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OA MVF 01/11: Der „Milliarden-Nischenmarkt“ mit Sonderstatus: Orphan drugs

05.10.2012 12:20
Orphan Drugs sind Arzneimittel, die zur medikamentösen Therapie von seltenen Erkrankungen eingesetzt werden. Sie sind durch das AMNOG erneut in den Blickpunkt gesundheitspolitischer Debatten gerutscht, da für sie eine Ausnahmeregelung im Rahmen der frühen Nutzenbewertung (§ 35a SGB V) gilt. So muss erst dann ein (Zusatz-)Nutzennachweis erbracht werden, wenn der GKV-Umsatz eines Orphan Drug in einem Jahr über 50 Millionen Euro beträgt. Doch wie häufig wird diese Umsatzgrenze überhaupt überschritten? Alle Orphan Drugs zusammen erzielten nach Daten von INSIGHT Health einen Jahresumsatz von knapp einer Milliarde Euro.

>> Orphan Diseases sind Krankheiten, die nur sehr selten in der Bevölkerung vorkommen. Dies ist in Europa u.a. dadurch definiert, dass höchstens 5 von 10.000 Menschen daran leiden dürfen. Es gibt laut Bundesministerium für Bildung und Forschung über 7.000 solcher seltenen Erkrankungen. Die Therapie dieser Erkrankungen erfolgt u.a. mit Arzneimitteln, die als Orphan Drugs oder Orphan Medicinal Products (d. h. als „Waisenkinder“ unter den Arzneimitteln) bezeichnet werden.
Diese Arzneimittel zur medikamentösen Therapie von seltenen Leiden sind wegen des kleinen Marktes und ihres daher verhältnismäßig geringen Umsatzes bei gleichzeitig hohen Entwicklungskosten für die pharmazeutische Industrie häufig von geringerem Interesse. Der Gesetzgeber versucht, dem mit regulatorischen Hebeln entgegenzuwirken. So hat die EU im Januar 2000 die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in Kraft gesetzt, welche die Förderung und Entwicklung derartiger Arzneimittel zum Ziel hat. Für 2011 wird erwartet, dass zu den bestehenden 61 zugelassenen Orphan Drugs zehn weitere hinzukommen (bei insgesamt 30 erwarteten Einführungen neuer Wirkstoffe im Jahr 2011).
Interessant für Nicht-Insider ist, dass neben den eher unbekannten Arzneimitteln auch vertraute Wirkstoffnamen auftauchen, wie Ibuprofen; dieser Wirkstoff allerdings unter dem eher unbekannten Produktnamen „Pedea“ zur Behandlung von Ductus arteriosus bei Frühgeborenen, einem angeborenen Herzfehler.
Orphan Drugs mit Sonderstatus
Auch in dem am 01.01.2011 in Kraft getretenen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) werden Orphan Drugs gesondert behandelt. So gilt bei ihnen (im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln) der medizinische Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt, da - so die Begründung zu der Ergänzung in § 35a SGB V - „regelmäßig davon auszugehen [sei], dass es für die Behandlung dieser Erkrankung keine therapeutisch gleichwertige Alternative [gäbe]“. Erst wenn mit einem Orphan Drug ein Umsatz nach Apothekenverkaufspreisen (AVP) von mehr als 50 Millionen Euro in den letzten 12 Kalendermonaten erreicht wird, ist auch für dieses Arzneimittel der Zusatznutzen nachzuweisen.
In den letzten Wochen wurde viel über Inhalte und Sinn dieser Ausnahmeregelung, die erst in der Schlussfassung des AMNOG aufgenommen wurde (siehe hierzu Textbox auf S. 13), diskutiert: Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Hess hält die „generelle gesetzliche Unterstellung eines Solitärstatus mit Zusatznutzen“ für Orphan Drugs für unbefriedigend, da es bereits jetzt seltene Leiden gebe, für die mehrere Orphan Drugs zugelassen seien. Hierbei müsse „zum Schutz der Patienten die Möglichkeit einer vergleichenden Nutzenbewertung durch den G-BA mit entsprechenden Schlussfolgerungen für die Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV möglich bleiben“ (G-BA-Pressemitteilung vom 27.10.2010).
