Physiotherapie ist auch, abhängig vom Schweregrad der SMD und der Wirkung der physiotherapeutischen Maßnahmen, eine medikamentöse Behandlung unabdingbar und wird in den entsprechenden Leitlinien der Fachgesellschaften empfohlen. Daher wurden in dieser Befragung auch Daten zur medikamentösen Versorgung durch die Hausärzt:innen erhoben. Bei 61 Patient:innen (63%) wurden antispastische Medikamente eingesetzt, bei 31 Patient:innen (32%) nicht. Für 5 Patient:innen wurde durch den behandelnden Arzt dazu keine Angabe gemacht. Im Folgenden werden zuerst die Ergebnisse zu dem Einsatz von oralen antispastischen Medikamenten dargestellt. Am häufigsten wurden die Medikamente Baclofen (61%), Gabapentin (34%), Tolperison (23%) und L-DOPA (10%) von den Ärzt:innen verschrieben (Abb. 2).
Andere Medikamente kamen in einzelnen Fällen zum Einsatz, darunter Tizanidin (7%), Dantrolen (2%), Clonazepam (3%), Diazepam (7%) und Memantin (3%). Vier Patient:innen (7%) wurden mit weiteren Medikamenten (Pregabalin, Quetiapin, Pramipexol) behandelt, die in diesem Fragebogen nicht berücksichtigt wurden und von den Ärzt:innen zusätzlich angegeben wurden.
Die häufigsten Gründe für eine fehlende Verschreibung von oralen antispastischen Medikamenten waren die Ablehnung der Patient:innen (29%), sowie die mangelnde Aussicht auf klinischen Erfolg (26%) und fehlende medizinische Indikation (23%). Als sonstige Gründe wurden bei zwei Patient:innen (6%) die Ablehnung der Angehörigen und die Behandlung durch eine Neurolog:in aufgeführt. Bei vier Patient:innen (13%) wurde diese Frage nicht beantwortet.
Neben der Therapie mit antispastischen Arzneimitteln stellt auch die Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin A eine leitlinienkonforme Therapiemöglichkeit dar, die von Allgemeinmediziner:innen jedoch erfahrungsgemäß nicht häufig eingesetzt wird (Abb. 3). BoNT A weist insbesondere bei fokaler Spastik ein besseres Nutzen-Risiken-Verhältnis auf und sollte vor dem Gebrauch oraler Antispastika bevorzugt eingesetzt werden. Auch bei dieser Befragung wurden die Patient:innen mehrheitlich nicht mit Botulinom-Neurotoxin A-Injektionen therapiert. 93 der 97 Patient:innen (96%) erhielten keine Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin A. In zwei Fällen (2%) wurde dieses vereinzelt angewandt, in weiteren zwei Fällen (2%) regelmäßig. Der häufigste Grund für eine fehlende Behandlung mit Botulinum-Neurotoxin A ist eine mangelnde Verfügbarkeit in der Nähe (47%)(Abb. 4).
Weitere Ursachen sind die Ablehnung der Patient:innen (20%), eine fehlende medizinische Indikation (16%) sowie keine Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse (5%). Weitere genannte Aspekte („Sonstiges“, 11%) sind Fälle, in denen die Neurolog:in diese Behandlung nicht empfahl, ein vorhandenes apallisches Syndrom, eine schlechte Transportfähigkeit der Patient:innen, die Ablehnung von Angehörigen sowie eine schwierige Compliance, welche oft durch eine Demenz bedingt ist (Für 11 Patient:innen (12%) konnten keine Angaben gemacht werden.)
Die orale Behandlung mit dem antispastischen Medikament Baclofen ist in dieser Befragung die am häufigsten genutzte medikamentöse Behandlungsoption bei diesem Patient:innenkollektiv. Eine intrathekale Baclofenpumpe kommt dagegen nur selten zum Einsatz. 94 der 97 Patient:innen (97%) wurden nicht mit einer intrathekalen Baclofenpumpe behandelt, lediglich zwei Patient:innen (2%) erhielten diese Behandlung. Bei einer weiteren Patient:in beantwortete der behandelnde Arzt diese Frage nicht. Diese Behandlungsalternative wird in der allgemeinärztlichen Versorgungsrealität bei den Patient:innen aus Pflegeeinrichtungen nur selten genutzt, ist jedoch auch nur bei betroffenen Patient:innen mit ausgebreiteter SMD (z.B. bei Tetraspastik) indiziert.
