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OA MVF 03/11: Versorgung mit System

04.10.2012 17:25
„Gesundheitsversorgung all-inclusive“ oder „3 in 1“ - so könnte das Geschäftsmodell des US-Versorgungssystems Kaiser Permanente beschrieben werden. Kaiser Permanente ist ein Konsortium aus Krankenversicherung, Klinikbetreiber und Ärzteorganisationen und versorgt 8,7 Millionen Mitglieder in neun US-Bundesstaaten, die meisten davon, 75 Prozent, in Kalifornien. Passend trifft es auch der Begriff „Gesundheitsnetzwerk“, denn die beteiligten Leistungserbringer kooperieren nicht nur in ihrer alltäglichen Praxis sektorenübergreifend. Auch digital verbindet das Netz die medizinischen Fachkräfte untereinander: Über eine gemeinsame IT-Plattform sind Krankenakten für sie einsehbar, und Patienten können über ein integriertes Mitgliederportal Kontakt zu ihnen aufnehmen und eigene Daten einsehen. Das unternehmenseigene Gesundheitsnetz fängt die Versicherten früh auf und setzt auf Prävention und Wellness: Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Doch lässt sich das Konzept auch auf Deutschland übertragen? Und was sind die Erfolgsfaktoren dieses Ausnahmemodells, das sich in den USA bewährt hat? „Monitor Versorgungsforschung“ sprach am Rande des DGbV-Zukunftskongresses mit Sophia Schlette, die zwei Jahre in der Zentrale von Kaiser Permanente in Oakland arbeitete.

>> Frau Schlette, das Konzept von Kaiser Permanente gilt als ein Best-Practice-Beispiel in der Gesundheitsversorgung. Was sind die Erfolgsfaktoren?
Zum einen ist es sicherlich die recht einmalige Unternehmensstruktur, die die vollständige Integration von Leistungserbringern und Versicherten ins Gesundheitsnetz ermöglicht. Kostenträger und Leistungserbringer schließen auf regionaler Ebene miteinander Exklusivverträge, in denen sich die Permanente Medical Groups, also die KP-Ärzteorganisationen, verpflichten, ausschließlich KP-Versicherte zu behandeln, und die Krankenversicherung im Gegenzug ausschließlich mit Permanente Medical Groups zu kontrahieren. Theoretisch kann das „Konstrukt Kaiser Permanente“ also jedes Jahr auseinanderfliegen; praktisch hat es – über Krisen hinweg – auf freiwilliger Vertragsbasis  und exklusiver Gegenseitigkeit seit 1945 gehalten. Zum anderen sind es die Mitarbeiter, die über eine hohe Selbstmotivation verfügen - und das unterscheidet sie von anderen Health Professionals.

Wie kommt es zu diesem intrinsischen Antrieb?
Das hängt mit dem Selbstverständnis von Kaiser Permanente als „Total Health Organization“ zusammen. Darauf beruht das gesamte Geschäftsmodell. Charakteristisch für Kaiser Permanente ist die durchgängige, datengestützte Qualitätsorientierung und eine konsequente Bevölkerungsorientierung, das heißt, die Ausrichtung an kranken und an gesunden Mitgliedern. An hochqualifizierten Mitarbeitern mangelt es dabei nicht - im Gegenteil. Bei KP bewerben sich Absolventen der angesehensten medizinischen Hochschulen aus dem ganzen Land. Es sind die, die von einer vollständig an Qualität ausgerichteten Gesundheitsversorgung träumen, von einem System, in dem sie als Versorger tätig sein können und nicht als Unternehmer tätig sein müssen – den geschäftlichen Teil nehmen ihnen die Profis ab. Das heißt, es gibt schon vor der Einstellung eine gewisse Selbstauswahl. Ärzte, die bei Kaiser Permanente arbeiten, haben sich bewusst dafür entschieden und bleiben dem System treu. Die Versicherten und Patienten wiederum spiegeln ihnen, dass sie das Angebot von Kaiser Permanente zu schätzen wissen, vor allem, wenn sie schwere Erkrankungen durchgemacht haben. Das verstärkt natürlich die Motivation.

