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OA MVF 01/11: Versorgungsmanagement langfristig fördern

05.10.2012 12:30
Die aktuellen Entscheidungen zur Gesundheitspolitik betreffen auch die hausarztzentrierte Versorgung (HZV). Das GKV-Finanzierungsgesetz sieht für die bereits abgeschlossenen Verträge bis Ende Juni 2014 („Ärzte Zeitung“ 2010) einen Bestandsschutz vor. Für Verträge, die nach der gesetzlichen Frist geschlossen wurden, gelten dagegen enge gesetzliche Vorgaben: Für Mehrausgaben gegenüber der Regelversorgung ist der Nachweis der Wirtschaftlichkeit „ex ante“ zu führen. Gerade die Kassen, die sich an die gesetzliche Pflicht zur Einführung der HZV gehalten und früh Verträge geschlossen haben, zahlen damit höhere Honorare an die teilnehmenden Ärzte.

> Kassen, die keinen Zusatzbeitrag erheben müssen, erzielen erhebliche Mitgliederzugänge von Krankenkassen mit Zusatzbeitrag (dfg 2010). Im „Zusatzbeitragsvermeidungswettbewerb“ ist es daher für Kassen kurzfristig wirtschaftlich, alle Ausgaben stringent zu reduzieren (Laschet 2010). Dem fallen nicht nur die Verträge der integrierten Versorgung (IV) zum Opfer (Osterloh/Rieser 2010; Hommel 2010). Auch die Investitionen in sonstige Selektivverträge inklusive der hausarztzentrierten Versorgung (HZV) sind weitestgehend zum Erliegen gekommen (ÄrzteZeitung 2010).
Selbst Krankenkassen, die die seit 30. Juni 2009 bestehende gesetzliche Verpflichtung zur flächendeckenden Einführung der HZV „freiwillig“ umsetzen, müssen angesichts der sich darstellenden Wettbewerbsnachteile gegenüber Krankenkassen, die dem Gesetz bisher unsanktioniert nicht Folge leisten, ihre Versorgungsstrategie überdenken (Stoschek 2010; Beneker 2010). Mehrkosten der HZV entstehen aus der ärztlichen Vergütung (unbestätigte Quellen gehen von 19 Euro pro Versicherten je Quartal aus (Glatzl 2010)) sowie durch die zusätzlichen Programmkosten, die mit dem Aufwand der Disease-Management-Programme vergleichbar sind (bei Einführung 55 Euro, aktuell 36 Euro pro Versichertenteilnahmejahr (GKV-Spitzenverband 2010). Angesichts der seit mehr als einem Jahr fehlenden finanziellen Sanktionierung einer Missachtung des §73b SGB V ist die konsequente Verhinderung der HZV eine wettbewerbsrelevante Kostensenkungsstrategie.
Von den Sparzwängen der Kassen sind vor allem die ergänzenden flächendeckenden fachärztlichen Versorgungsprogramme betroffen: Verträge, die durch abgestimmte ärztliche Versorgung im ambulanten Sektor nachgelagerte und veranlasste Kosten senken sollen. Nicht nur, dass auf diesem Weg die Wirtschaftlichkeit der selektivvertraglichen Versorgung gefährdet ist, auch berufspolitisch spitzt sich die Situation zwischen Haus- und Fachärzten weiter zu. Ist dies der Versorgungswettbewerb, den der Gesetzgeber wünscht?


