OA MVF 06/11: „Wir wissen das alles nicht. Aber wir haben es“
>> Nach Statements der Diskutanten drehte sich die von Glaeske geleitete Diskussion vor allem um die Themenbereiche des AMNOG, der hier geforderten Frühbewertung, der möglicherweise nicht ausreichenden Daten bei Frühbewertungen sowie um den von der Politik eingebrachten Begriff der „Versorgungsstudien“, der - so Glaeske - die Wissenschaft ärgere, weil das Wortbestandteil „Forschung“ darin nicht vorkommt.
„Ein Dauerprozess“
Zunächst müsse festgestellt werden, dass das AMNOG andere Zielsetzungen als endgültige Entscheidungen über den Wert von Arzneimitteln zu treffen habe, verdeutlichte zu Beginn der Diskussion Dr. Rainer Hess, seit 2004 Unparteiischer Vorsitzender des G-BA. Von daher seien die Daten zwangsläufig unzureichend für eine abschließende Bewertung des Arzneimittels. Doch muss nach Meinung von Hess schon bei dieser Frühbewertung darauf geachtet werden, dass Präparate, die später vielleicht einen großen Nutzen haben könnten, in der Anfangsphase nicht zu schlecht bewertet würden. Hess: „Das Ganze ist ein Dauer-Prozess.“ Jedes Jahr bestehe die Möglichkeit, die Bewertung zu überprüfen, neue Studien einzubringen, zudem hätte die Industrie die Möglichkeit und aus seiner Sicht den Vorteil, auch neue Studien mit dem G-BA vereinbaren zu können. Allerdings erst in einer Phase, in der zunächst ein Schiedsspruch einen Erstattungspreis festsetzen wird, den keiner akzeptiert, das - so Hess - „ist ein Fehler im Gesetz.“ Nicht zielführend sei es, dass die gemeinsame Vereinbarung von Versorgungsstudien (siehe Pfaff/Glaeske) an ein Scheitern von Verhandlung und einen Schiedsspruch geknüpft seien, statt diese schon zu Beginn veranlassen zu können, aber - so Pragmatiker Hess - „das ist nun mal so“.
Die Frage wird sein, ob diese Chance für Versorgungforschungs- und nicht nur Versorgungsstudien - wie Moderator Glaeske betonte - von den pharmazeutischen Herstellern so konstruktiv aufgenommen wird, wie es möglich sei, und ob nicht gar das Prinzip Versorgungsforschung zur Strategie der pharmazeutischen Industrie werden müsse.
„Gemeinsame Strategie“
Darauf antwortete Birgit Fischer, seit kurzem die Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa) und davor Vorstandsvorsitzende der BARMER GEK. Sie glaubt durchaus, dass Versorgungsforschung zumindest zu einem Teil zur Strategie der forschenden Arzneimittelhersteller werden muss; nur zu einem Teil deshalb, weil „sie das alleine gar nicht kann“. Fischer: „Wir brauchen dringend Versorgungsforschung unter Einbeziehung auch der Industrie und deren Möglichkeiten, aber ebenso der Kassen und der Ärzteschaft.“ Nur so kämen Daten und Finanzierung zusammen.
Wer über Nutzen für Patienten spreche, müsse dafür sorgen, dass aus einem sehr sektoral gegliederten Gesundheitswesen, in dem es nur Geschäftsbeziehungen zwischen den Playern und Sektoren gebe, Kooperationen entstünden. Hier seien mögliche Verhandlungen und letzten Endes auch die Nutzen-Bewertung des AMNOG erste Schritte, die weiterentwickelt werden müssten. Fischer: „Ich glaube, dass man hier wirklich eine gemeinsame Strategie braucht, um die Effizienzlücke gemeinsam auch auszufüllen.“ Damit könne man aber nun nicht das AMNOG überfrachten, sondern brauche unabhängig davon einen intensiveren Einstieg in die Versorgungsforschung. Hier seien wichtige Schritte, dass das Bundesforschungsministerium oder auch das Land Nordrhein-Westfalen finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hätte.