Windeler et al. führen in ihrem Beitrag „Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz: Zu guter Letzt ist alles selten“ (Dtsch Arztebl 2010; 107(42): A-2032) das Argument an, dass der Sonderstatus von Orphan Drugs von der Pharmaindustrie bereits heute gezielt ausgenutzt werde. So würden etwa relativ häufige Krankheiten, wie Krebserkrankungen, in kleine Untergruppen zerlegt, um dann ‚scheibchenweise‘ Orphan-Drug-Status beanspruchen zu können. Nach Zulassungserteilung werde dann in einem zweiten Schritt (ohne Erweiterung der Zulassung) eine schleichende Indikationsausweitung vorangetrieben, die dann zu einem „off-label-use“ führe.
Diese Strategien würden durch einen Verzicht auf eine frühe Nutzenbewertung für Orphan Drugs noch gefördert. IQWiG-Chef Windeler sieht aber in der Aufnahme einer Umsatzgrenze in das Gesetz zumindest einen „Schutz, um finanziellen Missbrauch zu begrenzen“ (vgl. Handelsblatt-Interview mit IQWiG-Chef Jürgen Windeler vom 11.11.2010). Für BPI-Chef Wegener sei diese Umsatzgrenzenregelung hingegen nicht nachvollziehbar, da der „Zusatznutzen nicht vom Umsatz eines Arzneimittels ab[hänge]“ (BPI-Pressemitteilung vom 11.11.2010).
„Arzneimittel-Waisenkinder“ mit mehr als 50 Mio. Euro Umsatz?
Auch die Höhe der Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro, ab der (Zusatz-)Nutzennachweise erfolgen müssen, wird sehr unterschiedlich bewertet: Die einen bezeichnen sie als so hoch, dass praktisch kein Orphan Drug unter diese Regelung falle. Die anderen zweifeln dies angesichts der teilweise sehr hohen Therapiekosten der seltenen Erkrankungen an.
INSIGHT Health hat hierzu - u. a. auf Basis einer Vollerfassung nahezu aller abgerechneten ambulanten GKV-Rezepte - eine Sonderanalyse durchgeführt. Danach ergibt sich für die bestehenden Orphan Drugs ein sehr heterogenes Bild:
1 Mrd. Euro Umsatz mit Orphan Drugs
Die 61 Orphan Drugs hatten in den letzten zwölf Monaten zusammen einen Umsatz von knapp einer Milliarde Euro im ambulanten GKV-Markt. Während einige Präparate im ambulanten Bereich gar nicht oder nur vereinzelt verordnet wurden, erzielten fünf Medikamente einen Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro - der Umsatzgrenze, ab der zukünftig für neue Orphan Drugs doch (Zusatz-)Nutzennachweise erfolgen müssen (vgl. Abb. 1).
Drei dieser fünf Produkte sind für mehr als eine seltene Erkrankung zugelassen. Das Produkt „Glivec“ mit dem Wirkstoff Imatinib, das einen Jahresumsatz von über 280 Millionen Euro aufweist, verfügt sogar über Zulassungen für sechs Orphan Diseases (vgl. www.vfa.de/orphans). Zu beachten ist, dass die Regelung des AMNOG nur für nach dem 01.01.2011 neu eingeführte Wirkstoffe gilt. Damit kann diese Übersicht nur eine erste Einschätzung dafür bieten, welche Relevanz dieser Ausnahmeregelung voraussichtlich zukommt. Außerdem ist zu bedenken, dass die Erstzulassung von drei der fünf Arzneimittel mit einem Umsatz > 50 Millionen Euro bereits vor über acht Jahren erfolgte. Das Thema Orphan Drugs wird 2011 - auch aufgrund der zu erwartenden zehn Neuzulassungen - die Insider dieser „Milliarden-Nische“ weiterhin beschäftigen.


24.742 Euro für eine Verordnung
Die Apothekenverkaufspreise (AVP) der unterschiedlichen, im Vertrieb befindlichen Orphan-Drug-Handelsformen liegen zwischen 64,46 Euro und 24.471,56 Euro (Stand: 15.01.2011). Damit zählen die Preise von Orphan Drugs häufig zu den höchsten im Arzneimittelmarkt: So ist zu konstatieren, dass unter den 30 verordneten Arzneimitteln mit den höchsten Preisen (nach AVP der jeweils teuersten Handelsform, die nicht außer Vertrieb gemeldet ist) 18 Produkte sind, die den Orphan-Drug-Status besitzen (vgl. Tab. 1).

Christian Bensing, Dr. André Kleinfeld

 

Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Bensing, C., Kleinfeld, A.: „Der „Milliarden-Nischenmarkt“ mit Sonderstatus: Orphan drugs“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 01/11, S. 12 ff.)

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