Bleiben wir bei den Versicherten, was genau macht Kaiser Permanente so attraktiv?
Oh, da gibt es ganz viele Gründe. Da ist vor allen Dingen die erlebte Versorgungsqualität in einem One-Stop-Shop, der direkte Zugang zum eigenen Hausarzt per E-Mail und die Tatsache, dass es praktisch keine Wartezeiten gibt. Als KP-Mitarbeiterin war ich auch KP-versichert und habe das System selbst genutzt. Zuerst aus Neugier, dann auch als Patientin. Den passenden Termin konnte ich online buchen, warten musste ich höchstens fünf Minuten, und die verschriebenen Medikamente konnte ich, verblistert, sofort nach dem Besuch beim Arzt in einer der hauseigenen Apotheken abholen. Bei Rückfragen, oder wenn ich ein Testergebnis nicht einordnen konnte, konnte ich meiner Ärztin über das Patientenportal eine E-Mail schicken - und sie antwortete binnen Stunden. Kein Wunder, dass KP HealthConnect – so heißt das 2009 flächendeckend eingeführte Gesundheitsinformationssystem, das von über der Hälfte aller KP-Versicherten regelmäßig genutzt wird. Die engmaschige Betreuung und Navigation durchs System schafft Vertrauen und lindert – gerade bei schlimmen Diagnosen – Verunsicherung und Ängste. Ich finde, das ist personalisierte Medizin im wörtlichen Sinne. Und Studien haben bereits objektiv untermauert, was Patienten subjektiv als Verbesserung erleben: Chronisch Kranke, die mit ihrem Versorgungsteam per E-Mail kommunizieren können, haben bessere Gesundheitsoutcomes, sind stabiler, zufriedener und fühlen sich besser betreut.

Wie lange bleiben denn Versicherte KP treu?
KP-Mitglieder bleiben im Schnitt zehn Jahre bei Kaiser versichert. Das ist unglaublich lang, wenn man bedenkt, dass Amerikaner sehr mobil sind und normalerweise alle zwei bis drei Jahre den Arbeitsplatz wechseln. In den USA bedeutet Arbeitsplatzmobilität, dass mit dem Arbeitgeber in der Regel die Krankenversicherung gewechselt wird. In Zeiten anhaltender Rezession, steigender Gesundheitsausgaben und schrumpfender Krankenversicherungsleistungen fürchten Jobsuchende –gerade wenn sie bislang bei Kaiser versichert waren -, dass sie bei einem beruflichen Wechsel vom neuen Arbeitgeber keinen vergleichbaren Ersatz für das Kaiser-Paket bekommen. Das Ganze ist ein Beispiel dafür, wie sich ein dysfunktionales Gesundheitssystem als Produktivitätsbremse auswirken und Mobilität und Leistungsfähigkeit bedrohen kann.

Wie schafft es KP als Unternehmen, sich im Wettbewerb zu behaupten und auf Dauer zu bestehen, was ist das Geheimnis?
KP betreibt systematisches Innovationsmanagement. Es gibt keine andere private Gesundheitsorganisation, die sich ein eigenes Innovationszentrum wie das Garfield Innovation Center (benannt nach dem ersten Arzt und Mitbegründer von Kaiser Permanente) leistet. Ganz neu ist die Idee nicht; große Auto- oder Lebensmittelhersteller haben ähnliche Units, wo Produkte und Prozesse getestet, verbessert und erneuert werden. Entscheidend ist eine in sich stimmige Gesamtstrategie, die Innovationen fördert. Nehmen Sie Qualitätsmanagement im Krankenhaus – entsprechende Aufgaben können nicht einzelnen Mitarbeitern übertragen werden, wenn nicht die ganze Einrichtung dahinter steht. Bei Kaiser gibt es Extra-Stäbe, die sich mit dem Roll-Out von erfolgreichen Pilotprojekten beschäftigen. Darüber hinaus gibt es hausinterne Think Tanks und Forschungsabteilungen sowohl bei der Dachorganisation in Oakland als auch dezentral in den neun KP-Regionen. Diese Struktur trägt erheblich dazu bei, dass der Total Health-Ansatz konsequent verwirklicht wird. Gestützt wird die kontinuierliche Weiterentwicklung der Versorgung überdies durch US-weite Qualitätsvergleiche zwischen Kliniken und Health Plans – zum Beispiel anhand der HEDIS-Indikatoren (Das „Healthcare Effectiveness Data and Information Set“, ein Indikatorensatz der Non-Profit-Organisation National Committee for Quality Assurance, misst und vergleicht die Versorgungsqualität von 90 Prozent aller amerikanischen Krankenversicherer).  In diesen Rankings schneidet KP durchweg überdurchschnittlich ab.