„Substanziell verändern“
Diese zaghaften Schritte sind Barbara Steffens, der Gesundheitsministerin von NRW (siehe auch S. 15), viel zu wenig. Sie betonte, dass „uns die Zeit davon läuft“. Steffens: „Wir sind an einem Punkt, an dem wir, wenn wir nicht jetzt anfangen, an bestimmten Stellen wirklich ganz substanziell Strukturen im Gesundheitssystem zu verändern, in Versorgungsengpässe kommen.“ Hier könnten ihrer Ansicht nach auch mal kleinere Studien als Grundlage von Entscheidungen dienen, was Hess vom G-BA ganz anders sieht. Man müsse unterscheiden zwischen der Landes- und der Bundesebene, sagte Hess. Auf der Bundes-ebene bestehe die Aufgabe, normative Entscheidungen zu treffen, wofür man schon Daten benötige, die etwas breiter angelegt seien als regionale Daten. Andererseits könne man zum Beispiel bei der Bedarfsplanung sehr viel mehr regionalisieren, man solle aber auch Ländern und Regionen die Möglichkeit geben, bestimmte Strategien selbst zu entwickeln und umzusetzen - arbeitsteilig mit der Ärzteschaft, Krankenhäusern und Kassen.
„Äußerst skeptisch“
Zu letzteren beiden kann besonders Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der BARMER GEK, einiges erzählen. Und das, was er sagt, ist ernüchternd. „Wenn Frau Ministerin Steffens nun fordert, dass über Versorgungsforschung ganz schnell die Datenbasis geschaffen werden soll, um Strukturen zu verändern, bin ich äußerst skeptisch“, sagte Straub, vor seiner Berufung in den Vorstand der BARMER GEK im Vorstand der Rhön-Kliniken. Sein nüchternes Fazit, das nun kein Vorwurf sein solle, sei, dass die Politik bei Veränderungen von Strukturen im Gesundheitswesen wissenschaftliche Evidenz, egal welcher Art, nicht mit einbeziehe. Das gelte aktuell für die im GKV-VG geschaffene Einführung der ambulant-spezialärztlichen Versorgung oder für Pflegeberatungsstellen und für vieles mehr. Straub: „In aller Regel findet man, wenn man denn überhaupt Evidenz hat, mehr Hinweise, dass man das nicht so machen soll, wie der politische Wille es gestaltet.“
Seine Meinung als Mitakteur in diesem Feld sei, dass man den Korb nicht ganz so hoch hängen solle, um ganze Strukturen nach verfügbarer Evidenz ändern zu wollen, sondern in kleineren Einheiten anfangen sollte, das verfügbare Wissen einzusetzen. Und da wäre er schon froh, wenn das gelänge.
Versorgungsforschung sei bei der BARMER GEK das Erbe des kleineren Partners, der GEK, die dieses Thema über viele Jahre vorangetrieben und in den neue gemeinsame Unternehmung eingebracht hat. Straub: „Wir setzen mit großer Überzeugung, aber auch mit großen Schwierigkeiten die Erkenntnisse um, die in diesen vielen einzelnen Studien entstehen.“ Er, der nicht vor allzu langer Zeit von der Kassen- zur Leistungsanbieterseite und wieder zurück gewechselt war, könne mit größerer Überzeugung als vorher sagen, dass die „ungeheure Macht ökonomischer Interessen durch Studien sehr schwer zu bündeln oder zu bändigen oder auch nur in eine bestimmte Richtung zu lenken“ sei.
„Nur Sekundärdaten“?
