OA MVF 03/11: „Stellen Sie sich Stuttgart 21 im Gesundheitswesen vor ...“
>> Während der Begrüßung der Teilnehmer formulierte der Moderator Prof. Dr. Dr. Dr. Dieter Adam die Kernfrage des Kongresses folgendermaßen: „Wie kommen wir im komplizierten System des deutschen Gesundheitswesens zu vernünftigen Ergebnissen?“ Ergebnissen, die einerseits den Patienten nützten, ohne die Existenz der Leistungserbringer zu gefährden und die andererseits tragfähig und wirksam seien. Daraufhin bat er den DGbV-Präsidenten Dr. John N. Weatherly auf das Podium. Dieser hob die Bedeutung des Gesundheitswesens für die Bundesrepublik hervor. Immerhin handele es sich um den mit Abstand größten Arbeitgeber, dessen Umsatz um das Vierfache den der Automobilindustrie übersteige. Das Gesundheitswesen nehme sowohl im Hinblick auf die Volkswirtschaft als auch auf die Marktwirtschaft eine herausragende Stellung ein. Etwa jeder dritte arbeitende Bürger Deutschlands sei in der Gesundheit oder in den zuarbeitenden Gewerben beschäftigt, so Weatherly.
Jedoch wiesen die „noch vorhandenen Platzkapazitäten“ im Raum darauf hin, dass die Themen Bürgerorientierung und Versorgungsmanagement noch erheblich weiterer Zuwendungen in der Bundesrepublik bedürfen. Nicht zuletzt spreche dafür auch die Tatsache, dass im Regelfall die Bürgerakzeptanz und das konkrete Versorgungsmanagement zu mehr als 50 Prozent darüber entschieden, ob eine medizinisch eingeleitete Maßnahme erfolgreich ist oder nicht. Genau an dieser Stelle setze die Deutsche Gesellschaft für bürgerorientiertes Versorgungsmanagement an, sagte Weatherly und führte aus: „Wir versuchen mit einzelnen themenzentrierten Arbeitsgruppen, die überwiegend hochkarätig aus dem gesamten Spektrum des Gesundheitswesens aus allen 12 Sektionen besetzt sind, die Thematik aufzuarbeiten.“ Vor allem mit dem Lobbyismus habe die Gesellschaft in Deutschland sehr zu kämpfen, so Weatherly. Verschiedene Interessengruppen versuchten immer wieder, neu gefundene Lösungen zu beeinflussen oder zu verhindern. Das Hauptaugenmerk der DGbV liege auf der Bürgernähe und auf dem „Transfer der Themen“. Weatherly: „Diese fangen bei den Verfahrenstechniken an, gehen über die Sprache der Medizin, über Beipackzettel in der pharmazeutischen Industrie bis hin zu letztendlich ablaufenden Behandlungsprozessen.“ Ein Patient oder Bürger könne nur dann wirksam mitgestalten, wenn er das, was mit ihm gemacht wird, verstehe - so begründete der DGbV-Präsident das Hauptanliegen der DGbV. Sein Appell am Schluss der Einleitung lautete: „Es braucht mehr Mitstreiter für dieses Thema!“
Bislang hätten sich nur wenige Mutige damit beschäftigt. „Diese Pioniere sitzen heute hier“, konstatierte Weatherly und übergab das Wort an die erste Referentin - Hannelore Loskill, Patientenvertreterin im gemeinsamen Bundesausschuss und stellvertretende Bundesvorsitzende der BAG-Selbsthilfe. Titel ihres Vortrags lautete „Was sich Patientinnen und Patienten vom Versorgungsmanagement wünschen.“ Loskill stellte zunächst in Frage, „ob Patientinnen und Patienten, die selbständig und unabhängig sein sollen, tatsächlich auch noch ihr eigener Manager werden müssen?