Hochzuverlässigkeitstheorie
http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2424
>> Organisationsforscher:innen definieren Zuverlässigkeit meist als „die ungewöhnliche Fähigkeit, kollektive Ergebnisse mit einer bestimmten Minimalqualität kontinuierlich zu produzieren“ (Hannan/Freeman 1984, S. 153). Dabei kann das kollektive Ergebnis in der Praxis unterschiedlich ausgestaltet sein (Ramanujam 2018; Auschra et al. 2022): Typischerweise handelt es sich um das Erreichen von Sicherheit – sowohl in klassischen HROs wie Atomkraftwerken als auch im Gesundheitssektor. Weitere mögliche, zuverlässig zu erreichende Ziele sind u.a. in diesem Sektor Qualität, Patientenorientierung oder eine konstante Performanz im Generellen (evtl. sogar mit Blick auf wirtschaftliche Ziele).
Die Literatur geht übereinstimmend davon aus, dass eine bestimmte Organisationskultur und -gestaltung, die sich in den jeweiligen Praktiken einer HRO zeigt, das Erreichen einer hohen Zuverlässigkeit begünstigt. Dazu schlugen Weick und Kollegen (1999) Ende der 1990er Jahre aufgrund eines Literaturreviews über bestehende Einzelfallstudien von HROs fünf grundlegende Gestaltungsprinzipien vor. Weite Verbreitung, auch in der Praxis, fanden diese Prinzipien durch die Publikation des Buches „Managing the Unexpected: Assuring High Performance in an Age of Complexity“ (Weick/Sutcliffe 2001). Nachfolgend werden sie kurz erläutert (siehe auch Abb. 1).
1. Konzentration auf Fehler: Fehler werden gleichzeitig als Ausgangspunkt für größeren Schaden und die Möglichkeit zum Lernen zur Vermeidung von ebendiesem gesehen. HROs streben daher nach einem konstruktiven Umgang mit Fehlern, um Fehlerursachen langfristig abzustellen.
2. Abneigung gegen Vereinfachung: Kognitive Vereinfachungen wie bestimmte Annahmen oder Weltbilder können zu Vereinfachungen durch die Ignoranz von Informationen, die zur Vermeidung von Schäden dienen könnten, führen. HROs versuchen daher, solche Vereinfachungen, z. B. durch Redundanzen wie das Vier-Augen-Prinzip, Trainings und kognitiv diverse Teams mit einer vertrauensvollen Atmosphäre der Zusammenarbeit zu vermeiden.
3. Sensibilität für operative Abläufe: HROs streben nach einer „Situational Awareness“ ihrer Mitglieder, die jederzeit das große Ganze einer Handlung im Blick behält und bereit ist, beim Auftreten von Problemen sofort zu reagieren. So soll vermieden werden, dass sich kleine Fehler in den operativen Abläufen zu einer großen Katastrophe aufschaukeln. Diese Situational Awareness fordert freie kognitive Ressourcen und einen kontinuierlichen Informationsaustausch zwischen Organisationsmitgliedern.
4. Streben nach Resilienz: HROs benötigen die Fähigkeit, unerwartete Ereignisse zu antizipieren, sie im Moment ihres Auftretens erfolgreich zu managen und sich schnell von ihnen zu erholen. Beispiele hierfür sind Improvisation und Wissensnetzwerke, die in unerwarteten Situationen ad-hoc reagieren können.
5. Respekt vor Expertise: In HROs ist fachliche Expertise wichtiger als hierarchische Struktur. V.a. Entscheidungen in herausfordernden Situationen werden schnell von den jeweils bestqualifizierten Organisationsmitgliedern getroffen.
Laut den Vertreter:innen dieses Ansatzes führt das kontinuierliche Verfolgen der fünf Prinzipien in Kultur und Routinen zu einer erhöhten Achtsamkeit bzw. „Mindfulness“ der Organisation. Dieser Zustand beschreibt die Fähigkeit, unerwartete Ereignisse früh zu entdecken und zu managen, was zur gewünschten Zuverlässigkeit führt. Das Erreichen von Zuverlässigkeit ist damit kein einmaliges Ergebnis, sondern ein komplexer, dynamischer Prozess (Weick 1987; Sutcliffe et al. 2017). Somit geht die Hochzuverlässigkeitstheorie davon aus, dass hochkomplexe Organisationen das Auftreten von schwerwiegenden Fehlern durch kluges Management fast immer vermeiden können. Sie steht damit im Kontrast zur im selben Zeitraum entwickelten „Normal Accident Theory“ (Perrow 1984), nach der es in solchen Organisationen aufgrund von Komplexität und enger Kopplung im Laufe der Zeit unausweichlich zu schwerwiegenden Ereignissen kommt (Tamuz/Harrison 2006).