Schmerzmittel kommen laut Angaben der Allgemeinmediziner dagegen sehr häufig zum Einsatz. 65% (63) der Patient:innen benötig-ten aufgrund ihrer SMD Schmerzmedikamente, 34% (33) nicht. In einem Fall wurde keine Angabe gemacht. Bei 51% der Patient:innen, die Schmerzmittel erhielten, kamen NSAR (ASS, COX-2-Hemmer, Diclofenac, Ibuprofen) zum Einsatz. Bei 49% Co-Analgetika, bei 44% Pyrazolone und bei 37% Opioide. Lediglich bei einer der 63 mit Schmerzmittel behandelten Patient:innen wurden Acetanilide (Paracetamol) eingesetzt.
Die medizinische Versorgung von Patient:innen mit SMD sollte laut den Therapieleitlinien verschiedener Fachgesellschaften einem multiprofessionellen und interdisziplinären Behandlungsansatz folgen. Neben der hausärztlichen Versorgung ist auch die Einbeziehung von Ergo- und Physiotherapeuten und Neurologen sowie nach Bedarf anderen Facharztgruppen sinnvoll. Deshalb wurden ergänzende Fragen zur Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen in diese Befragung miteinbezogen.
67 der 97 Patient:innen (69%) wurden durch den behandelnden Allgemeinmediziner:innen an eine andere Fachärzt:in überwiesen, bei 29 (30%) nicht (Abb. 5). Für eine Patient:in wurde diese Frage nicht beantwortet. Sofern eine Überweisung erfolgte (bei 67 Patient:innen), wurde der größte Teil an eine Ärzt:in des Fachbereichs Neurologie verwiesen (61 Patient:innen, 93%) (Abb. 6).
Weitere Anlaufstellen waren die Bereiche Orthopädie (16%), Urologie (13%) und Rehabilitation (4%). Als Gründe für eine Überweisung an einen Facharzt gaben die behandelnden Hausärzt:innen hauptsächlich sowohl eine spezialisierte Behandlung der Spastik (51%) als auch eine spezialisierte Behandlung der Grunderkrankung (64%) an. Weitere Gründe waren der Wunsch der Patient:innen (16%), die Schmerztherapie (22%) und Rehabilitation (7%).
Diskussion
Die Befragung der Allgemeinmediziner:innen zur Versorgung ihrer Patient:innen mit spastischen Bewegungsstörungen, die in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht sind, zeigt deutliche Diskrepanzen zur angestrebten leitliniengerechten Versorgung [12]. Diese empfiehlt eine multiprofessionelle und interdisziplinäre physio- und bewegungstherapeutische Versorgung, welche bei Bedarf auf den Einsatz von oralen Antispastika, BoNT A, intrathekale Baclofenbehandlung und chirurgische Eingriffe ausgeweitet werden soll. Ebenso sollte die Versorgung verbesserte Schmerztherapien, Lösungskonzepte für die Erleichterung oder vollständigen Verhinderung der Pflege und präventive Maßnahmen gegen die Entstehung von Komorbiditäten bieten. Grundsätzlich muss eine geeignete Therapie immer individuell adaptiert werden. Regelmäßige Physio- oder Ergotherapie sind die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie, da sie die aktiven motorischen Funktionen rehabilitieren und in den Vordergrund stellen. Konstanz ist dabei einer der wichtigsten Parameter, da die Spastik ein irreversibles Syndrom ist. In den Leitlinien zur Therapie des spastischen Syndroms der DGN von 2008 findet sich eine explizite Empfehlung zur regelmäßig anzustrebenden Physiotherapie. Diese sollte zweimal pro Woche für eine Dauer von 30-45 Minuten erfolgen[21]. Langfristige Therapien sollen nach 3-monatiger Behandlung eine 4-6-wöchige Phase eigener Übungsbehandlungen einschieben. In den aktuellen Leitlinien der DGN sind diese expliziten Intervalle nicht mehr aufzufinden [12], da jede Therapie individuell angepasst werden muss. Allerdings können diese Intervalle als Vergleichswert dienen, um eine ausreichende Versorgung von Patient:innen abschätzen zu können.
