OA MVF 06/11: Ein Schritt auf dem langen Weg zum Patienten
>> Für das forschende Biopharma-Unternehmen UCB, Monheim, machte Steffen Fritzsche, Leiter der Unternehmenskommunikation, deutlich, dass die „Patient Centricity“, die sich UCB auf die Fahnen geschrieben hat, weit mehr bedeutet als das Zusammenstellen von Informationsmaterial: „Wir wollen ein ganzheitliches Versorgungsmanagement für die Patienten erreichen, das den Patientennutzen in den Mittelpunkt des Handelns stellt.“ Die Kernkompetenz des Unternehmens sei zwar nach wie vor, hochwertige Arzneimittel zur Verfügung stellen, doch darüber hinaus möchte UCB die Krankheitswahrnehmung, die Therapietreue und die Versorgungsqualität insgesamt verbessern. Fritzsche: „Für uns als forschendes Biopharma-Unternehmen heißt dies, dass wir uns vom Arzneimittelhersteller hin zu einem umfassenden Versorgungsdienstleister entwickeln wollen.“
Das Unternehmen subsummiert alle Aktivitäten in dieser Richtung unter dem neudeutschen Begriff „solutions beyond the pill“. Ziel sei es, durch Information und Networking eine optimierte Compliance sowie eine bessere Krankheitswahrnehmung, ein optimiertes Krankheitsmanagement und darüber hinaus eine Verbesserung der Krankheitssymptomatik zu erreichen. „Ein solches Patient Relationship-Management kann jedoch nicht losgelöst von den übrigen Playern des Gesundheitswesens funktionieren“, betonte Fritzsche. So sehe sich sein Unternehmen wohl in der Pflicht, in Zukunft ganzheitliche Versorgungsleistungen anzubieten, könne das aber alleine nicht tun. „Dafür brauchen wir Partner wie Krankenkassen, Kliniken, Ärzte oder Ärztenetze“, erklärte Fritzsche, der indes die Bereitschaft auf Seiten der potenziellen Partner „noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden“ sieht. Sofern diese Bereitschaft aber zunehme, würden „wir in die Bresche springen und ganzheitliche Versorgungsleistungen anbieten“.
Als Beispiel skizzierte er das Programm „Epilepsie im Griff“, ein individualisiertes Compliance-Programm, das aus einer Vielzahl einzelner Bausteine und Tools besteht. Basis sind verschiedene Tools der Informationsvermittlung, wie Broschüren und Websites. Zusätzlich wird den Patienten ein Service-Programm angeboten, das auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten ist. Hier kann er Checklisten erhalten und Erfahrungsberichte anderer Patienten einsehen. Ein Epilepsie-Tagebuch steht ebenso zur Verfügung wie ein Leitfaden für ein effektives Arztgespräch. Auch der richtige Umgang mit Arzneimitteln ist ein wichtiger Baustein in einer Indikation, in der die Compliance einen besonders hohen Stellenwert hat. Anmelden können sich übrigens alle Patienten mit Epilepsie, nicht nur solche, die UCB-Arzneimittel nehmen.
Die Zahl der Teilnehmer am Patienten-Programm – 1.325 innerhalb eines Jahres – unterstreicht den hohen Bedarf. Darüber hinaus konnte bei den Teilnehmern nach sechs Monaten eine Verbesserung der Compliance um 38 % ermittelt werden, 46 % berichteten sogar von einer Reduktion der Anfälle. Das sind zwar nur Angaben aus einer Onlineumfrage unter den an diesem Programm freiwillig teilnehmenden Patienten - aber immerhin.
Schließlich setzt UCB auf sogenannte „Patienten-Botschafter“, die auf ehrenamtlicher Basis anderen Betroffenen aus ihrem Leben berichten und ihnen so Mut bei der Bewältigung ihrer Erkrankung machen, und sogenannte „Scouts“, die sich bereit erklärt haben, bestimmte Artikel für Patienten, Aktionen und Themen, zum Beispiel für Patientenzeitschriften, zu bewerten. Diese Botschafter unterstützt UCB mit Reise-/Übernachtungskosten, Honarare bekämen sie nicht.
„Wir sind hier auf einem guten Weg, sehen aber vor allem ein sektorenübergreifendes Denken bei der Fokussierung auf den Patientennutzen als große, noch zu bewältigende Aufgabe an“, resümierte Fritzsche. Dass UCB das Ganze aber nun provokativ „Patienten-Coaching“ oder auch „Gesundheits-Coaching“ nennt, mag darauf hindeuten, dass es sich um ein Fernziel handelt, auf dem indes gerade einmal die ersten Schritte gegangen sind.
Glaubwürdigkeit und Qualität sind Grundbedingungen
Dass gutes Hintergrundwissen bei Patienten zu besseren Therapieergebnissen beiträgt, bestätigte auch Wolfram-Arnim Candidus, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten. Er betonte den starken Wunsch der Patienten nach umfassenden Informationen. Gleichzeitig zeige eine Studie des Prognos-Instituts, dass knapp drei Viertel des im Internet vorhandenen Informationsangebots zu verschreibungspflichtigen Wirkstoffen und Produkten Qualitätsdefizite aufweisen.