Die ursprüngliche HRO-Forschung beschäftigte sich mit Organisationen, die eine komplexe Technologie (z. B. Atomkraft) mit einem enormen Schadenspotenzial für die breitere Öffentlichkeit betreiben. Gleichzeitig wurden diese Organisationen durch die öffentliche Hand betrieben, was dazu beigetragen haben mag, den hohen Ressourcenbedarf für das Erreichen einer solchen Zuverlässigkeit zu decken. Dennoch stellte sich bald die Frage, inwiefern auch Hochzuverlässigkeit in anderen Kontexten wie z.B. der Gesundheitsversorgung erreicht werden könnte.
Sind Gesundheitsorganisationen HROs?
Die Publikation des US-amerikanisches Berichts „To Err is Human“ (Kohn et al. 2000), der die hohe Zahl vermeidbarer Fehler in Krankenhäusern anprangerte, führte ab Mitte der 2000er Jahre zu einem starken Aufgriff der Hochzuverlässigkeitstheorie im medizinischen Bereich (Bourrier 2011). Eine Vielzahl von Interventionen, v.a. in Krankenhäusern, zielte darauf ab, eine Kultur der Hochzuverlässigkeit zu erschaffen oder bestimmte Prozesse mit Blick auf Ziele wie die Patientensicherheit reliabler zu gestalten (Tolk et al. 2015; Auschra et al. 2022).
Allerdings ist fraglich, inwiefern Gesundheitsorganisationen tatsächlich HROs sind. Zwar kam es hier zu einer Erweiterung des HRO-Begriffs, der so auch hochkomplexe, risikobehaftete Arbeitsumgebungen (statt hochkomplexer, eng gekoppelter Technologien) einbeziehen kann (Sutcliffe et al. 2017). Auf der anderen Seite sind HROs extrem ressourcen- und kostenintensiv. So machen z. B. Weick und Kollegen (1999) deutlich, dass die Sensibilität für operative Abläufe zur Vermeidung von Schäden gefährdet ist, wenn die Organisationsmitglieder unter Überlastung leiden. Effektive HROs decken daher solche Überlastungen des Personals kontinuierlich auf und beheben sie sofort. Angesichts von konstanter Personalknappheit im Gesundheitswesen ist fraglich, inwiefern hier genug Ressourcen für die Schaffung von Mindfulness vorhanden sein können. Dasselbe gilt mit Blick auf die in vielen Gesundheitsorganisationen vorzufindenden stark ausgeprägten hierarchischen Strukturen, die ebenfalls einer Kultur der Hochzuverlässigkeit entgegenstehen können. Gleichzeitig sprechen immer noch in hoher Zahl vorhandene, vermeidbare unerwünschte Ereignisse in der Gesundheitsversorgung ihre eigene Sprache. Und schon die frühen HRO-Forscher:innen hielten fest: Vor allem in Branchen mit starker staatlicher Regulation hin zu einer Sicherheitskultur und einem großen öffentlichen Druck zur Vermeidung von Fehlern sind HROs vorzufinden – Bedingungen, die zumindest mit Blick auf die deutsche Gesundheitsversorgung in Frage gestellt werden können.
Allerdings ist zu bedenken, dass bestimmte Bereiche einer Gesundheitsorgani-sation eine höhere Zuverlässigkeit erreichen
können als andere. So ist etwa die Anästhesiologie ein Bereich, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Aufbau einer Sicherheitskultur auch mit Rückgriff auf die Erfahrungen anderer HROs beschäftigt hat – was u. a. zu sehr geringen anästhesieassoziierten Mortalitäten geführt hat. Außerdem gilt: Jede Gesundheitsorganisation ist mit Blick auf Kultur und interne Prozesse individuell zu betrachten. Während einzelne Krankenhäuser in bestimmten Bereichen eine hohe Zuverlässigkeit erreichen, gilt dies nicht automatisch für andere Krankenhäuser – es kommt auf die jeweilige organisatorische Ausgestaltung an (Vincent et al. 2010).
Verwendung und Nutzen für die Versorgungsforschung
Die Hochzuverlässigkeitstheorie ist eine Prozesstheorie, die das kontinuierliche Erreichen von bestimmten organisationalen Zielen wie Patientensicherheit oder Behandlungsqualität erklären möchte. Aufgrund der Erwünschtheit solcher Ziele in der Gesundheitsversorgung wird die Theorie regelmäßig zur Gestaltung von konkreten Interventionen herangezogen, die sich entweder mehr oder weniger explizit auf einzelne Prozesse oder einen Kulturwandel der ganzen Organisation (z. B. Chassin/Loeb 2013) beziehen. Das häufigste reliabel zu erreichende Ziel ist dabei – wenig überraschend – ein oder mehrere Aspekte von Patientensicherheit.