In dieser Studie haben 65 Prozent der Patient:innen im 2. Halbjahr 2019 24 Mal oder weniger eine Physiotherapie-Sitzung verordnet bekommen. 25 Prozent der Patient:innen erhielten sogar lediglich 12 oder weniger Sitzungen. Auf das Jahr gerechnet (52 Wochen) würde dies im am besten angenommenen Fall 48 Sitzungen entsprechen. Die Mehrheit der Patient:innen (65%) erhält dementsprechend weniger als eine Physiotherapie-Sitzung pro Woche. Im Vergleich zu der empfohlenen Anzahl regelmäßiger Sitzungen stellt diese evaluierte Quantität an Physiotherapie-Sitzungen eine deutliche Unterversorgung der Patient:innen dar.
Dabei ist davon auszugehen, dass die Diskrepanz bei vielen Patient:innen noch extremer ausfallen wird, da der bestmögliche Fall (24 Sitzungen) als Vergleichswert angenommen wurde. Noch drastischer ist eine Unterversorgung bei 25% der Patient:innen zu vermuten, da sie auf das Jahr gerechnet maximal 24 Physiotherapie-Sitzungen, also etwas weniger als eine Sitzung alle 2 Wochen, erhalten. Dies scheint gerade bei Patient:innen in stationären Pflegeeinrichtungen problematisch zu sein, da lediglich 30% der stationären Einrichtungen der Patient:innen über eine spezielle Bewegungs- oder Therapieangebot verfügen. Ein verpflichtendes Angebot von Bewegungsmöglichkeiten in stationären Pflegeheimen wäre ein Ansatz, um die Versorgung von Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Konzepte zur effizienten Umsetzung von Physiotherapie-Sitzungen mithilfe digitaler Angebote könnten die Adhärenz der Patient:innen verbessern und die Auslastung von Physiotherapeuten nur unwesentlich erhöhen. Eine intensivere und konstante Versorgung von Patient:innen mit SMD ist essenzieller Bestandteil einer erfolgreichen Therapie und sollte unverzüglich in Angriff genommen werden, um Irreversibilitäten im Krankheitsverlauf zu verhindern und die Lebensqualität der Patient:innen stetig aufrechtzuerhalten.
Darüber hinaus wurde trotz Überweisung an einen Facharzt der Neurologie bei nur 2% der Patient:innen eine BoNT A-Behandlung durchgeführt. Insbesondere bei fokaler und multifokaler Spastik sowie ein-/beidseitiger Ausprägung in Arm oder Bein sollte neben der nicht-medikamentösen Therapie die Behandlung mit BoNT A die Therapie erster Wahl sein. 82% der evaluierten Patient:innen haben eine der genannten Spastiken und wären dementsprechend prädestiniert für eine nicht-medikamentöse Therapie in Kombination mit BoNT A. Die medikamentöse Injektionsbehandlung mit BoNT A hat ein wesentlich besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis und ist daher dem Gebrauch von oralen Antispastika vorzuziehen [12]. In der Praxis ist die Verwendung von BoNT A noch immer rar gesät. Dies deutet auf eine flächendeckende Fehlversorgung hin (es wird für die Behandlung ein zusätzliches Zertifikat „Qualifizierte Botulinumtoxintherapie“ von der Fachgesellschaft gefordert), da selbst bei vorliegender Überweisung zu einem Neurologen die Versorgung mit Anwendern von BoNT A oder intrathekalen Baclofenpumpen gewährleistet sein muss. Eine Abrechnungsziffer beim EBM und GOÄ für die Behandlung mit BoNT A könnte diese Unsicherheiten und zusätzlichen Aufwand seitens der Ärzt:innen beseitigen und somit die Versorgungssituation langfristig verbessern. Dabei könnte man sich an dem KV-Bereich Bayern orientieren, der für Neurolog:innen und Nervenärzt:innen am 01.04.2018 für alle Kassen eine Abrechnungsmöglichkeit für die Botulinumtoxin-Behandlung eingeführt hat. Eine grundsätzliche Verbesserung der Patient:innenversorgung geht somit mit der Simplifizierung der Kostenübernahme sowie Abrechnung und der Ausweitung einer multiprofessionellen Betreuung, gerade in ländlicheren Bereichen, einher.