“ Bei vielen Diskussionen würde die Tatsache vernachlässigt, so Loskill, dass Patienten oft kranke Menschen sind, die nicht überfordert werden dürften. „Das System muss es doch hergeben, dass jemand, der krank ist und Unterstützung benötigt, auch unterstützt wird“, forderte die Expertin. „Damit er sich nicht selbst managen, und auch nicht um alles kämpfen muss, was ihm eigentlich zusteht“, führte sie fort. Zurzeit würde der Patient aber nicht ausreichend begleitet und viel zu sehr seinen Problemen überlassen, sowohl im Hinblick auf juristische Fragen als auch auf konkrete Handlungen im Krankheitsfall, die er ohne Hilfe nicht ausführen kann, wie etwa ein Pflaster am Rücken auszuwechseln. Ihr Appell am Ende des Vortrags richtete sich an die DGbV: „Bitte versuchen Sie nach Möglichkeit die Patientenvertretung zu beteiligen, damit auch bei diesem Verband nicht wie bei vielen anderen an den Patienten vorbeigearbeitet wird.“ Zur Kostenfrage merkte Loskill noch an, dass es „an vielen Stellen in diesem Gesundheitswesen noch Effizienzreserven gibt“, die es zu nutzen gilt. Auf diese Forderung ging Weatherly gleich in seinem Vortrag ein und gab zu bedenken: „Wir haben in Deutschland deutlich zu viele Betten.“ Der Grundsatz „Ambulant vor Stationär“ werde nicht eingehalten und es finde zudem kein Controlling statt. Die Behandlung erfolge in Deutschland „oft nach bestem Wissen und Gewissen aber nicht evidenzbasiert“, sagte Weatherly. Sie werde nicht von „Best Practices“ abgeleitet. Es fehle an Behandlungspfaden, Therapie- und Medikamentenalgorithmen und Benchmarking. „Pay for result – Fehlanzeige!“, konstatierte der DGbV-Präsident.
Mehr Bürgernähe in der medizinischen Sprache
Zweites großes Problem sei die Non-Compliance, die in manchen Krankheitsfeldern bis zu 50 Prozent betrage, so Weatherly. Als einen wichtigen Faktor dafür thematisierte er den Mangel an „Bürgernähe in der Sprache der Medizin“. Der Bürger bleibe unwissend und erhalte keine diagnosebezogenen Schulungen. Doch genau solche Maßnahmen sollten in die Regelbehandlung aufgenommen und von den Krankenkassen finanziert werden, lautete seine Forderung. Als drittes Problem komme die Tatsache hinzu, dass das derzeitige Gesundheitssystem sowie das Versorgungsmanagement und die Versorgungsforschung, auf Patienten mit Migrationshintergrund nicht ausreichend eingestellt seien. Den derzeitigen Zustand im Gesundheitswesen fasste der Experte folgendermaßen zusammen: „Die Ökonomie steht weit über allem und drückt die Qualität nach unten.“ Fast alle Diskussionen mit Politik, Krankenkassen oder Verbänden drehten sich letztendlich um die Ökonomie. Dennoch machte Weatherly den Teilnehmern auch Mut für die Zukunft: „Ich persönlich glaube, und das glauben wir auch als Gesellschaft, dass in den letzten sieben Jahren sehr viele Möglichkeiten durch den Gesetzgeber geschaffen wurden.“ Diese gelte es nun auszuschöpfen und im Geiste des „Aufbruchs“ aktiv mitzugestalten. Vizepräsident der DGbV Ralf Pourie forderte außerdem mehr „Daten und Fakten aus der Versorgungsforschung“, ein Coachingsystem für Patienten und die Abkehr von der derzeitigen Ausrichtung des Systems, die er „Post-Crash-Interventionismus“ nannte. Ein Best-Practice-Beispiel in diesem Sinne präsentierte Sophia Schlette von Kaiser Permanente.
