„Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Versorgungsforschung“
http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2418
>> Herr Professor Falkai: Sollte die Nutzen-Diskussion, die Sie in Ihrer Begrüßung als Kongresspräsident des 21. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung einfordern, nicht längst geschehen sein? Oder andersrum: Wo hakt es? Oder positiv formuliert: Was sind die wichtigsten Herausforderungen, die vor uns stehen?
Wichtig an dem von Ihnen zitierten Satz sind die Begriffe der klinischen Realität und des damit verbundenen Patientennutzens. Ich habe es als Mediziner, Versorger und Forscher, der sich viele Jahre mit klinischen Studien und der Translation ihrer Ergebnisse in Leitlinien beschäftigt hat, immer bedauert, dass sich eine Art Disconnex zwischen klinischer Forschung und Versorgungsforschung herausgebildet hat. Auf der einen Seite gab und gibt es Forscher, die auf Basis der evidenzbasierten Medizin klinische Studien machen, nationale und noch viel mehr internationale Literatur auswerten und damit Leitlinien erarbeiten und weiterentwickeln. Auf der anderen Seite gibt es – ich polarisiere hier absichtlich – Versorgungsforscher, die sich intensiv mit Registerdaten und populationsbasierten Daten beschäftigen und daraus ihre Schlüsse ziehen. Mir fehlt der Link zwischen beiden Feldern. Genau darum versuche ich, der quasi Außenseiter, der vom Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung gebeten wurde, die diesjährige Kongresspräsidentschaft zu übernehmen, diese Brücke zu bauen.
Eine Brücke von der klinischen Studie in die Versorgungsrealität.
Exakt. Nur so werden wir es schaffen, die Ergebnisse klinischer Studien zum Nutzen für unsere Patient:innen in Leitlinien zu überführen.
Gab es die Brücke nicht schon vorher, schließlich wurde die deutsche Versorgungsforschung zu Beginn an medizinischen Fakultäten eingeführt?
Die sinnbildliche Brücke gab es natürlich von Beginn an, nur war sie vielleicht nicht stark genug ausgebaut und hat sicher in den letzten beiden Dekaden an einigen Standorten auch funktioniert. Was wir jetzt brauchen – und zwar viel stärker als bisher – ist eine eine gezielte Vernetzung beider Forschungsrichtungen. Nur so wird es uns gelingen, besser als bislang zu verstehen, wovon Menschen am meisten profitieren, wenn sie krank werden, am besten aber: noch bevor sie erste Symptome entwickeln.
Fordern Sie nicht so etwas wie eine Quadratur des Kreises? Auf der einen Seite haben wir klinische Studien, die über starke Einschluss- und Ausschlusskriterien sehr artifiziell agieren und eigentlich all das ausblenden, was Realversorgung ist und deren Ergebnisse daher nicht so ohne Weiteres auf alle Patientengruppen übertragbar sind; auf der anderen die Versorgungsforschung, die sich mit der Realversorgung und versorgungsnahen Daten auseinandersetzt.
Ich sehe keinen Gegensatz, eher das Modell der kommunizierenden Röhren: Beide Disziplinen können, wenn sie gut vernetzt und ausgestattet mit gegenseitigem Wissen sind, gut zusammenarbeiten und so unterschiedliche Aspekte eines Puzzles bearbeiten und Antworten finden. Man muss sich immer wieder klarmachen, dass selbst gut gemachte klinische Studien in der Lage sind, relativ umschriebene Fragestellungen zu beantworten. Obendrein ist das meist einfach, weil häufig nur zwei z.B. Behandlungsbedingungen miteinander verglichen werden, um herauszufinden, welche die bessere ist. Die Frage bleibt danach jedoch, ob die in einer klinischen Studie als die bessere Behandlungsbedingung erkannte Option, auch diejenige ist, die in der Breite der Versorgung die richtige ist, was nur von der Versorgungsforschung beantwortet werden kann. Das Ganze sollte man aber auch als eine Schleife denken, denn Versorgungsdaten können klinischen Forschern Fragestellungen eröffnen, die dann in klinischen Studien veri- oder falsifiziert werden können. Das wird nicht immer gelingen, da versorgungsnahe Daten eine sehr komplexe Realität abbilden, die über klinische Forschung nur bedingt abgebildet werden kann.