Wie verhält es sich mit der Altersstruktur und Balance zwischen älteren Versicherten, die hohe Kosten verursachen und den Jüngeren? Und: Aus welchen sozialen Verhältnissen stammt das Gros der Mitglieder?
Die Mitglieder kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen und Schichten, und die Alterstruktur entspricht der der Gesamtbevölkerung – 15 % der Kaiser-Versicherten sind über 65 Jahre alt. Allerdings ist nur ein sehr  kleiner Teil der Versicherten arbeits- oder mittellos. Das liegt daran, dass der Arbeitgeber die Versicherung abschließt, Einzelpolicen sehr teuer sind und die von Präsident Obama eingeführte allgemeine Versicherungspflicht erst 2014 greift. Dann allerdings rechnet Kaiser mit 500.000 Neumitgliedern allein in Kalifornien.

Die Meinungen über Kaiser Permanente gehen bis heute weit auseinander. In Kalifornien hält sich noch immer das Bild einer Versicherung für Arbeitnehmer in Hochrisikoberufen wie dem Baugewerbe.
Das schreckte Ende der 90er die Klientel – also die Arbeitgeber als Vertragsnehmer - aus anderen Branchen ab, man verzeichnete schwindende Mitgliederzahlen. Um das Image zu drehen, hat Kaiser den Wellness-Gedanken stärker in den Vordergrund gestellt und im Rahmen der „Thrive!“-Werbekampagne ab 2004 gezielt die Jüngeren und gesunde, häufig unversicherte Amerikaner angesprochen. („Thrive“ ist – paraphrasiert – die Aufforderung, bewusst gesund und aktiv zu leben und zu genießen). Die Kampagne war ein Durchbruch und gut fürs Geschäft. Es gelang Kaiser zu vermitteln, dass Gesundsein Spaß macht, und dass das Versorgungsziel nicht die Schadensbegrenzung im Krankheitsfall ist, sondern eben die Aufrechterhaltung der Gesundheit von Anfang an. Jedes Neumitglied wird registriert, sorgfältig untersucht und sofort ins Versorgungssystem aufgenommen. Nach dem Check-Up werden regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen veranlasst.   

Inwieweit lassen sich die Erfolgsfaktoren auf Deutschland übertragen? Wäre es zum Beispiel für eine KV oder ein Krankenhaus sinnvoll, durch Einstellung von besonders guten Ärzten einen Qualitätsschub anzuregen?
Qualitätsverbesserung braucht ein System und ein Gesamtkonzept – und natürlich gute Mitarbeiter. Die Weichen in Richtung Qualitätsverbesserung und sektorübergreifende Koordination sind bei uns von der Politik ja bereits vor 2009 gestellt worden – durch die Anschubfinanzierung für Pilotvorhaben in der integrierten Versorgung etwa oder durch die Einführung von MVZs, ambulantes Operieren usw. Bei Kaiser Permanente gilt jede vermeidbare Krankenhauseinweisung als Versagen des Systems. Nicht der Ort der Leistungserbringung zählt, sondern wie Leistung erbracht und vergütet wird.

Ist es also auch eine Frage der Einstellung, beziehungsweise der Denkweise der deutschen Gesundheitsplayer? Wie müssten sie denn ihren Denkansatz verändern?
Es geht nicht um die Behandlung innerhalb oder außerhalb von bestimmten Sektoren. Es geht um die Frage: Wie kann die Versorgung funktionaler, am Patienten ausgerichtet, gestaltet werden?  Wir sind in Deutschland immer noch sehr im sektoralen Denken verhaftet, vor allem die Leistungserbringer. So sind noch immer die Anreize, so funktioniert bei uns Vergütung, da ist es verständlich, dass alle sich so verhalten. Viele sind damit auch zufrieden, sehen den Veränderungsbedarf nicht. Hinzu kommt, Innovationen sind anfangs immer unbequem und verstörend, zumal wenn sie nicht positiv besetzt werden können – dabei könnten Vergleiche, Studienreisen, Hospitanzen oder Tandem-Ansätze helfen. Auch Zahlen können helfen. Mir sagte einmal ein KP-Arzt, dass er und eigentlich alle Ärzte Zahlen lieben; im klinischen Alltag gehen sie doch ständig mit Zahlen um. Um den Gesundheitszustand,  Krankheitsverlauf oder Behandlungserfolg zu bestimmen, werden kontinuierlich Messungen vorgenommen, Aufnahmen gemacht, Vorher-Nachher-Daten verglichen – da liege es doch nahe, meinte der Kollege, wenn man mit der gleichen Begeisterung auf die Zahlen guckt, die die eigenen Ergebnisse im Vergleich zu den Ergebnissen anderer Ärzte oder Versorgungsteams zu sehen. Im übrigen sind die Vergleiche zwischen Ärzten, Teams und Regionen bei KP so populär, dass gutes Abschneiden mit hoher Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft verknüpft ist – Auszeichnungen sind bei Kaiser wichtiger als ergebnisorientierte finanzielle Boni, die beim Gehalt übrigens kaum ins Gewicht fallen.