Aufschlussreich war darüber hinaus der Einblick in politische Aspekte eines bürgerorientierten Gesundheitswesens von Andrea Fischer, Bundesministerin a. D. und Beraterin im Gesundheitswesen. Sie erinnerte zunächst daran, dass die Einbeziehung der Patienten ein recht junges Anliegen sei, das in den letzten Jahren enorm an Fahrt gewonnen habe. „Vor zehn Jahren hat noch niemand über diese Frage in der Form gesprochen“, so Fischer. Inzwischen gebe es eine unabhängige Patientenberatung und auch in den Gremien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hätten Patientenvertreter mittlerweile Mitspracherecht. Darüber hinaus wolle die Bundesregierung die Stellung der Patienten im Gesundheitswesen weiter stärken. Das Grundlagenpapier des Patientenbeauftragten Wolfgang Zöller sehe vor, den Behandlungsvertrag in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) integrieren, so dass die Pflichten des Heilenden gegenüber den Patienten umfassend beschrieben und damit auch einklagbar werden. Die Gesundheitsexpertin begrüßte dieses Vorhaben, da durch die Aufnahme in das BGB eine Klarheit geschaffen werde sowie eine deutlich verstärkte Regelung der Dokumentationspflichten. Nach der Auflistung weiterer Punkte des Grundlagenpapiers (Verbesserung der Bedingungen für die Geltendmachung von Haftungsansprüchen; bessere Unterstützung für Patienten bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche; vereinheitlichte Schlichtungsverfahren; erweiterte Berufungsmöglichkeiten; Patienteninformation durch die Selbstverwaltungsgremien) gab sie jedoch zu bedenken, dass es noch nicht absehbar sei, wann aus dem Papier ein Gesetzentwurf wird - auch wenn die bisherige Reaktion im Bundestag und der Öffentlichkeit positiv ausgefallen sei.
Mitsprache oder Mitentscheidung?
Inhaltlich weise das Grundlagenpapier laut Fischer vor allem einen entscheidenden Schwachpunkt auf: Zwar ist von der Stärkung der Patientenbeteiligung die Rede (damit seien weitere Gremien außer dem G-BA gemeint, so Fischer), nicht aber von Patientenmitsprache. „Ich würde sagen, dass eine Kodifizierung ihrer Rechte, damit Patienten und Patientinnen sich besser im System zurechtfinden und behaupten können, ein wichtiger, aber kein hinreichender Schritt ist“, bemängelte die ehemalige Bundesministerin. „Bislang geht es offensichtlich nur darum, dass die grundlegenden Rechte von Patientinnen besser eingeklagt werden können, es geht aber nicht darum, dass sie stärkeren Einfluss auf die grundlegenden Entscheidungen nehmen können“, setzte sie fort. Dies habe Staatssekretär Stefan Kapferer jüngst deutlich gemacht und dabei das Argument vorgebracht, eine Öffnung der Gremien für Patienten würde viele weitere Begehrlichkeiten wecken. Die Expertin rief aber dazu auf, darüber nachzudenken, „ob der Anspruch von Patienten auf Mitsprache gleichzusetzen ist mit den Interessen von anderen Interessengruppen“.
Bei der Patienten-Mitentscheidung gehe es nicht darum, dass eine weitere Interessengruppe in Gremien berücksichtigt werden möchte, sondern darum, dass „ein schon zu lange bestehender Missstand endlich behoben wird, nämlich dass diejenigen, die bislang immer nur ein Objekt der Gesundheitsversorgung waren, endlich zu Subjekten werden. Es geht darum, dass Compliance und Adherence endlich auch auf der Entscheidungsebene ernst genommen werden. Denn nur, wo eine Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Handelns besteht, ist auch eine Voraussetzung für ein Mitmachen beim ernstlichen Handeln gegeben.“ Die Asymmetrie von Wissen und Unwissen im Medizinsektor bestehe zwar in der Behandlung (wo das Patientenwissen nicht ausreichen würde, um eine Entscheidung zu treffen), nicht aber bei Themen wie Erstattungsfähigkeit eines Medikaments, Einführung von DMPs oder Gültigkeit von Leitlinien. „Das alles sind Entscheidungen, die auf Grundlage von wissenschaftlichen Untersuchungen, von Erfahrungswerten, von Einschätzungen getroffen werden. Informationen, die jemand auch durch Lektüre, Diskussion und Erfahrung gewinnen kann“, stellte Fischer fest.