Obwohl viele von Big Data mit all seinen Möglichkeiten schwärmen.
Big Data nützen bei Fragestellungen bei umschriebenen Subgruppen wenig. Nehmen wir beispielsweise die UK Biobank mit über 600.000 Datensätzen, was schon ein immens großes Patientenkollektiv ist. Dennoch kann es sein, dass die statistische Power nicht ausreicht, um für kleine distinkte Subgruppen valide Antworten zu finden. Genau hier benötigt man eine oder mehrere klinische Studien, die auf genau diese eine Subgruppe zugeschnitten und gepowert ist bzw. sind. Nur dieses kombinierte Vorgehen wird beide Forschungsfelder voranbringen.
Nun kann der G-BA ergänzende Studien mit versorgungsnahen Daten fordern und tut es teilweise auch.
Das ist auch gut so. Noch besser wäre es allerdings, wenn der G-BA beide Verfahren für sich genommen beurteilen würde. Klinische Studien und Versorgungsforschungsstudien mit versorgungsnahen Daten haben unterschiedliche Qualitätsstandards, die man kennen muss, um Erkenntnisse miteinander sinnvoll vergleichen zu können.
Ein Papier des IQWiG legt für den Umgang mit registernahen Daten eine sehr hohe Latte auf. Die Frage lautet doch: Wie gehen wir damit um? Können wir dann mit dieser Messlatte Erkenntnisse erzielen, die wiederum die Grundlage für hochwertige klinische Studien sind, um gemeinsam die Versorgungsrealität zu verändern? In diesem Falle sind die genannten hohen Qualitätsstandards für registernahe Daten gerechtfertigt.
Noch ist das schwierig, aber es gibt eine Initiative des BMBF, die ein bundesweites Register-Netzwerk ins Leben rufen will, auf dessen Basis man versorgungsnahe Datensätze vergleichbar und für eine gemeinsame Nutzung vorbereiten möchte.
Ist dieser Ansatz – wie auch die Telematikinfrastruktur – nicht typisch deutsch: Man will alles super perfekt haben, bevor man startet?
Ein wenig schon. Ich schätze jedoch große Datensätze sehr, auch wenn diese nicht perfekt sind. Große Datensätze erlauben hypothesengetriebene, aber auch hypothesenfreie Ansätze zum Beispiel mit Maschine-learning-Verfahren zu verfolgen, die zu neuen und manchmal unerwarteten Ergebnissen führen, die optimalerweise eine Sprunginnovation für ein Feld bedeuten.
Hier würde Prof. Antes sicher „The deluge of spurious correlations in big data“ zitieren (siehe MVF 05/18).
Man muss eben immer wissen, was man tut und vor allem muss man die Limitationen kennen. Und ganz besonders kritisch muss man bei der Frage sein: Wie interpretiere ich das, was ich zu erkennen glaube? Darüber hinaus müssen solche, aber auch allgemeine innovative Erkenntnisse in einer unabhängigen Kohorte repliziert werden. Das sollte Standard für jede Arbeitsgruppe sein und nicht nur als frommer Wunsch am Ende eines veröffentlichten Papers zu finden sein.
Die Realität zeigt doch: Die Erkenntnisse auch aus Publikationen klinischer Studien werden viel zu selten zeitnah oder gar nicht repliziert.
Das ist leider so. Meine persönliche Forderung lautet daher, dass jeder Forscher, der Drittmittel bekommt und mit einer gut gemachten Studie ein publikationswertes Ergebnis – auch wenn es ein negatives ist – erarbeitet, muss ohne großen Beantragungsaufwand Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen, um diesen Befund replizieren zu können.
Weil dieser unreplizierte Befund in die Literatur eingeht, genauso wie jeder replizierte?
Genau. Wenn man Pech hat, landet der unreplizierte Befund mit einem – nehmen wir einmal an – großen Effekt in einer Metaanalyse, der diese verzerren wird. Wenn die Macher von Metaanalysen nicht genau und sehr kritisch darauf achten, führt das zu Fehlern. Diese können für Patient:innen höchst gefährlich sein, weil falsche Schlüsse aus Metaanalysen in Leitlinien einfließen können, die wiederum zu therapeutischen Empfehlungen führen, die auf der Basis der zugrundeliegende Datensätze nicht gerechtfertigt sind. Insofern ist ein kritischer Umgang mit unreplizierten Befunden wichtig und vor allem all jenen anzuraten, die sich mit Metaanalysen und Leitlinien beschäftigen.