Lehnen Sie den Pay-for-Performance-Ansatz ab?
Nun ja. Die Erfahrungen damit in den USA sind nicht durchweg überzeugend, bestenfalls gemischt, die Methoden schwer vergleichbar, was wird gemessen, von welchem Qualitätslevel startet man, welche Anreizsysteme gibt es bereits, benachteiligt P4P kleine Praxen gegenüber großen Versorgungseinrichtungen? Die Effekte sind mitunter unerwünscht bis schädlich, wenn die Aufmerksamkeit auf den Leistungen liegt, die extra honoriert werden, und andere Leistungen ins Hintertreffen geraten. Die Euphorie ist ziemlich abgeklungen. Kaiser jedenfalls setzt auf nichtmonetäre Anreize wie Auszeichnungen im Team. Und es zählt die Frage: Wie hochwertig ist die Qualität unserer Leistung im Vergleich zu den Wettbewerbern?

Wie könnte das deutsche System leistungsorientierter werden?
Ich denke, unsere Public-Reporting-Systeme im stationären und ambulanten Sektor verdienen Respekt. Die Krankenhausqualitätsberichte z.B. gehen in Deutschland viel weiter als in irgendeinem anderen Land.

Die Frage ist, ob das in der Praxis umgesetzt wird. Sind diese Maßnahmen populär genug, um eine Qualitätsverbesserung zu bewirken?
Im Zeitalter von Internet und informierten Patienten wird Qualitätstransparenz immer wichtiger. Auch hierzulande wird das Internet immer mehr genutzt, um nach Informationen über Behandlungsoptionen und eben die Qualität von Einrichtungen zu suchen. Das Schöne daran: die Informationen sind 24/7 verfügbar. Ich denke, dass Informationsportale wie die Weisse Liste - ein Online-Klinik-Wegweiser für Patienten, entwickelt von der Bertelsmann Stiftung und von Dachverbänden der größten Patienten- und Verbraucherorganisationen - die Zukunft sind. Zwar mag die deutsche Bevölkerung noch nicht so internet-affin sein wie in den USA, wo jeder dritte Erwachsene ins Netz geht um nach Gesundheitsinformationen zu suchen. Aber der Trend ist der gleiche.

Sie setzen auf den Online-Wettbewerb der Leistungserbringer?
So ist es. Aus anderen Ländern wissen wir: Qualitätsvergleiche fordern die Leistungserbringer heraus, bessere Leistungen zu erbringen. Das zeigt sich in den USA: Die Rankings eröffnen nicht nur mehr Vergleichsmöglichkeiten für Patienten, sie setzen auch die Leistungserbringer unter Zugzwang. Keiner von ihnen will sozusagen unsichtbar bleiben, während die Konkurrenz im Internet präsent ist.

Die AOK versucht in Deutschland ein System aufzusetzen, in dem Patienten Ärzte empfehlen und die AOK ihre Empfehlungen um weitere Informationen ergänzt. Wie stehen Sie zu einem solchen Modell, ist es zu riskant?
Hier muss man unterscheiden. Die Weisse Liste stellt Informationen nach den Kriterien für die Krankenhaus-Qualitätsberichterstattung zusammen. Wenn die Patientenerfahrung als Kriterium hinzukommt, kann die Bewertung subjektiv werden. Dahinter steckt zwar der Peer-Gedanke und die größere Unmittelbarkeit von Selbsterlebtem. So etwas kann aber auch Nachteile haben – dann, wenn es eher den Charakter einer Hotel- oder Restaurantbewertung bekommt.  Die Nutzer solcher Informationen müssen lernen, mit den Eigentümlichkeiten des Systems, d.h. mit solchen subjektiven Bewertungen umzugehen.