Im direkten Vergleich zur 2018 durchgeführten Studie von Potempa et al. [14], die die durchschnittlichen Angaben von niedergelassenen Allgemeinmedizinern zur Versorgung ihrer Patient:innen mit spastischen Bewegungsstörungen evaluierte, zeigt auch diese Studie eine Fehlversorgung auf.
Im Gegensatz zu Potempa et al. wurden bei dieser Studie dezidierte Patientendaten erhoben, weswegen die Grundgesamtheit im Vergleich niedriger ausfällt. Im Kontext des Pflegegrades zeigt sich, dass die stationär untergebrachten Patient:innen eine stärkere Gewichtung bei den höheren Pflegegraden 3-5 (66%) haben, wogegen die Patient:innen des Surveys von 2018 hauptsächlich den Pflegegraden 2-4 (66%) zugeordnet waren. Den SMD-Patient:innen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, wurde auf das Quartal gerechnet seltener eine Physiotherapie verordnet. Ein potenzieller Grund mag das durchschnittlich höhere Alter, der höhere Pflegegrad oder die damit einehrgehende eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Patient:innen sein. Sowohl Potempa et al. als auch diese Studie zeigt auf, dass eine Depression und/oder Kontraktur die häufigsten Begleiterkrankungen von spastischen Bewegungsstörungen sind. Der Einsatz von antispastischen Medikamenten erfolgte bei Patient:innen in stationären Pflegeheimen etwas häufiger (63%) als im Vergleich zur Angabe der Ärzt:innen 2018 (49%). Trotz einem hohen Anteil an Facharztüberweisungen erhielten auch 2018 nur 9% der Patient:innen eine BoNT-A-Behandlung und die nicht vorhandene Verfügbarkeit wurde als dominierende Ursache angegeben.
Diese nicht-interventionelle Studie bestätigt die Ergebnisse mehrerer Studien, die eine Fehl- und Unterversorgung von Patient:innen mit SMD in Deutschland aufgezeigt haben und weitet den Betrachtungsbereich auf die Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen aus. Eine grundsätzlich schlechtere Versorgung vom Patient:innen mit SMD, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, im Vergleich zu Patient:innen mit SMD konnte nicht aufgezeigt werden. Lediglich in vereinzelten Punkten wie der Verordnung von Physiotherapie gab es deutliche Unterschiede. Die leitliniengerechte Versorgung wird aufgrund von strukturellen Problemen ausgebremst. Klare Regelungen und Vereinfachungen bei der Abrechnung und Kostenübernahme von Behandlungen, die entsprechend der Leitlinien empfohlen werden [12], könnte flächendeckend Ärzt:innen zu einer weiteren Anpassung an die leitliniengerechte Versorgung motivieren. Berufsverbände und Fachgesellschaften sollten sich der Versorgungssituation vom SMD-Patient:innen zuwenden und verbindliche, interdisziplinäre Versorgungsanpassungen und strukturelle Vereinfachungen vorantreiben, um eine langfristige und nachhaltige Versorgung von Patient:innen mit SMD in stationären Pflegeeinrichtungen zu gewährleisten. <<

Ausgabe 04 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
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Reinhold
Roski

 

 

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