Gilt nicht gleiches für Ergebnisse der Versorgungsforschung?
Sicherlich. Wenn sich in einer Versorgungsforschungsstudie ein interessanter Befund in einer gegebenen Population ergeben hat, stellen sich zwei Fragen: Sind die Ergebnisse generalisierbar? Und: Sind sie replizierbar?
Nun werden die Ergebnisse von Versorgungsforschungsstudien – ähnlich wie die aus klinischen Studien – so gut wie nie repliziert.
Wir müssen uns als klinische Forscher, aber auch als Versorgungsforscher mit dieser berechtigten Forderung auseinandersetzen. Auch Befunde, die z. B. auf der Basis der UK Biobank gewonnen wurden, müssen in einer unabhängigen Stichprobe repliziert werden. Ich denke, dass es eine große Bereitschaft unter Forschern gibt, die Zugang zu einer großen Kohorte haben, diese für eine Replikationsstudie zur Verfügung zu stellen.
In Ihrem einleitenden Begrüßungstext verwenden Sie unter anderem den wunderbaren Begriff „Back Translation“. Der Begriff meint doch im klassischen Sinne die Zurückspiegelung von Befunden vom Tier auf den Menschen und umgekehrt.
So ist es. Besonders wichtig finde ich es, dass man nicht nur Erkenntnisse aus dem Tiermodell in den Menschen und dann Patienten „translatiert“, sondern auch am Menschen bzw. Patienten gewonnene Erkenntnisse in das Zell- oder Tiermodell „zurück translatiert“.
Gehen wir etwas näher auf das Programm des 21. DKVF ein. Im ersten Track – von insgesamt dreien – soll am Beispiel ausgewählter Disziplinen diskutiert werden, wie mit versorgungsnahen Daten und speziell auch Registern Wissen für die Versorgung generiert werden kann. Braucht es – angesichts des eben Ausgeführten – einen neuen Aufbruch `a la „Versorgungsforschung meets Medizin“ und umgekehrt?
Der erste Track soll eine Art Ortsbestimmung werden, in der gezeigt wird, wie beispielsweise in der Onkologie oder Psychiatrie Versorgungsforschung helfen kann, die Versorgung zu verbessern. Im zweiten Track soll dann selbstkritisch hinterfragt werden, was man hätte besser machen können, was gut und nicht so gut gelaufen ist. Im dritten Track besprechen wir dann innovative Studiendesigns um weitere (bahnbrechende) Erkenntnisse zu generieren.
Im Sinne eines neuen Aufbruchs?
Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Versorgungsforschung.
Wobei es schon mehrere gab, siehe Public-Health-Förderung, Innovationsfonds oder auch die Forderung von Prof. Pfaff nach mehr theoretischer Arbeit (siehe u.a. Interview ab Seite 14).
Sicher, es wurde aber in den letzten Jahrzehnten auch einiges erreicht, die Versorgungsforschung in Deutschland gut voranzubringen. Dabei wurde vieles richtig gemacht, sonst hätte sich diese Wissenschaftsrichtung nicht so gut etablieren können. Nun sollte man aber an die Zukunft denken und sich stufenweise weiterentwickeln.
Nun sind Sie ein Mediziner, der Versorgungsforschung seit Jahren mitdenkt und auch seit vielen Jahren im Netzwerk Versorgungsforschung aktiv ist. Nur gibt es viele Ihrer Kollegen, die das nicht tun und Versorgungsforscher – sagen wir mal – eher als fünftes Rad am Wagen begreifen und nicht erkennen, dass alleine die Versor-gungsforschung dabei helfen kann, die Versorgungsrealität besser zu verstehen.
Da gebe ich Ihnen vollauf recht. Doch war für viele meiner Kollegen die Innovationsfondsförderung der letzten Jahre ein ganz wichtiges politisches Signal, diese Art der Forschung systematisch auszubauen.
Das da heißt?