Wenn wir uns den Ärzten zuwenden: Sie hatten von der hohen Motivation der Kaiser-Mitarbeiter berichtet. Finden Sie, dass die Einstellung der deutschen Mediziner sich in die gleiche Richtung verändert?
Ich habe auf Veranstaltungen für angehende Mediziner in Deutschland eines beobachtet: Viele Medizinstudierende denken ganz ähnlich wie Kaiser-Ärzte, haben Idealvorstellungen vom Arztberuf und einer persönlichen und vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung. Auch die Arbeit im multidisziplinären Team - mit der Pflegekraft oder dem Apotheker zusammen – gehört zu diesem Idealbild. Es scheint aber so, dass dieses Idealbild im Klinikalltag verloren geht - irgendwo zwischen Zeit- und Budget-Druck, Ausbildungsanforderungen und hierarchischer  Arbeitsorganisation. Wenn Kaiser-Ärzte auf Veranstaltungen über ihren Arbeitstag berichten – 20 Minuten Zeit pro Patient, Konzentration auf die wirklich Kranken, Unterstützung durch Management- und Informationssysteme, geregelte Arbeitszeiten, Arbeit im Team, Qualitätssicherung durch Zweitmeinung in real time, Feedback-Systeme und Anerkennung durch Auszeichnung – können bei uns viele kaum glauben, dass Versorgung so funktionieren kann – ohne Hamsterrad.

Wie könnte denn eine Änderung der Umstände angetrieben werden?
Ich denke, man muss früh anfangen, schon in der Ausbildung, denn dort findet ja die berufliche Sozialisation statt. Auch die Förderung bestimmter Fachrichtungen spielt eine Rolle. In Deutschland gibt es Reformstudiengänge, die den Schwerpunkt auf Gebiete legen, die gerade für das Versorgungsmanagement von chronisch Kranken und für bevölkerungsorientierte Systeme immer wichtiger werden, wie Allgemeinmedizin, Community Medicine, Versorgung chronisch Kranker, Geriatrie, Mental Health, Palliativversorgung. Auch brauchen wir mehr nicht-ärztliche Studiengänge und Berufe, die in der Begleitung chronisch Kranker ebenfalls an Bedeutung gewinnen - Nachwuchs-Fachkräfte, die anders „ticken“ als die Versorger von heute. Das Zweite ist die gezielte Förderung neuer multidisziplinärer Versorgungsformen, Stichwort Chronic-Care-Modell.

Die Sozialisation und die Struktur spielen als Erfolgsfaktoren eine große Rolle. Wie sieht es denn mit der IT-Basis in Deutschland aus?
Mir scheint, dass in Deutschland die Sorge um den Datenschutz allzu leicht als Vorwand dient – um nichts zu tun. Wie lange dauert jetzt schon das Bemühen um die elektronische Gesundheitskarte? Die Angst vor Qualitätstransparenz ist sicher größer als die Angst vor Datenmissbrauch, und auch das Kostenargument zieht nicht wirklich, wenn sich die Anfangsinvestitionen schnell rechnen. Warum wird in vielen Gesundheitssystemen immer noch mit Papier und Hängeregistern gearbeitet, während in anderen sensiblen Sparten - ob Luftfahrt, Lebensmittel oder Bankgewerbe - längst durch IT-Systeme Fehlerminimierung betrieben wird?

Wenn wir nun einen weiteren Erfolgsfaktor, den salutogenetischen Ansatz, auf die Anwendbarkeit in Deutschland hin abgleichen könnten. Anders gefragt: Hat Wellness in Deutschland eine Chance?
Sicher, damit wird auf dem zweiten Gesundheitsmarkt ja schon recht gut verdient. Eine Nachfrage gibt es also durchaus. Wellness und Gesundheitsförderung wird bei uns aber bislang nicht als integrativer Bestandteil der Regelversorgung begriffen. Die vorherrschende Meinung ist, dass man die Gelder der Versichertengemeinschaft den Kranken, vor allem den Schwerkranken, zukommen lassen sollte, nicht den Gesunden. Und die Evidenz für viele Präventionsansaetze war lange Zeit dünn. Nichtsdestotrotz – der  salutogenetische Ansatz von Kaiser ist für mich deswegen so überzeugend, weil er Gesundheit positiv besetzt und ohne Schuldzuweisungen auskommt. Die Kranken werden nicht gegen die Gesunden ausspielt oder umgekehrt, die Dünnen nicht gegen die Dicken ... Kaiser gelingt eben beides – Prävention in individuellen und Setting-Ansätzen und Spitzenversorgung mit hervorragenden Outcomes wie z.B. Überlebensrate nach Brustkrebs und niedrige Sterblichkeit von kardiovaskulären Erkrankungen in der Kaiser-Versichertenpopulation.  Die Vorteile von Kaisers Total-Health-Ansatz liegen auf der Hand ... Kosten spart Kaiser dabei allerdings nicht – das Geld im System wird lediglich anders verteilt.