Informationen an Patienten über verschreibungspflichtige Medikamente durch den Arzneimittelhersteller sind aber aufgrund des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) nur in sehr eingeschränktem Maße zulässig. Laut Candidus ein unhaltbarer Zustand: „Dies ist für die Versorgung schädlich und auch für die Patienten.“ Letztendlich seien die Patienten immer noch von den Informationen seitens der behandelnden Mediziner abhängig, die aber aufgrund des eigenen Zeitmangels oft nicht in die von den Patienten gewünschte Tiefe gehen. Hier sieht Candidus die Arzneimittelhersteller in der Pflicht, vollständige und nutzerfreundliche Informationen zur Verfügung zu stellen: „Ausgeschlossen werden muss jedoch dabei, dass diese Information als verdeckte Werbung genutzt wird.“ Candidus schlägt daher die Gründung eines unabhängigen Prüfinstituts vor.
Auch der GKV-Experte Rolf Stuppardt sieht einen notwendigen Beitrag der Pharmaindustrie bei der Information von Patienten. Dieser müsse die maßgeblichen Partner im Gesundheitswesen einbeziehen und sich an Qualitätskriterien orientieren, die aber für alle Beteiligten im Gesundheitswesen gleichermaßen gelten: „Verständlich und patientenfreundlich, objektiv, nicht verzerrend und werbefrei, evidenzbasiert, aktuell, verlässlich, tatsächlich korrekt und nicht irreführend.“ Und er bringt es auf einen entscheidenden Begriff, indem er Glaubwürdigkeit für alle Maßnahmen der Patientenaufklärung einfordert.
Wenn diese Grundvoraussetzungen gewährleistet sind, spricht auch aus Sicht der niedergelassenen Internistin Dr. Martina Henrich, Berlin, Vieles für gut informierte Patienten: „Zusätzliche kompetente und seriöse Informations- und Leistungsangebote können den Arzt entlasten und das ärztliche Wirken sinnvoll ergänzen, wenn sie in Übereinstimmung mit der ärztlichen Behandlung erfolgen.“ Aus ihrer Sicht liegt es nahe, dabei auch die Pharmaindustrie mit einzubeziehen, zumal dort aufgrund der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ein großer Informationspool zu dem jeweils behandelten Krankheitsbild vorliege. Wichtig ist ihr vor allem, dass keinerlei Einmischungen in die Behandlungshoheit des Arztes erfolgen und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht berührt wird.
Mitbestimmungsrecht stärken
Wird die Rolle der Patienten neu definiert und gestärkt, bezieht dies automatisch auch die Patienten-Selbsthilfegruppen und Patientenverbände mit ein. Daher liegt es auch in deren Interesse, ihre Beziehung zu den anderen Akteuren des Gesundheitswesens klar zu definieren. Mit Blick auf die pharmazeutische Industrie erfolgt dies vor dem Hintergrund, „dass es in vielen Bereichen gemeinsame Interessen der Patienten und der forschenden Arzneimittelhersteller gibt“, betont Lilo Habersack, Vorsitzende der Deutschen Restless-Legs-Vereinigung (RLS). Für sie sind daher feste Grundlagen und hohe Transparenz bei der Zusammenarbeit unabdingbar: „Für die Zusammenarbeit von Patienten-Selbsthilfegruppen gibt es klare Regeln, die sich an den Leitlinien des FSA-Kodex (Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e.V.) orientieren.“
Aus der Sicht von Habersack ist die 2004 eingeführte Beteiligung der Patienten ein Teilerfolg, geht aber noch nicht weit genug. Die politischen Einflussmöglichkeiten der Patienten sieht sie als gering an und fordert daher ein „volles Mitbestimmungsrecht bei Beschlussfassungen in den Gremien des Gesundheitswesens“.
Aufbruch zu neuer Verantwortung auf allen Seiten
In der intensiven Diskussion wurde deutlich, dass sich die Akteure im deutschen Gesundheitswesen in einem Lern- und Umbruchs-prozess befinden, der jeweils unterschiedlich weit gediehen ist. Als wenig hilfreich wurden dabei in der öffentlichen Diskussion oft verwendete Stereotype angesehen. Gerade für die pharmazeutische Industrie besteht nach Meinung der Diskutanten die Chance darin, ihre Position neu zu definieren und ihr Know-how auch verstärkt in die Patientenarbeit einzubringen. Als Voraussetzung hierfür sind Neutralität und Transparenz ebenso wichtig, wie ein Schulterschluss aller Beteiligten am Gesundheitssystem.
Stuppardt skizzierte als Zukunftsvision eine vertraglich geregelte gemeinsame Patientenberatung durch Ärzteschaft, pharmazeutische und medizintechnische Industrie sowie Krankenkassen als mögliche „Win-Win-Win“-Situation auf der Seite der Informationsabsender. Und auch die Patienten als Informationsempfänger könnten von dieser Wissensallianz im höchsten Maße profitieren. <<
von MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier. <<
Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Stegmaier, P: "Ein Schritt auf dem langen Weg zum Patienten“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 06/11, S. 30 f.)