Dass die Politik Willens ist, versorgungsrelevante Forschung mit wirklich außergewöhnlichen Budgets zu finanzieren. Das zweite – wenn man so will – Erweckungssignal war die Förderung der Gesundheitszentren, von denen – darauf sind wir auch stolz – das LMU Klinikum München immerhin sechs hat und ganz aktuell sind zwei weitere dazugekommen. Beide Fördermaßnahmen verfolgen das Ziel, medizinische Forschung zu fördern, die beim Patienten ankommen soll. Auch wenn in der letzten Ausschreibung die Versorgungsforschung nicht zum Zuge gekommen ist, gehöre ich zu denjenigen, die sagen: Versorgungsforschung ist essenziell und muss mitgedacht und gefördert werden, denn nur mit Hilfe dieser Wissenschaftsrichtung werden wir es schaffen, Innovation zu generieren und das politische Signal adäquat zu beantworten.
Wenn man in die Literatur blickt, die es zu Covid-19 gibt, sieht man, dass die ausländische wissenschaftliche Community viel mehr als die heimische zustande bringt. Woran liegt das?
Wir sind, was Publikationstätigkeit und -eifer angeht, hinter dem Ausland zurückgeblieben. Wir werden in den nächsten Jahren lernen müssen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und das, was in den letzten Jahren an Strukturen aufgebaut worden ist, besser als bisher zu nutzen. Das ist jedoch eine Frage, der sich nicht unbedingt nur die deutsche Versorgungsforschung, sondern vor allen Dingen die klinische Forschung allgemein selbstkritisch stellen muss. Die Diskrepanz ist offensichtlich: Wir sind gut gefördert, wir haben gute Leute, aber was hinten an guten Publikationen und Translation herauskommt, ist einfach zu wenig.
Was wäre die Lösung?
Wir müssen die inzwischen vorhandenen Strukturen besser nutzen und lernen, effiziente professions- und wissenschaftsübergreifende Forschungsnetze zu bilden, um schneller zu neuen Einsichten zu kommen, die in der Versorgungsrealität ankommen.
Was auch eine probate Standortförderungsstrategie wäre.
Ja sicher.
Ist es denn in Deutschland gewollt so zu forschen, im Zweifel gar auch noch pharmanah?
Das ist eine rein deutsche Sichtweise. Ich hatte das Glück, ein Jahr in England arbeiten zu können und habe ein akademisches System kennenlernen dürfen, das gänzlich vom medizinischen System losgekoppelt ist.
Während bei uns das alte Humboldt‘sche System gepflegt wird, in dem der Mediziner versorgt, lehrt und forscht ...
... und in allen drei Bereichen überfordert ist. Sprechen Sie mal mit einem in Lehre und Versorgung eingebundenen Arzt, wie viel Zeit und Muße ihm für Forschung bleibt! Allerdings hat die Humboldt‘sche Dreieinigkeit auch ihre Vorteile, weil ein Mediziner, der versorgt, lehrt und forscht, einen tiefen Einblick in Praxis wie Wissenschaft hat.
Wenn nicht der Faktor Zeit wäre.
Und die Überbelastung. Wenn man sich um 30 Dinge gleichzeitig kümmern muss, ist schon ein großer Nachteil gegenüber angelsächsischen Kollegen, die rein klinisch versorgend, lehrend oder eben wissenschaftlich arbeiten können. Da ist es doch kein großes Wunder, dass viele, auch noch so gut angelegte Studien auf der Strecke bleiben, weil beispielsweise die nötige Zeit und Zuwendung fehlt, die man alleine für die Rekrutierung von Partner:innen und vor allem von teilnehmenden Patient:innen braucht. Auch hier hat der Innovationsfonds neben den bestehenden Förderprogrammen des BMBF und der DFG etwas ganz Entscheidendes losgetreten: Weil es auf einmal viel mehr Geld gibt, werden Strukturen aufgebaut, die man braucht, um an eine adäquate Förderung zu kommen, um zum Beispiel ausreichend große klinische Studien durchführen und Register aufbauen zu können. So habe ich vor zehn Jahren, als ich an die LMU nach München gekommen bin, als erstes für das bestehende Studienzentrum eine personell stabilere Struktur schaffen können, mit Hilfe dessen wir die bei uns laufenden Studien mit ausreichend Qualität bearbeiten können.
Was ist eine der Hauptaufgaben?