Ein weiterer Erfolgsfaktor von Kaiser Permanente ist das Vergütungssystem. Könnten Sie es kurz erläutern?  
Das ist ganz einfach: Ärzte erhalten bei Kaiser ein festes Gehalt. Der Vertragspartner – also der Arbeitgeber – zahlt Kaiser Permanente jährlich eine Kopfpauschale für jeden Versicherten; und KP managt dessen Gesundheit unabhängig von Dauer, Häufigkeit und Intensität der Behandlung. In Kalifornien kommt hinzu, dass Kaiser Permanente von einer hohen Marktdurchdringung profitiert und Gruppenversicherungen günstiger anbieten kann als die Mitbewerber. Kaisers Marktmacht hat dort auf den Kostenanstieg eine moderierende Wirkung.

Lässt sich ein ähnliches System für Deutschland konzipieren und kann es in Anbetracht der verschiedenen Interessengruppen und Verteilungskämpfe unter den Ärzten überhaupt funktionieren?
Die größeren unter den Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) arbeiten bereits nach einem ähnlichen Geschäftsmodell, mit Kernelementen wie One-Stop-Shop, elektronischer Patientenakte, Versorgungsteams und Zweitmeinung, angestellten Ärzten und einer professionellen Arbeitsteilung zwischen Patientenversorgung und Klinikmanagement. Man braucht dazu einen langen Atem, viel Dialogbereitschaft bei allen Beteiligten, ein begünstigendes politisches Klima und vor allem gute Beispiele integrierter Versorgung, wo nicht von außen gesteuert wird. Sprache ist sehr wichtig, Kampfbegriffe und Ausdrücke wie „Gängelung der Ärzte“, „Verteilungskampf“, oder „Kochbuch-Medizin“ sind da fehl am Platz.

Nun ist aber „Verteilungskampf“ das Empfinden, das die Ärzte tatsächlich haben. Werden die tiefen Gräben weiterhin bestehen bleiben?
Mit Kommunikation und Ausdauer kann man einiges bewirken, und Kontrollen helfen weniger als gute Beispiele. Den Ärzten könnten die vielen Vorteile eines solchen Systems stärker vermittelt werden – mehr Zeit für Patienten, weniger Verwaltung, Einkommenssicherheit, familienkompatible Arbeitszeiten, Teamarbeit, Feedback sowie die neueste informationstechnologische Ausstattung.  Viele Medizinerinnen schätzen das schon heute.

Ein neues Versorgungsgesetz steht uns bevor. Einer der Eckpunkte besteht darin, die Versorgung zu regionalisieren. Eine Verbesserung?
Gesundheitsversorgung wird durch eine stärkere Regionalisierung ja nicht automatisch verbessert. Anderswo in Europa kann man beobachten, dass es bei dezentralisierter Versorgung statt zu Verbesserungen und mehr Bürgernahe zu sozialen Verwerfungen kommen kann; die Versorgungsangebote und –dichte sind teils sehr disparat; Medizintourismus innerhalb der Länder und zwischen Ländern sind die Folge einer Gesundheitspolitik nach regionaler Kassenlage. Außerdem: je kleinteiliger die Versorgung, je komplizierter das Kompetenzgeflecht z.B. durch gemeinsame Länderausschüsse, desto intransparenter wird doch das Ganze. Besser ist die Mitberatung der Länder in den zentralen Gremien der Selbstverwaltung.

Was wäre denn ein Erfolgskriterium für die Versorgung der Zukunft?
Das wären eine Qualitäts- und eine Bevölkerungsorientierung in der Gesundheitspolitik und bei den Akteuren. Darüber hinaus wäre mehr Angebotsvielfalt in der Versorgungslandschaft wünschenswert. Im Moment beobachte ich aber sowohl auf der Leistungsträger- als auch auf der Regierungsseite wieder Skepsis gegenüber dem Wettbewerb, ein Arrangement mit dem Status quo trotz aller Versorgungsprobleme und mangelnden Mut gegenüber innovativen Versorgungsformen. <<

Prof. Dr Reinhold Roski, Peter Stegmaier

 

Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Roski, R., Stegmaier, P.: „Versorgung mit System“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 03/11, S. 17 ff.)

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Ausgabe 03 / 2011

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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