Politik fordert „Mehr Wettbewerb, Transparenz und weniger Bürokratie“
Die Selektivverträge sind als wettbewerbliches Instrument eingeführt worden (u.a. GKV-Gesundheitsreform 2000, GKV-Modernisierungsgesetz 2004; GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 und GKV-Finanzierungsgesetz 2009). Transparenz, Versorgungsforschung und -management haben auch für die aktuelle Regierung einen hohen Stellenwert (MVF 2010). Der aktuelle §73b SGB V ist zu Recht kritisch zu beurteilen. Dass seine Umsetzung mehr als 1.800 Schiedsverfahren fordert, stellt nicht wirklich einen Beitrag zum Bürokratieabbau dar. Aber auch die Umsetzung der HZV ist von bürokratischen Hürden begleitet. Alle Krankenkassen haben jährlich mit der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung die Bereinigung der Gesamtvergütung zu vereinbaren. Das Abrechnungsmanagement der Krankenkassen steht durch die Möglichkeit der ärztlichen Doppelabrechnung von Leistungen (selektivvertragliche vs. Regelversorgung) vor neuen Herausforderungen (Kriedel 2010; Graf 2009).
Für alle teilnehmenden Versicherten an Selektivverträgen sind mehrseitige Teilnahme-Erklärungen, die über datenschutzrechtliche und sonstige vertragsspezifische Implikationen aufklären, einzuholen. Ein Versicherter, der am DMP teilnimmt (KHK und Diabetes mellitus), in der HZV eingeschrieben ist, die besondere fachärztliche Versorgung beim Diabetologen (zukünftig ggf. weitere Fachgruppen) in Anspruch nehmen und gleichzeitig die Vorteile des IV-Vertrags „diabetischer Fuß“ nutzen möchte, wird sich zu Recht über die hohen bürokratischen Zugangshürden wundern.
Dabei ist der in Deutschland erzielte Erfolg der neuen Versorgungsformen und Qualitätsbemühungen international beachtet (Miksch et al. 2010). Die Disease-Management-Programme (DMP) sind flächendeckend etabliert und beeinflussen die Versorgung positiv (siehe auch Ergebnisse der ELSID-Studie des Universitätsklinikums Heidelberg; Miksch et al. 2010; Szecsenyi et al. 2008; Schäfer et al. 2010). Die Nutzung der in Deutschland umfassend vorliegenden Routinedaten bietet für die angewandte Versorgungsforschung und das gezielte Versorgungsmanagement umfangreiche Möglichkeiten (Perleth/Hess 2010). Zusammen mit der Notwendigkeit zum Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Selektivverträgen (§53 Abs. 9 SGB V i.V.m. §53 Abs. 3 SGB V) und der Wirksamkeit von medizinischen Interventionen (§§91 Abs. 3 und 92 Abs. 1 SGB V i.V.m. §2 Abs. 5 SGB V) werden Routinedaten in Verbindung mit klinischen Studien an Bedeutung gewinnen (Mansky et al. 2009).
Auch die Bemühungen der Leistungserbringer und Krankenkassen, Transparenz in die Qualität der Versorgung zu bringen, sowie die Bereitschaft zur qualitätsadjustierten Versorgung steigen (siehe beispielhaft u.a. www.qualitaetskliniken.de, Klinik-Führer Rhein-Ruhr, Weisse Liste, Initiative Qualitätsmedizin (IQM), Projekt „Qualitätssicherung der stationären Versorgung mit Routinedaten“ (QSR) als gemeinsames Forschungsprojekt des AOK-Bundesverbandes, der HELIOS Kliniken GmbH, des WIdO und des Forschungs- und Entwicklungsinstituts für das Sozial- u. Gesundheitswesen Sachsen-Anhalt (FEISA)).