Gerade mit Blick auf die kontinuierliche Entwicklung von Interventionen zur Erhöhung der Zuverlässigkeit auch in anderen Branchen (z. B. Crew Resource-Management in der Luftfahrt) bieten sich hier
für Gesundheitsorganisationen und Versorgungsforscher:innen vielfältige Ansatzpunkte zur Gestaltung von Interventionen (z. B. Pronovost et al. 2006; Tolk et al. 2015). Auffällig ist, dass die meisten Studien über Interventionen im stationären Sektor berichten. Allerdings gibt es auch in Deutschland in den letzten Jahren Vorstöße, Interventionen wie CIRS, die das Prinzip des konstruktiven Umgangs mit Fehlern widerspiegeln, auch in ambulanten Praxen zu implementieren.
Herausforderungen bei der Anwendung der Hochzuverlässigkeitstheorie
Eine große Herausforderung bei der Verwandlung von Gesundheits- in Hochzuverlässigkeitsorganisationen ist der kontinuierliche Ressourcenbedarf eines solches Vorhabens. Daher sind entsprechende politische Rahmenbedingungen gefragt, die beispielsweise die Bereitstellung des notwendigen und qualifizierten Personals in allen Bereichen der Organisation sicherstellen. Dabei ist das zuverlässige Erreichen von Zielen wie Patientensicherheit nicht nur ethisch geboten, sondern auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wünschenswert, da die Verhinderung von Behandlungsfehlern Folgekosten minimiert.
Offensichtlich ist, dass der Zustand der HRO als ein erwünschtes Ideal verstanden werden kann. Daher ist es naheliegend, das Gesundheits- und andere Organisationen (z. B. aus der Managementberatung) dazu neigen können, den HRO-Begriff als ein „Marketing Label“ (Bourrier 2011, S. 12) zu verwenden. Dabei gilt es jedoch stets kritisch zu hinterfragen, ob eine bestimmte Organisation tatsächlich in den gewünschten Bereichen eine hohe Zuverlässigkeit auf nachhaltige Weise erreicht hat und somit Label und Inhalt übereinstimmen.
In diesem Zusammenhang werden vorhandene Messproblematiken deutlich: Hat ein bestimmter Bereich einer Gesundheitsorganisation bereits einen gewissen Zustand der Zuverlässigkeit erreicht, ist das Auftreten von Fehlern und unerwünschten Ereignissen eher selten oder sogar extrem selten zu beobachten, was sowohl qualitative wie auch quantitative Forschungsansätze zur Evaluierung von Interventionen vor Herausforderungen stellt. Gleichzeitig ergibt sich besonders auch durch den umfassenden Gestaltungsanspruch des Hochzuverlässigkeitsansatzes wie auch bei anderen Interventionen die Frage, ob genau erfasst werden kann, wie eine bestimmte Maßnahme im Zusammenspiel mit anderen organisationalen Veränderungen ein gewünschtes Ergebnis beeinflusst.
Und nicht zuletzt ist weiterhin offen, inwiefern die Implementation einzelner HRO-Prinzipien (und wenn ja, welcher), ihr Zusammenspiel oder weitere Einzelmaßnahmen dem Ziel einer hohen Zuverlässigkeit in einem bestimmten Bereich am ehesten zuträglich sind. Nichtsdestotrotz bietet die Hochzuverlässigkeitstheorie – neben anderen Theorien zur Generierung von Sicherheitskulturen – vielfältige Potentiale zur Verbesserung von Versorgungsprozessen in Gesundheitsorganisationen und -systemen. <<
Zitationshinweis: Auschra, C.: „Hochzuverlässigkeitstheorie“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/22), S. 42-44. http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2424
Zitat
„Eine hohe Zuverlässigkeit von Organisationen der Gesundheitsversorgung beim Erreichen von Zielen wie Patientensicherheit und Behandlungsqualität wäre extrem wünschenswert. Allerdings benötigt eine Hochzuverlässigkeitsorganisation nicht nur eine besondere Kultur, die etwa einen produktiven Umgang mit Fehlern zur Vermeidung weiterer Fehler ermöglicht. Gleichzeitig erfordert Hochzuverlässigkeit Ressourcen, was zu Spannungsverhältnissen mit Personalknappheiten und Effizienzgedanken der Gesundheitsversorgung führen kann. Heutige Gesundheitsorganisationen sind daher in vielen Bereichen keine Hochzuverlässigkeitsorganisationen, bestenfalls nach Reliabilität strebende Organisationen.“
Dr. Carolin Auschra, Freie Universität Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Management-Department