>> „Wir sehen im Gesundheitswesen ein Missmatch zwischen Arzt und Patient. Es ist nötig, diese beiden, eigentlich zentralen Player wieder zusammen zu führen“, erklärte der stellvertretende Vorsitzende des DNVF, Prof. Dr. Edmund A.M. Neugebauer von der Universität Witten-Herdecke. Ihm ist indes absolut bewusst, dass der viel beschworene Patient in vielen Leitlinien zwar im Fokus, aber ebenso häufig den handelnden Akteuren immer noch im Weg steht. Neugebauer plädierte ebenso eindringlich wie emotional dafür, nach der Epoche des Halbgotts in Weiß und der derzeitigen der Ökonomie endlich in die Ära des Patienten einzutreten. Dies könne ein wichtiges Signal sein, das „von uns als Versorgungsforscher ausgehen“ könne und müsse, meinte Neugebauer. Er will sich dafür einsetzen, dass der Arzt endlich wieder Arzt sein kann und der Patient evidenzbasierte und interessenunabhängige Information erhält, damit dieser gemeinsam mit dem Arzt seines Vertrauens auf Augenhöhe die für ihn passende Therapie (mit-)entscheiden kann.
Selbstverständlich seien inzwischen in allen Leitlinien Patienten einbezogen. Doch - so Neugebauer - wüssten wir nicht, welche Patienten einbezogen werden sollen oder wie ein Arzt-Patienten-Gespräch ablaufen soll. Neugebauer: „Das Gespräch findet zwar statt, aber wenn man fragen würde, was der Patient tatsächlich verstanden hat, wird das relativ wenig sein.“ Also müsse man dafür Tools entwickeln, den Patienten vorher besser zu informieren, dann evidenzbasierte Entscheidungshilfen anbieten oder zumindest als Vorstufe davon evidenzbasierte Patienteninformationen.
Diese Einsichten vertiefte DNVF-Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen, indem er die Beispiele der Antibiotikaversorgung bei Kindern sowie die Versorgung von Patienten mit Demenz anführte. Während im Falle von Antibiotika viel zu viel - vor allem von Allgemeinärzten - eingesetzt werde, was neben Verschwendung zu unnötigen Resistenzen führe, sei bei Demenz eine deutliche Fehlversorgung mit stark wirksamen Psychopharmaka sowie mit Neuroleptika feststellbar. Das gelte vor allen in Pflegeheimen und besonders bei Menschen mit der höchsten Pflegestufe, die also gar nicht mehr wirklich mitentscheiden könnten. Glaeske: „Wir wissen gleichzeitig, dass es bezogen auf den Nutzen längst Warnungen gibt, dass insbesondere bei Menschen mit Demenz solche Neuroleptika zu einer sogenannten Übersterblichkeit führen.“
Genau hier könne Versorgungsforschung dazu dienen, zum einen die Anwendungs- und -Therapiesicherheit zu stärken, zum Zweiten die Transparenz zu fördern und zum Dritten auch die Patientenorientierung in den Mittelpunkt zu setzen. Hier müsste im Bereich der Versorgungsforschung sehr viel stärker auch mit Sekundärdaten der Krankenkassen gearbeitet werden.
„Brückenbauer“
Diese Steilvorlage verpasste natürlich Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BARMER GEK nicht, dessen Unternehmen Hauptsponsor des 10. Deutschen Kongresses Versorgungsforschung in Köln war. Nach seinen Worten sind die Kassen „Brückenbauer“, weil sie einerseits die zur Versorgungsforschung nötigen Routinedaten lieferten - siehe dazu das Titelinterview mit den beiden Kongress-Präsidenten, dem 1. Vorsitzenden des DNVF, Prof. Dr. Holger Pfaff, sowie dem 1. Vorsitzenden der GAA, Prof. Dr. Sebastian Harder. Doch andererseits könnten Kassen die Brücke dann „auch wieder zurück bauen“, wenn die daraus resultierende Versorgungsforschung Resultate erzielte, mit der Versorgung in Gestalt von Versorgungsprogrammen, Leistungen oder Verträgen verbessert werden könne. Dies sei die zentrale Funktion der Kassen, meinte Schlenker und lobte dabei explizit sein eigenes Unternehmen, das sich schon sehr frühzeitig auf den langen Weg zur Versorgungsforschung gemacht hat. Und hier insbesondere den Kassen-Teil, von dem Schlenker selbst stammt: die GEK.
„Wir wollen Über-, Unter-, Fehlversorgung im klassischen Sinne aufdecken und daraus Konsequenzen ziehen“, erklärte Schlenker. Dazu brauche es vor allem Transparenz, zum einen in Richtung der verantwortlichen Akteure (Ärzte, Kliniken, Leistungsanbieter und -erbringer), und zum anderen in Richtung der Patienten. „Wir wollen die Souveränität unserer Versicherten steigern“, dies sei die zentrale Botschaft. Dazu brauche man Patienteninformationen, aber zum Beispiel auch Klinik- und Arztbewertungsportale, auf denen der einzelne Patient seine konkreten Erfahrungen einstellen und seine Bewertung abgeben kann. Schlenker: „Davon versprechen wir uns ganz viel, weil auf der einen Seite die Datenanalyse und die klassische Versorgungsforschung mit Reporten steht, die dann auf der anderen Seite durch die Einschätzung der Patienten ergänzt werden kann.“ Das benötige natürlich eine objektive Datenauswertung und Mindeststandards, doch nur so komme man mit dem Thema Patienten-Souveränität und -Empowerment voran.