Wir evaluieren beispielsweise bei jeder abgeschlossenen Studie, wie gut die Rekrutierungsrate war, wie lang dafür gebraucht worden ist und wie die Mittel eingesetzt wurden. Mit dem so erzeugten Wissen, können wir genau sagen, welche Arten von Studien wir durchführen und welche wir leider aufgrund des uns zur Verfügung stehenden Patientenklientels nicht bedienen können. Übrigens wird seit Mitte Juni diesen Jahres jede Patient:in, die unser Haus betritt, gefragt: „Haben Sie Lust, an Studien teilzunehmen, bitte geben Sie uns dafür einen Broad Consent.“ Und die meisten machen das auch. Wenn wir nun noch wie die Angelsachsen agieren und uns beispielsweise nur auf die Wissenschaft konzentrieren würden, könnten wir innerhalb kürzester Zeit viele gute Papers publizieren, die uns international viel weiter nach vorne bringen würden. Denn ausreichende Finanzierung ist nur ein Teil, wichtiger ist es, ein klares Mindset zu haben, zum Beispiel um „decisive clinical studies“ durchzuführen, die dann zu einer Veränderung der Leitlinien führen.
Das ist eine Frage der Kultur. Vielleicht braucht man nicht nur indikations- und versorgungsbezogene Forschungszentren, sondern wissenschaftliche Forschungszentren.
Eine solche Vernetzung gibt es für die Grundlagenwissenschaften durchaus und da sind wir in Deutschland international gar nicht so schlecht aufgestellt. Wenn man sich darüber hinaus beispielsweise die Publikationszahlen in der Psychiatrie – aus der ich komme – bei der Indikation „Depression“, „Suchterkrankungen“ und „Schizophrenie“ ansieht, steht Deutschland – je nach Thema – auf Platz 2 oder 3, wechselnd mit den USA, England oder Kanada. Und das bei den schmalen Förderbudgets, die wir in der Psychiatrie in Deutschland haben, während alleine die Amerikaner im Rahmen ihres National Institute of Mental Health über eine Strukturförderung in Milliardenhöhe alleine für den „Psych-Bereich“ verfügen.
Und bei uns?
Bewegen wir uns eher im zweistelligen Millionen Euro Bereich. Dafür ist unser Forschungsoutput gar nicht mal so schlecht, aber wir müssen mehr relevante und nachhaltige klinische Forschung im Sinne von „decisive clinical studies“ machen.
Demnach mehr entscheidungsrelevante Studien.
Genau. Was wir beispielsweise im Innovationsfonds und bei anderen Förderinstrumenten sehen, sind sicher alles berechtigte Themen und Fragestellungen. Doch, Hand auf‘s Herz: Da ist doch jede Menge „klein-klein“ dabei, während die richtig großen Fragen zu selten gestellt und beantwortet werden.
Was wäre Ihr Rat?
Eine Top-down-Strategie: Man muss definieren, welche, sagen wir, fünf wichtigsten Fragen – im Sinne von Gamechangern – in den nächsten fünf Jahren beantwortet werden müssen, denn so lange dauert es nun einmal, eine vernünftige Studie zu planen, durchzuführen und zu publizieren. Dafür muss der G-BA, das BMBF, die DFG, gern auch das BMG genügend Fördergeld bereitstellen und vielleicht auch bereit sein, auf zuviel „klein-klein“ zu verzichten und nach Pilotstudien den Fokus auf konfirmatorische Studien zu setzen.
Sie erwähnen häufig den Innovationsfonds, in den viele Hoffnungen gesetzt werden. Jedoch scheint es, das je mehr Zeit ins Land geht, die Translationen in die Realversorgung – bis auf einige wenige Ausnahmen – wohl nicht ganz so funktionieren wird, weil der Sprung von der Projektförderung in die Realversorgung von Beginn an zwar gefordert, aber überhaupt nicht mitgedacht wurde.
Das wundert mich nun nicht. Es gibt ein schönes Paper einer US-amerikanischen Foundation, von der ich selbst seit vielen Jahren gefördert worden bin und aktuell auch gefördert werde. Das besagt, dass von allen durch die Stiftung geförderten klinischen Studien, nur ein kleiner Teil in Publikationen die Outcomevariablen nennen, die im ursprünglichen Projektvorschlag verbindlich aufgelistet wurden. Das ist eigentlich ein absolutes No-Go. Die zweite Erkenntnis: Die meisten Studien schaffen es nicht, fertig zu rekrutieren. Und die dritte: Bei vielen gibt es gar keine Publikation.
Was lernen wir daraus?