Wie kann mehr Wettbewerb und Transparenz, aber weniger Bürokratie erzeugt werden?
Um Anreize für die nur mittelfristig erzielbare Reduktion von Gesundheitskosten zu setzen, ist eine planbare Finanzierung der Programmkosten von Selektivverträgen für die Krankenkassen im „Zusatzbeitragsvermeidungswettbewerb“ essenziell. Bestehende und durch gesetzliche Änderung entstehende strukturelle Wettbewerbsnachteile sollten für einen fairen Wettbewerb der Krankenkassen um die bessere Versorgung beseitigt werden. Darüber hinaus sind sonstige wettbewerbliche oder bürokratische Hürden für ein effektives und effizientes Versorgungsmanagement konsequent abzubauen. Wie kann dies geschehen?
Wirtschaftlichkeitsnachweis nach einheitlicher Systematik gegenüber Aufsicht
Die Verpflichtung zum Nachweis der Wirtschaftlichkeit für bestehende und zukünftige Selektivverträge sollte zukünftig nach einem einzigen standardisierten Verfahren durchgeführt und durch die zuständigen Aufsichtsbehörden überwacht werden. Die Evaluation sollte auf Ebene des Versicherten für die verschiedenen selektivvertraglichen Interventionsarten (inklusive DMP) in gleicher Weise unter Verwendung aller vorliegenden Routinedaten erfolgen. Es ist zu erwägen, dass die Evaluation zumindest zeitweilig ausschließlich durch zugelassene Einrichtungen durchgeführt wird, da die benötigte Expertise weder bei den Krankenkassen noch bei den Leistungserbringern derzeit in notwendigem Ausmaß verfügbar ist.


Versorgungsmanagementprogramm (VMP)-Pauschale analog DMP-Pauschale einführen
Kassen mit Selektivverträgen, die den Nachweis der Wirtschaftlichkeit ex ante erbracht haben beziehungsweise für DMP und für die HZV-Bestandsverträge den Wirtschaftlichkeitsnachweis ex post erbringen müssen, erhalten als Ausgleich für die finanzielle Mehrbelastung die Zuweisung einer Versorgungsmanagementprogramm (VMP)-Pauschale je Versichertenteilnahmejahr aus dem Gesundheitsfonds. Die VMP-Pauschale mindert analog der bisherigen DMP-Pauschale die über den Fonds verteilbaren Mittel. Die VMP-Pauschale besteht dabei wie auch schon die DMP-Pauschale aus einer Programmkostenpauschale und einer Zuweisung für Zahlungen an die Leistungserbringer. Die VMP-Pauschale wird pro Versichertenteilnahmejahr gezahlt und gilt für die Teilnahme an mindestens einem Vertrag, für den der Wirtschaftlichkeitsnachweis (siehe oben) zu führen ist. Nimmt der Versicherte an mehreren Selektivverträgen teil, so führt dies nicht zu einer höheren Zuweisung über die VMP-Pauschale. In die jährliche Berechnung der Höhe der VMP-Pauschale sollten dagegen die selektivvertraglichen Mehrkosten für alle Vertragsformen, die den oben genannten Nachweis der Wirtschaftlichkeit ex post oder ex ante erbringen müssen, je Versicherten berücksichtigt werden. Um eine „Kannibalisierung“ der Fondszuweisung durch die VMP-Pauschale zu verhindern, kann der Zuweisungsanteil auf einen definierten Betrag (zum Beispiel 3% der Gesundheitsfondzuweisung) begrenzt werden.


Kontinuierliche Verbesserung ermöglichen
Eine einheitliche Methodik zur Betrachtung der Wirtschaftlichkeit ermöglicht es auch, effizient monatliche Auswertungen für das Controlling durch die Vertragspartner bereitzustellen. Erst die qualitätsindikatorenbasierte, objektivierte Betrachtung der Versorgungsqualität ermöglicht die konstruktive Auseinandersetzung mit der Zielerreichung der Vertragsinhalte (Petersen et al. 2006; Schütte/Homscheid 2010; Geß et al. 2008; Diel 2009; ÄrzteZeitung 2009). Die Verwendung aller vorliegenden Routinedaten für den Zweck der selektivvertraglichen Steuerung sollte datenschutzrechtlich eindeutig erlaubt sein.


