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OA MVF 02/11: 21,34 % Einsparpotenzial

05.10.2012 11:35
>> „21,34 % beträgt das Einsparpotenzial im deutschen Gesundheitswesen - was halten Sie davon?“ Zu dieser „Meldung“ - absolut frei erfunden und „realistisch gewürfelt“ - wurden etliche Fachexperten aus der Gesundheitsversorgung, aus Verbänden und Politik befragt: Immerhin zwölf haben geantwortet, indes wohlwissend, dass es sich um eine „Ente“ handelt: Denn weder gibt es ein Forschungsnetzwerk Gesundheitsökonomie, und schon gar nicht ein pseudogenaues Studienergebnis mit zwei Dezimalstellen.

Jedoch besteht über die Grundsatzfrage „ob“ zu möglichen Reserven im System weitgehend Konsens, wann immer man in Expertenkreisen über zielgerichtete Ressourcenallokation, Vorhaltekosten, rationale Diagnostik und Therapie, Fehlerkosten, Effizienzoptimierung, Brüche an den Schnittstellen usw. diskutiert. Mehr oder weniger offen wird von Fachexperten unseres Gesundheitssystems diese Größenordnung von rund 20 % Einsparpotenzial (vor einigen Jahren noch mehr) benannt, wenn man das gesamte Versorgungssystem einschliesslich des Gesundheitsverhaltens der Bevölkerung, einer rationalen, angemessenen Versorgungsstruktur, der Eliminierung nicht indizierter Leistungen bei gleichzeitig optimierten Zugangsmöglichkeiten für relevante Risikogruppen, der koordinierten und bezüglich Qualität und Sicherheit optimal gesteuerten, sektorübergreifenden Behandlung usw. betrachtet.
Zur Frage „wie hoch“ sind die Meinungen unterschiedlich: Sie reichen von 10 % bis deutlich mehr als 20 %. Bei GKV-Ausgaben in Höhe von ca. 170 Mrd. Euro (2009) entspräche dies 17 bis 34 Mrd. Euro, insgesamt (von ca. 300 Mrd. Euro) 30 bis 60 Mrd. Euro. Damit wird von Experten des Gesundheitssystems doch überwiegend ein bedeutsames, milliardenschweres Einsparpotenzial identifiziert, eine volkswirtschaftlich außerordentlich bedeutsame Größenordnung.
Nach Perioden der Leistungsausweitung mit dem gesundheitspolitischen Ziel einer qualitativ hochwertigen, umfassenden Gesundheitsversorgung der Bevölkerung wurden mit dem SVR-Gutachten Band III „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ Einspar- bzw. Verbesserungspotenziale offen thematisiert und anhand ausgewählter, überwiegend chronischer Erkrankungen dargestellt (Sachverständigenrat 2000/2001). Bereits die Bände I und II hatten die Notwendigkeit von mehr Ziel-, Patienten-, Qualitäts- und Präventionsorientierung betont - Schlüsselbegriffe, die sich bis heute durch die SVR-Gutachten ziehen (z.B. Sachverständigenrat 2007).
Andererseits hat natürlich die gesundheitspolitische Intention, eine höhere Versorgungseffizienz zu fordern und den Paradigmenwechsel für eine neuen medizinische und ökonomische Orientierung zu schaffen, zu wirtschaftlichem Druck im Gesundheitssystem geführt. Die gesetzlich begrenzte Ausgabenseite mit „gedeckeltem“ Budget der einzelnen Leistungserbringer sowie der Sektoren insgesamt, verbunden mit Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, sinkendem Beitragsaufkommen und Reform der Vergütungssysteme (EBM, DRG) einerseits bei durch demographische Veränderung und medizinischen Fortschritt steigenden Kosten andererseits führte zu der Diskussion über Leistungseinschränkung und Priorisierung (Prof. Dr. J.-D. Hoppe auf dem 112. Deutschen Ärztetag in Mainz 2009, Rabbata 2009).
Die Notwendigkeit eines gesellschaftspolitischen Diskurses über Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung wird auch von Nagel et al. betont und mit der Forderung nach rationalen Entscheidungen differenziert aufgearbeitet. Allerdings wird eine Ressourcenknappheit per se unterstellt - und Reserven im System lediglich als „Problem der Verschwendung“ genannt (Nagel 2010).
Wehling wird in seiner umfangreichen Analyse deutlicher: mit 20 bis 25 % beziffert er das Einsparpotenzial, wenn nicht indizierte Eingriffe, unnötige Arzneimittel, Kuren und Verwaltungskosten entfielen (Wehling 2009). Auch seine auf internationalen Vergleichen basierenden Befunde zur möglichen, stillschweigenden Rationierung einerseits und Verschwendung der erheblichen Ressourcen andererseits könnten mit Über-, Unter- und Fehlversorgung beschrieben werden.
Wenn also immer noch Schlagworte wie „Rosinenpickerei“, „blutige Entlassung“, „Fließbandmedizin“, „Hamsterrad“ kursieren, dann weisen diese auf bestimmte Reaktionsmechanismen auf den wirtschaftlichen Druck hin - aber sind diese nötig (Sens et al. 2009)? Wenn beispielsweise Krankenhäuser unter dem verhandelten Budget auch erhebliche Kostensteigerungen kompensieren müssen - ist das richtig? Wenn finanzielle Anreizsysteme und forensische Aspekte Art und Umfang der Patientenversorgung mit bestimmen - ist das angemessen? Wenn auf zunehmende Forderungen nach effizienter Leistungserbringung nicht mit durchgängiger Prozessorientierung an der gesamten Versorgungskette entlang reagiert wird - ist das adäquat? Wie können Qualität und Sicherheit für die Patienten mit Arbeitsfreude für die Beschäftigten und wirtschaftlichem Erfolg für die Organisation verknüpft werden?
Wenn nach Meinung von Fachexperten ein Einsparpotenzial im deutschen Gesundheitssystem in der Größenordnung von bis zu 20 % vermutet wird, handelt es sich um eine gesundheitspolitisch, wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch bedeutsame Größenordnung. Hier besteht die ethisch-moralische Verpflichtung, dieses auch offen zu benennen. Auf der Makroebene der den Rahmen setzenden Gesundheitspolitik, der Mesoebene der Verbände und der Mikroebene der Gesundheitseinrichtungen müssen zukunftsorientierte, intelligente Lösungen zur Gesundheitsversorgung entwickelt und mit zielorientierten Steuerungsmechanismen hinterlegt werden. Neue Modelle einer „selektiven Patientenorientierung“ (Das Richtige zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Patienten richtig tun!) müssen das Gießkannenprinzip ersetzen und im Sinne einer krankheitsadäquaten, personalisierten Medizin ausgestaltet werden. <<

von:

Dr. phil. Brigitte Sens

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Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Sens, B.: "21,34 % Einsparpotenzial" (MVF) 02/11, S. 18 ff.)

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Ausgabe 02 / 2011

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