Wir bei der LMU-Psychiatrie haben aufgrund dieses Papers für jede der bei uns durchgeführten Studien einen Qualitätsstandard eingeführt, der auf folgenden Kriterien beruht. Die Erste fordert eine klare Study-Description, wobei erwartet wird, dass sich die dort festgeschriebenen Outcomevariablen eins zu eins sich in dem publizierten Paper(s) wiederfinden. Auch und selbstredend bei negativen Ergebnissen. Die zweite Forderung ist, dass jede Studie ausreichend gepowert sein muss und demnach auch hinreichend lange laufen kann, so dass in der zur Verfügung stehenden Zeit und mit den einsetzbaren Ressourcen über 90 Prozent rekrutiert werden kann. Drittens muss die Statistik stimmen und viertens innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss der Studie müssen die Ergebnisse publiziert sein. Last but not least müssen alle relevant an der Studie Beteiligten, zu der auch die Rekrutierer gezählt werden, auf dem Paper genannt werden.
Chapeau.
Ergänzend halten wir alle vier Wochen eine Studienzentrumssitzung ab, in der wir alle laufenden Studien durchgehen, was gar nicht so wenige sind, weil wir immerhin so um die 40 Studien gleichzeitig laufen haben.
Ihre Translation auf den Innovationsfonds?
Genau diese Qualitätsstandards und -kontrolle rege ich für vom Innovationsfonds, aber auch von anderen Fördergebern finanzierte Studien an.
Wäre damit Schluss mit dem „Klein-Klein“, das Sie eben beschrieben haben.
Denke schon. Wer die Kriterien erfüllen muss, wird sich vorher genau überlegen, welche Requirements für eine erfolgreiche (Innovationsfonds)-studie nötig sind. Dazu gehört in allererster Linie die Frage nach der ausreichenden Power, die ursächlich mit dem Förderrahmen zusammenhängt. Es reicht nun einmal nicht, eine Studie – ob eine klinische oder eine aus der Versorgungsforschung – mit 400.000 Euro zu fördern. Da sage ich gleich: Das können Sie knicken, das wird nichts.
Das Learning lautet demnach: Lieber weniger, aber dafür größere Studien.
Ich würde sagen: weniger, aber dafür bessere! Der Innovationsfonds wäre ein exzellenter Rahmen für exzellente Studien, wenn die Politik und der G-BA gewillt wären, in die nächste Entwicklungsstufe zu gehen.
Das eine wären erstens Qualitätsvorgaben, das zweite eine Top-down-Strategie, die das definiert, was dann wirklich die Versorgungsrealität zum Nutzen der Patient:innen verändern kann. Und das dritte?
Meine Forderung ist klar: Alles, was erforscht wird, muss leitlinienrelevant sein! Jede gute Studie muss in der Lage sein, eine Empfehlung einer Leitlinie zu verändern, zu falsi- oder verifizieren reicht mir auch schon.
Diese Forderung kommt von einem klinischen Forscher und einem klinischen Mediziner. Manche Versorgungsforscher werden wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Vielleicht sollte sich die Versorgungsforschung lieber damit befassen, darüber nachdenken, ob ein solches Vorgehen nicht auch sinnvoll wäre. Das würde meiner Meinung nach diesem immer wichtiger gewordenen Wissenschaftsfeld gut tun.
Müsste jeder Fördergeber nicht selbst darauf achten, umso mehr einer, der die Gelder der Versicherten einsetzt, wie es der Innovationsfonds tut? Und ebenso vorgeben, welchen Qualitätsstandard Projektevaluationen haben müssen, damit sichergestellt wird, dass deren Ergebnisse projektübergreifend auswertbar sind?
Dazu müssten die Ergebnisse der beendeten Projekte nicht nur vergleichbar sein, sondern auch in einer modernen, für alle Forscher offen zugänglichen Datenbank vorliegen, die Metaanalysen erlauben würde.
Wer das will, muss jedoch jede Menge PDFs herunterladen, durchlesen und wird dann erkennen, dass es keine Struktur gibt.
Traurig, oder? So wird man keine grundlegenden Erkenntnisse schaffen können. Wie soll man so zum Beispiel die Frage beantworten, welche Funktionen innerhalb der verschiedenen Interventionen wie funktioniert oder auch nicht funktioniert haben.