Einer der auf Seiten der Leistungserbringer seit Jahren für Evidenz zuständig ist, ist Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI); einem Forschungsinstitut in der Rechtsform einer Stiftung des bürgerlichen Rechts. Er ging in seiner Replik auf das Beispiel der Morbiditätsorientierung ein. Nur wenn der Bedarf den Morbiditäten einer definierten Population folge, könnten bestimmte Versorgungsnotwendigkeiten festgemacht werden. Der nächste Schritt sei dann die Unterstützung regionalisierter Verträge. Dies sei umso wichtiger, als dass die Entmischung der Bevölkerung, die schon heute zwischen Ost und West im Gang sei, zu ganz unterschiedlichen Versorgungsschwerpunkten führen würde, die sich bis auf Kreisebene hinab sehr unterschiedlich ausdifferenzieren werden, was das ZI mit Daten unterstützen werde. Von Stillfried: „Ich nehme den Vorwurf mit, dass wir hier nur mit Sekundärdaten arbeiten und vielleicht nicht den tatsächlichen Bedarf abbilden, aber ich glaube, es wäre zunächst einmal ein Näherungsweg, sich zumindest an diesen Sekundärdaten zu orientieren.“
Die auch hier sichtbaren Unterschiede, die in der Versorgung - zum Beispiel im vom ZI aufgelegten Versorgungsatlas - beobachtbar sind, könnte man dann zum Anlass nehmen, sich noch intensiver mit der Versorgung in der jeweiligen Region auseinanderzusetzen. Wer hier etwas erreichen will, muss nach von Stillfried nicht nur kollektive Vertrags-Partner, sondern den Arzt vor Ort einbinden. „Wichtig ist ein Feedback-Mechanismus, der die einzelne Praxis einbindet und ihr zeigt, wie sie in Bezug auf bestimmte Versorgungsindikatoren steht.“
„Aber auf hohem Niveau“
All das braucht Geld. Und einer der auf dem Geld sitzt, ist Dr. Frank Wissing, Programmdirektor „Gruppe Lebenswissenschaften“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er betonte, dass die Versorgungsforschung inzwischen mit allen anderen Forschungsfeldern gleichgestellt sei, es auch keinen Malus Versorgungsforschung mehr gebe, was ja durchaus mal so gewesen sei, als Studien nicht gefördert wurden, nur weil Versorgungsforschung darauf stand. Wissing: „Versorgungsforschung ist, wenn sie denn wissenschaftlich auf hohem Niveau betrieben wird, durch die DFG genauso förderungswürdig wie alle anderen Bereiche auch.“ Immer wieder eine Herausforderung sei es dennoch, dass die DFG schon die Notwendigkeit sehe, gewisse Dinge auch mal in ihrer grundlegenden Fragestellung untersuchen zu wollen, um Mechanismen und Prinzipien verstehen zu können. Dazu brauche man Grundlagenforschung in der Versorgungsforschung und genau die finanziere dann die DFG - wenn sie denn „wissenschaftlich hochwertig“ ist - womit man auch die Bemerkungen von Pfaff und Glaeske zu „Versorgungstudien“ besser versteht. Das sei jedoch nicht immer so, wie Wissing betont: „Es gibt gute Versorgungsforschung in Deutschland, aber es gibt sie noch nicht in der notwendigen Breite, um wirklich alle Fragestellungen, die eigentlich beantwortet werden müssen, adäquat bearbeiten zu können.“ Dazu würden gute Wissenschaftler in Deutschland benötigt, deren Förderung eine wichtige Aufgabe auch der DFG sei, die wissenschaftsgeleitete Forschung im Fokus hat. Damit werde der Wissenschaft die Möglichkeit gegeben, jederzeit auch an einem selbst gewählten Thema zu forschen und Anträge an die DFG zu richten.
Was sicher sinnvoll ist, aber weit weg ist von einem konzertierten Ansatz, der einem Masterplan für Versorgungsforschung auch nur nahe käme. Wer es denn versucht, wird ausgebremst, wie selbst Hess erfahren musste, dessen G-BA ja beauftragt ist, im Zuge des AMNOG Methoden, aber keine Versorgungsstrukturen zu bewerten. Hess: „Ich habe versucht, über die Versorgungsanalyse zum Thema Depression einen Bericht mit genau diesem Ansatz zu verfolgen, der ist bei der letzten Sitzung kläglich gescheitert.“ Schuld sei ein Methodenstreit und eine „gewisse Abneigung, sich wirklich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen“ zu wollen. Und auch weil im Wettbewerb stehende Kassen nicht bereit sind, ihre Daten zu publizieren. So wisse man heute noch nicht, ob Disease Management wirklich funktioniere, hausarztzentrierte Versorgung wirklich besser oder die doppelte Facharztschiene nötig sei. Hess: „Wir wissen das alles nicht. Aber wir haben es.“ <<
von
Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Stegmaier, P.: "„Wir wissen das alles nicht. Aber wir haben es“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 06/11, S. 13 ff.)