In dieser Hinsicht bedeute die geringere Qualifikation von Patientinnen in medizinischen Fragen kein unüberwindbares Hindernis. Vielmehr stelle ihre eigene Perspektive einen wertvollen Beitrag dar, dem eine tragende (aber nicht dominierende) Bedeutung für die gesamte Entscheidung zukommen soll. Der entscheidende Schritt auf diesem Weg müsse von der Politik ausgehen, sagte Fischer und forderte konkretes Handeln. Die Bundesregierung solle die bisherige Patientenvertretung auffordern, Vorschläge mit ihren Vorstellungen von der geeigneten Form der Beteiligung einzureichen und institutionelle Voraussetzungen zu definieren. Auch die anderen Akteure der Selbstverwaltung (Ärzte und Krankenkassen) sollten Stellungnahmen verfassen und ihre möglichen Vorbehalte einbringen, so Fischer und weiter: „Diese Vorklärung wäre meines Erachtens durchaus ausreichend, um ein Gesetz zu erstellen, mit dem die Voraussetzungen für eine Beteiligung der Patienten-Vertretung bei grundlegenden Entscheidungen im deutschen Gesundheitswesen geschaffen werden“.
Starke Stimme der Patienten - von Bedrohung zum Quantensprung?
Den Grund, weshalb die Politik eine solche Initiative noch nicht realisiert hat, vermutete Fischer auf der Seite der Akteure der Selbstverwaltung. Die Politik wolle es sich mit jenen nicht verderben, die sich durch eine wirkliche Patientenbeteiligung in ihrem Einfluss beschnitten sehen könnten, sagte sie. Ob diese Angst jedoch tatsächlich so groß sei, müsse vorerst hinterfragt und diskutiert werden. Genau wie die Frage, wer die Patientenseite vertreten soll. Fischers Vorschlag: Zum Beispiel könnten sich die vom Gesetzgeber anerkannten Patientenvertretungen zu einer großen Patientenvereinigung zusammenschließen, in der auch nichtkranke Mitglieder aufgenommen würden.
Aus dieser Vereinigung könnten laut Fischer Vertreter der Patientinnen benannt werden, die im G-BA oder anderen Gremien mitentscheiden. Eine solche übergreifende Patientenorganisation hätte eine starke Stimme in der Öffentlichkeit, sagte die Beraterin, und würde alle Gewichte in der öffentlichen Diskussion über Gesundheit verschieben. „Hier liegt vermutlich die wahre Ursache, warum bislang die Politik darauf verzichtet hat, die bestehenden Organisationen dazu aufzurufen, eine institutionelle Form für die Patientinnenvertretung zu entwickeln“, so ihre Erklärung. Diese Befürchtung sei jedoch unbegründet, habe die Erfahrung mit den bisher bestehenden Patientenorganisationen doch gezeigt, dass diese sehr verantwortungsbewusst ihre Entscheidungen treffen würden. Schließlich beteiligten sich auch in anderen Sparten repräsentative Organisationen an Diskussionen, ohne dass die parlamentarische Demokratie bedroht würde, gab Fischer zu bedenken. Ihre Forderung am Schluss des Vortrags richtete sich an die Politik: Sie möge ihren Willen deutlich machen, die Patientenbeteiligung zu einem unverzichtbaren und gewichtigen Bestandteil von Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen zu machen.
Die Beteiligung möge als Anregung und Beratung verstanden werden. So könnte etwa die Regierung ein Forum schaffen, in dem Bürger, Ärzte und Patienten über sinnvolle und notwendige Versorgungsformen diskutieren. Die Ergebnisse könnten in das Versorgungsgesetz einfließen, so der Vorschlag der Gesundheitsexpertin. Organisierte Beteiligungsprozesse seien für politische Entscheider nicht bedrohlich, sondern könnten vielmehr Politik in einem konstruktiven Prozess beraten. „Beratung durch Beteiligung - das wäre ein Gewinn für die Gesundheitspolitik“, lautete ihr Fazit. Einzige Voraussetzung dafür sei ein Bewusstsein der politisch Handelnden dafür, dass Bürger- und Patientenbeteiligung für die deutsche Gesundheitspolitik einen „lohnenswerten Quantensprung“ bedeute.
Compliance hängt von subjektiven Faktoren ab
Die Referentin Prof. Dr. Gisela Charlotte Fischer (ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrates zu Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) ging in ihrem Vortrag auf die Rolle der Versicherten bei der Gestaltung des Gesundheitssystems unter Berücksichtigung des demografischen Wandels ein. Nachdem die Medizinerin die Ausgangslage skizziert hatte, sprach sie sich dafür aus, die Eigenverantwortung von Bürgern und Versicherten zu stärken. Der Patient, so ihre Begründung, habe schließlich sowohl direkten als auch indirekten Einfluss auf das Gesundheitswesen. Vor allem das Patientenverhalten stelle den größten Faktor unter den Einflüssen auf das System dar, so die Expertin. Gerade bei älteren Patienten sei die Compliance tendenziell relativ niedrig. Insgesamt würden etwa 45 Prozent aller Behandlungsempfehlungen von Patienten nicht umgesetzt.