In kasseneigener Sache formulierte Schlenker seinen Unmut darüber, dass die allgemeinen Codierrichtlinien nun doch nicht verbindlich eingeführt würden. Seine Forderung: „Wir brauchen einheitliche methodische Standards, nach denen dokumentiert wird.“ Das sei für die Versorgungsforschung wichtig, das sei aber insbesondere bedeutend für die Vergütungsfrage und Refinanzierung durch den Morbi-RSA. Zunächst war im GKV-VG-Entwurf geplant, dass diese allgemeinen Codierrichtlinien verpflichtend in das Gesetz kommen sollten, dann hätte das die Politik auf Druck von bestimmten Ärzteverbänden wieder herausgenommen; Codierung sei nun wieder freiwillig, was den Kassen aber nichts nützen würde. Schlenker: „Wir brauchen methodisch klare Standards.“ Seine zweite Forderung betraf die Finanzierung von Versorgungsforschung, die auch im Titelinterview angesprochen wird. Kassen hätten nach Meinung Schlenkers gerne einen eigenen Kostenteil für Forschung und Entwicklung, so wie jedes normale Industrie-unternehmen auch. Schlenker: „Ich bin für die Versorgung, für Leistung und Verträge zuständig und verwalte einen Etat von 24 Milliarden Euro. Aber davon haben wir keine Gelder für Forschung und Entwicklung zur Verfügung.“ Es wäre schön, wenn die Gesellschaft von diesen Budgets ein kleines Stück für Versorgungsforschung investieren würde, wobei das Geld naheliegender Weise aus dem Gesundheitsfonds stammen könnte. Doch dann würde dieses Geld wieder im Bereich der Leistungen fehlen.
Finanzierung gefordert
Deshalb plädierte der BARMER GEK-Vorstand für eine Erweiterung des Gesundheitsfonds durch zusätzliche Gelder, zum Beispiel aus dem Bereich des Etats des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, was einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe auch angemessen wäre. Schlenker: „Wir wären mit 100 Millionen Euro zufrieden, damit könnte man schon etwas anfangen.“ Umgerechnet auf die in Deutschland versicherten Menschen wären das nicht viel mehr als 1 Euro pro Kopf, während Glaeske als ehemaliger Sachverständigenrat die schon lange vorliegende Forderung des Rats nach 0,1 % der GKV-Ausgaben wiederholte, was dann immerhin schon 170 Millionen wären - ein Klacks im Vergleich zu den Beträgen, die Amerika (siehe Titelinterview) investiert. In Deutschland herrsche eine mangelnden Evaluationskultur vor, wodurch niemand genau wisse, welche Auswirkungen Rabatt- und Selektivverträge, integrierter Versorgung, Disease-Management-Konzepte, das aktuelle AMNOG oder das kommende Versorgungsstrukturgesetz mit all ihren politischen Interventionen mit sich brächten. „Nirgendwo ist eine obligatorische Evaluation vorgesehen“, warnte Glaeske vor solchen politischen Blindflügen, was für ein Gesundheitssystem, das immerhin 170 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde, nicht akzeptabel, ja eigentlich eine Katastrophe sei.
Nicht nur deswegen ging das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung in der aktuellen Stellungnahme „Versorgungsforschung: unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen“ genau auf diesen Punkt ein. „Versorgungsforschung ist eben unverzichtbar bei Allokationsentscheidungen“, verdeutlichte Prof. Dr. Holger Pfaff, der 1. Vorsitzender des DNVF. Deshalb müsse zum Beispiel bei der Nutzenbewertung Versorgungsforschung Pflicht werden. Gleiches gelte sowohl für die evidenzbasierte Medizin, die schon seit längerem im Fokus stünde, aber auch für die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung. Pfaff: „Im Rahmen dieser evidenzbasierten Gesundheitsversorgung müssen Gelder zur Verfügung gestellt werden, damit deren Programme tatsächlich evaluiert werden können.“
Als Beispiel für den hohen Bedarf in dem hier zu evaluierenden Kontext von Versorgung führte Glaeske die Tatsache an, dass es weltweit keine Evidenz dafür gebe, dass ein allgemein- oder auch hausarztzentriertes System wirklich das bessere wäre. Dennoch sei es politisch - nicht wettbewerblich, sondern verpflichtend - eingeführt worden. Glaeske: „Es gibt weltweit null Evidenz dafür. Insofern ist das eine nicht evidenzgestützte, rein politische Entscheidung gewesen.“ <<
von MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Peter Stegmaier
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Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Stegmaier, P.: "Mehr Evidenz für politische Entscheidungen“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 06/11, S. 12 f.)
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