Keine Vertragspartner ausschließen, Zugangshürden senken und Datenschutz regeln
Echter Wettbewerb ist erst unter gleichen Marktbedingungen möglich (Wöhe 2005). Sowohl die Kassenärztlichen Vereinigungen, die über etablierte Vertragspartner-Beziehungen und Verwaltungsprozesse verfügen, als auch die finanzstarken Unternehmen der Pharmazeutischen Industrie, der Medizintechnik und sonstigen Industrie können wertvolle Beiträge zur Innovation in Selektivverträgen leisten.
Wesentliche Inhalte aller Teilnahmeerklärungen für Selektivverträge sind in Bezug auf ihre fachlichen Anforderungen identisch. Zukünftig sollte daher durch die Teilnahmeerklärung für einen Versorgungswahltarif nach §53 (3) SGB V gleichzeitig auch das Einverständnis für alle Selektivverträge, für die der Tarif gilt, wirksam - nach einem dokumentierten ausführlichen Aufklärungsgespräch - eingeholt werden können. Dabei sollte vom Versicherten frei wählbar sein, ob er diese Teilnahmeerklärung beim Arzt vor Ort oder im Gespräch mit einem Kundenberater der Krankenkasse ausfüllen möchte. Dies senkt den bürokratischen Aufwand, entlastet das Arzt-Patienten-Gespräch und fördert die Auseinandersetzung mit der ersten Teilnahmeerklärung des Versicherten.
Bei der Umsetzung der HZV-Verträge stehen datenschutzrechtliche Fragen im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung (ÄrzteZeitung 2010). Die Einhaltung des Datenschutzes ist für eine verantwortungsbewusste Krankenkasse eine „conditio sine qua non“. Dass für die Umsetzung der HZV allerdings die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen noch nicht bundesweit geschaffen werden konnten, führt neben dem oben genannten finanziellen Wettbewerbsnachteil zu einem Image-Schaden der „gesetzestreuen“ Krankenkassen. Wie soll einem Versicherten und der Presse plausibel gemacht werden, dass die HZV zwar seit 15 Monaten gesetzlich mit den kontrahierten Vertragspartnern vorgeschrieben ist, die Verschiebung des Echtbetriebs aus ungeklärten datenschutzrechtlichen Fragen in Bezug auf diese Vertragspartner aber trotzdem notwendig ist? Wenn es gelingen soll, mit selektivvertraglichen Angeboten effizienter und effektiver zu versorgen, darf das Vertrauen in diese Versorgung nicht erschüttert werden. Datenschutzrechtliche Klarheit und bürokratiearme Prozesse sind hierfür zu erfüllende Basisanforderungen der Versicherten.


Politischer Gestaltungsspielraum bleibt bestehen
Wünscht der Gesetzgeber den Abschluss weiterer Hausarztverträge und ergänzender Selektivverträge beziehungsweise relevante Einschreibungen von Versicherten in Selektivverträge/Versorgungswahltarife nach §53 (3) SGB V, so sollte die VMP-Pauschale (um einen entsprechenden Anreiz auszulösen) höher festgesetzt werden. Derzeit beträgt die DMP-Pauschale 180, zukünftig 168 Euro pro Versichertenteilnahmejahr (Pfeiffer 2010). Je nach politischer Zielsetzung könnte eine einzige VMP-Pauschale zwischen den tatsächlich nachgewiesenen Mehrkosten aller Selektivverträge und der aktuellen DMP-Pauschale festgelegt werden. Da durch den „Vorwegabzug“ der Versorgungsmanagement-Pauschale der Gesundheitsfonds für die weiteren Leistungen anteilig unterdeckt sein wird, kann keine Krankenkasse mittelfristig ohne Teilnahme am Versorgungswettbewerb den Zusatzbeitrag vermeiden. Die Intention des Gesetzgebers, den Versorgungswettbewerb und effiziente Strukturen zu fördern, wäre mit einer einzigen Gesetzesänderung zu einem starken Innovationsanreiz umgestaltet worden. <<
von:

Dr. med. Dr. sportwiss. Heinz Giesen, MBA , Dr. med. Karl Liese, MBA

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Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Giesen, H., Liese, K.: "Versorgungsmanagement langfristig fördern“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 01/11, S. 22 f.

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Ausgabe 01 / 2011

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RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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