Interessanterweise - und damit berief sich Prof. Fischer auf aktuelle Studien - treffen Patienten ihre Entscheidungen nur zu einem geringen Teil auf Basis von objektiven Fakten und Informationen. Vielmehr übten unterschiedliche Lebenserfahrungen und -konzepte, Ängste, die Selbstwahrnehmung sowie so genannte „Health Beliefs“ einen großen Einfluss auf das Handeln der Patienten aus. Die Expertin hob hervor, dass die Verhältnismäßigkeit der Einflüsse berücksichtigt werden muss und dass der Patient eben nicht durch objektive Information oder Coaching alleine sein Verhalten zu ändern bereit ist. So zeigten etwa Studien, dass bei Patienten über 70 die subjektive Gesundheitseinschätzung ein stärkerer Prädikator für den weiteren Gesundheitsverlauf ist als objektive Daten. Der Trend gehe dabei immer mehr weg „von der Schicksalhaftigkeit der Erkrankungen hin zu einer vorhersehbaren Form von Schäden und Gesundheitsverläufen“, sagte die Expertin.
Ihre Schlussfolgerung aus den erwähnten Daten und Fakten klang ernüchternd: „Gesundheitliche Maßnahmen geraten an der Endstrecke ihrer Anwendung, nämlich im subjektiven Bewertungsfeld, in eine Grauzone ihrer Beurteilung und verlieren ihren normativen Charakter.“ Damit werde der objektive festgestellte Nutzen einer Maßnahme in einer Alltagsanwendung zu einem individuellen Wert, der erheblich von dem objektiven abweichen könne.
Gesundheit als persönliche Lebensleistung
Für das Handeln des Patienten zähle der subjektive Nutzen. Dies bedeute eine Verlagerung der letztendlichen Nutzenbewertung und Priorisierung auf den Patienten. „Krankheit ist auf individueller Ebene in großem Umfang bei der epidemiologischen Datenlage, die wir heute haben, vermeidbar“, sagte Prof. Fischer. Der Gesundheitsverlauf des Einzelnen werde zu einer gestaltbaren Lebenskomponente, so dass Gesundheit immer mehr den Charakter einer eigenständigen persönlichen Lebensleistung gewinne. Das setze wiederum Entscheidungen und Haltungen voraus, die vom Bürger zu leisten sind.
Fischers Anregung: „Warum also nicht die Rolle des Versicherten und Patienten erweitern?“ Das hieße, „mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich der gesundheitlichen Absicherung einräumen und deren Ausgestaltung in einem neuen erweiterten Spielraum entsprechend den individuellen Gegebenheiten flexibel von Patienten selbst bestimmen lassen“. Dabei werde das Krankheitsrisiko, wenn auch in der Ausgestaltung nur in einem „sehr vertretbar geringen Ausmaß“, so doch im Prinzip vermehrt auf den Bürger, den Versicherten und den Patienten selbst verlagert, schlussfolgerte die Wissenschaftlerin. Versicherte und Patienten übten gestaltende Einflüsse auf das System aus, indem sie nämlich mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit tragen würden, fügte sie hinzu.
Eine große Bereitschaft chronisch kranker Patienten, aktiv an der Behandlung mitzuwirken, sei durchaus vorhanden, sagte Fischer und berief sich damit auf die jüngste Janssen-Cilag-Studie. Nun komme es darauf an, die Autonomie des Einzelnen in einer neuer Form anzuerkennen und sie insbesondere durch Bildung und Erziehung zu fördern, lautete ihr Aufruf. Dafür sei ein Wandel des Blickwinkels im Gesundheitssystem von Nöten, „und zwar weg von der Ressource des Systems hin zur Ressource des Bürgers, Versicherten und Patienten.“ <<
Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: „Versorgungssituation von Patienten mit seltener Erkrankung“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 03/11, S. 25 ff.)