Der „Monitor Versorgungsforschung“ propagiert seit fast zwei Jahren den Einsatz einer Graphdatenbank, die genau eine solche Herangehensweise erlauben würde. Meinen Sie, wir kommen mit dem Lösungsansatz durch?
Schauen Sie: Ich darf eine Klinik leiten, die rund 35.000 Patientenkontakte jährlich hat, und in die jedes Jahr etwa 3.000 neue Patient:innen stationär und tagesklinisch aufgenommen werden. All deren wunderbare Daten wurden in der LMU Klinik, die in der aktuellen Form 1904 in Betrieb ging, bisher für die Versicherungen und für den Keller produziert. Erst Mitte Juni dieses Jahres haben wir es geschafft, einen Broad Consent einzuführen, für den nicht nur die Einverständniserklärung der Ethikkommission, sondern auch des Landes- und Bundesdatenschutzbeauftragten nötig war, bevor wir unsere Patient:innen überhaupt fragen durften, ob sie an Studien teilnehmen wollen oder nicht. Ich bin seit 30 Jahren im Gesundheitsbereich tätig, jetzt zehn Jahre hier in München und habe es in der Zeit geschafft, so etwas ganz Einfaches wie eine Zustimmungssystematik einzuführen. Da wundern Sie sich, warum Sie das nicht in zwei Jahren schaffen?
In dieser Ausgabe werden Sie u. a. ein Doppelinterview mit den Professoren Pfaff und Sydow lesen, die über Theorien in der Versorgungsforschung sprechen. Eine davon, die beide hochhielten, war die Praktikentheorie, die ganz gut erklärt, warum das Gesundheitssystem derart innovationsresistent ist.
Es existiert aber auch eine gewisse Resilienz, weil das Gesundheitssystem alle Beteiligten immer gut mit ausreichend Geld ausgestattet hat. Man braucht darum immer Menschen, die bereit sind, etwas zu verändern, auch wenn sie vielleicht weniger verdienen als vorher.
Last but not least: Was erwartet mich als Besucher des 21. Versorgungsforschungskongresses, bei dem erstmals ein Kliniker als Kongresspräsident agiert?
Das eine ist die Antwort auf die Frage, die mich und ja auch Sie besonders interessiert: Woher kommt Innovation und wie wird entschieden, wie sie gemacht wird?
Wer kann das beantworten?
Ich habe dazu einen Vertreter von Moderna gebeten, der uns nicht nur erklären wird, wie eine neue Impfung relativ schnell entwickelt worden ist, sondern auch wie Pharma generell mit Innovation umgeht und wie die dazu nötigen Prozesse strukturiert sind. Das zweite Thema, das mich im Augenblick umtreibt, ist das der partizipativen Forschung. Also Forschung nicht nur im Verbund mit anderen Disziplinen oder mit anderen Professionen wie beispielsweise Neuropsycholog:innen, Soziolog:innen oder Verhaltenswissenschaftler:innen, sondern auch mit Betroffenen und Angehörigen. Nur, wenn wir professions- und wissenschaftsübergreifend denken und agieren und Betroffenen sowie Angehörigen integrieren, werden wir die Medizin und die Versorgungsforschung zum Nutzen der Patient:innen weiterentwickeln können. Und vielleicht auch die Versorgungsforschung wieder etwas näher an die Medizin heranbringen können, aus der sie ja eigentlich entstanden ist. <<
Zitationshinweis: Falkai, D., Stegmaier, P.: „Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Versorgungsforschung“ (05/22), S. 6-11. http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2418
Vita
Prof. Dr. Peter Falkai
ist seit 2012 Lehrstuhlinhaber der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der LMU München. Klinische sowie Forschungsschwerpunkte sind neuro-biologische Grundlagen psychotischer Störungen. Seine multidisziplinären Forschungsteams stützen sich dabei u.a. auf Techniken wie strukturelle Bildgebung bis hin zu translationalen klinischen Studien. Zahlreiche seiner laufenden Forschungsprojekte werden durch die DFG, das BMBF und die EU gefördert. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen und Fachbüchern ist Prof. Falkai zudem Autor der Schizophrenie Behandlungsleitlinien der DGPPN, deren Präsident er von 2011 bis 2021 war. Seit April 2021 ist Prof. Falkai Präsident der European Psychiatric Association (EPA) sowie Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, u. a. Kollegiat der DFG sowie Mitglied der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften.