Auf der Spur von zwei Sozialinnovationen
http://doi.org/10.24945/MVF.01.19.1866-0533.2117
>> Auf dem Bundeskongress der DGIV wurden in vielen Vorträgen die bestehenden Strukturen und Rahmenbedingungen der Versorgung auf Effizienz- und Effektivitätsreserven dargestellt, wohlwissend, dass – so Spitzer – „wir nicht erst seit heute wissen, dass im Schnittstellenbereich von ambulant und stationär die größten Wirtschaftlichkeitspotenziale in Milliardenhöhe ausgeschöpft werden könnten.“ Er wählt dabei absichtlich den Konjunktiv, weil sich „an der Überwindung der altbackenen Sektorengrenzen“ bisher schon manche die Zähne ausgebissen hätten; nicht nur, weil die „aus dem Weg zu räumenden Brocken zu hart und darüber hinaus schwer verdaulich erschienen, sondern auch, weil man die Aufwände scheue und „lieber folgenden (Regierungs-)Generationen diese großen und komplexen Aufgaben überlassen wollte.“
Aus dem vielfältigen, interessanten Programm des DGIV-Kongresses stachen neben den Vorträgen der ersten Sitzung zur „Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung“ – „Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen – Einschätzungen und Ausblicke“ von Christian Klose (BMG), den drei Positionen des GKV-Spitzenverbandes, der Krankenhäuser und Ärzte zur sektorübergreifenden Versorgung – Dr. Wulf-Dietrich Leber (GKV-Spitzenverband), Marc Schreiner (BKG) und Dr. Bernhard Gibis (KBV) – besonders die der zweiten Sitzung heraus. Unter dem Metathema „Im Brennpunkt“ kamen hochkarätige Professoren zu Wort, die sich aus wissenschaftlicher Sicht den Chancen wie Hemmnissen auf dem langem Weg zur Integrierten Versorgung annahmen.
Den Anfang machte Prof. Dr. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit beim Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI, mit seinem Vortrag zur „Mittelverwendung des Strukturfonds – Standortbestimmung und Perspektiven“. Der Strukturfonds könnte, so Sitzungs-Moderator Prof. Dr. Dr. Alfred Holzgreve, Direktor für Klinische Forschung u. Akademische Lehre von Vivantes und stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes der DGIV, „der Hebel“ sein, mit dem die Strukturen – vor allem die des Krankenhausbereichs – in Deutschland verändert werden können.
Dabei geht es diesem Sektor gar nicht mal so schlecht, wenn man die Zahlen des aktuellen vom RWI erstellten „Krankenhausreports 2018“ folgt, der sich allerdings aus den 2016er Zahlen speist. Über die Zeit habe sich – so Augurzky – die wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser im Vergleich zu 2012 doch deutlich verbessert. Waren 2012 noch 33 Prozent aller Krankenhäuser mit einem Jahresverlust behaftet, waren es 2018 nur mehr 13 Prozent. Doch stelle sich die Krankenhauslandschaft sehr unterschiedlich dar. Allgemein gelte, dass:
• kleine Krankenhäuser schlechter abschneiden als große,
• die Spezialisierung wirtschaftlich und besonders bei Patientenzufriedenheit sehr vorteilhaft ist,
• Krankenhaus-Verbünde und -Ketten wirtschaftlich stärker sind als Solisten,
• die wirtschaftliche Lage im Süden Deutschlands schlechter ist als im Norden und Osten.
Beim letzten Punkt schlagen die alten Bundesländer mit einer hohen Krankenhausdichte durch, während vor allem die neuen Bundesländer mit ihrer deutlich geringeren Hausdichte eine meist gute wirtschaftliche Lage aufweisen. Nun aber ist den Worten Augurzkys zufolge davon auszugehen, dass sich die generelle wirtschaftliche Lage aller Krankenhäuser seit 2017 – und auch in den folgenden Jahren – deutlich verschlechtert haben dürfte. Ein Grund dafür sei, dass die Fallzahlentwicklung im Jahr 2017 erstmals seit Einführung der DRG rückläufig gewesen ist, während die Verweildauer und die Zahl der Belegungstage schon seit Jahren kontinuierlich abnimmt.
Die in Deutschland vergleichsweise hohe, regional jedoch sehr unterschiedliche Krankenhausdichte verknüpft sich nun mit einer „etwas ungünstigen Nachfragestruktur“, womit man beim Thema der Integrierten Versorgung angekommen sei. Denn auch die Nachfragestruktur ist nach Ausführungen von Augurzky in Deutschland eher ungünstig. Während in Deutschland 23,5 Krankenhausfälle je 100 Einwohner zu verzeichnen sind, haben alle anderen EU-Länder (mit Ausnahme Österreichs) deutlich weniger Krankenhausfälle pro Einwohner. In Dänemark beispielsweise wären es nur 13, in den Niederlanden und Island nur 11,5. Dies sei so, erklärt Augurzky, weil in diesen Ländern „ambulant und stationär immer zusammen gedacht“ werde. Dem aber stünden in Deutschland die unterschiedlichen Vergütungsmodelle entgegen, die „uns im Kopf das Denken erschweren“.
In diesem Zusammenhang ist nach Augurzky
auch der Strukturfonds zu sehen. Dieser sei angetreten, um mit dem Budget von einer Milliarde Euro – die Hälfte aus dem Gesundheitsfonds, die andere Hälfte aus Mitteln der Bundesländer – die vorhandenen Strukturen zu optimieren. Wobei es nach Meinung des RWI-Forschers eigentlich immer im Eigeninteresse eines jeden Krankenhauses liegen müsste, die eigenen Strukturen zu optimieren. So war denn auch der erste Strukturfonds gleich zweifach überzeichnet: Bis zum 30. Mai 2018 wurden 409 Millionen Euro aus dem Gesundheitsfondsanteil bewilligt, dazu kämen aber nochmal 400 Millionen aus Steuermitteln. Davon gingen die meisten Gelder nach Nord-rhein-Westfalen (101 Mio. Euro), gefolgt von Bayern (77) und Baden-Württemberg (64). 90 Prozent dieser Fördermittel sind nach Augurzkys Erkenntnissen für Konzentrationsmaßnahmen vorgesehen, was aber dreierlei sein kann: Konzentration, Umwandlung oder Schließung.
Mit letzterem geht es eher schleppend voran: Brutto waren es gerade einmal 5.300 Betten weniger; brutto deshalb, weil ein Teil der an einem Standort geschlossenen und abgebauten Betten an einem anderen Standort wieder aufgebaut wurden. Damit seien netto nur 2.800 Betten und 28 Standorte geschlossen worden. Umgerechnet und ausgegangen von der Bruttozahl kostet damit ein über den Gesundheitsstrukturfonds abgebautes Krankenhausbett etwa 155.000 Euro.
Doch das ist erst der Anfang. Das RWI hat schon vor einem Jahr berechnet, was der Übergang in eine Soll-Struktur insgesamt kosten würde. Wenn man Sachsen als Vorbildland bezüglich seiner Krankenhauslandschaft ansieht, müsste man den Worten Augurzkys zufolge 11 Milliarden Euro investieren, um die Krankenhausstruktur in allen Bundesländern zu optimieren. In Zahlen bedeutet das nicht weniger als die Schließung von 286 Standorten mit insgesamt 26.500 Betten. Augurzky: „Nun haben wir ja schon einmal eine Milliarde Euro über den ersten Strukturfonds genutzt, also würden ich sagen: zehn weitere wären nötig.“
Nur wenige Milliarden hat hingegen der Innovationsfonds zur Verfügung, zu dem Univ.-Prof. Dr. Holger Pfaff, der gewählte Vorsitzende des Innovationsfonds-Ausschusses vortrug und sich selbst die schwierige Frage stellte: „Was leistet die Förderung durch den Innovationsfonds für innovative Strukturen in der Regelversorgung?“ Zunächst einmal stellte Pfaff den Innovationsfonds als „dritten Baustein“ in der Förderung der Versorgungsforschung dar – nach der von der DFG unterstützten Grundlagen- und der vom BMBF geförderten anwendungsnahen Grundlagenforschung. Obwohl im Innovationsfonds zum großen Teil die anwendungsnahe Erforschung der Neuen Versorgungsformen (NVF) im Fokus stünde, müsse man nach Meinung von Pfaff die Versorgungsforschung immer mitdenken und als „praktisch Grundlage für die neuen Versorgungsformen“ begreifen. Pfaff: „Wenn wir in Zukunft Innovationen forscherisch begleiten möchten, brauchen wir im Hintergrund Professuren und Lehrstühle, die mit aufgebaut werden müssen.“ Da sei man zwar gerade dabei, doch müssten die Bemühungen intensiviert werden, denn – so Pfaff – „sonst kann es sein, dass wir bei den NVF eine Riesenwelle auslösen, aber zu schwach aufgestellt sind, um die Welle zu reiten“. Darum sei es dringend geboten, gleichzeitig und noch mehr als bisher die universitäre Versorgungsforschung auf- und ausbauen. Ein nützlicher Nebeneffekt sei aber schon jetzt bemerkbar: Durch die vielen gestellten und auch bewilligten Anträge an den Innovationsfonds würden die Kliniker auf einmal merken, dass Versorgungsforschung anscheinend „sehr wichtig“ ist. Nun brauche es nur noch die praktische Einsicht, dass man hier mehr Professuren vergeben muss, und nicht nur in dem biomedizinischen Bereich.
Insgesamt aber sieht er Deutschland schon auf dem richtigen Weg, zumindest auf dem ersten Schritten. Auf Dauer, so der Kölner Professor, brauchen wir „F&E im Bereich des Gesundheitswesens“; daran käme man einfach nicht mehr vorbei. Das sei jedoch keine Forschung & Entwicklung, wie sie in der Pharma- oder Medizintechnikindustrie seit langem fest etabliert sei, sondern „F&E für Innovation in Prozessen und Strukturen“. In einem derartigen Innovations-Strukturfonds aber müsste Deutschland auf Dauer viel mehr Geld reinstecken als bisher; und auch mehr als als in den bisher von 2017 bis 2020 mit 1,2 Milliarden Euro (plus 200 Euro p.a. in den folgenden Jahren) ausgestatteten Innovationsfonds.
Das Problem bei der Innovationsförderung an und für sich, ist nach Ausführungen Pfaffs indes ein eher systemimmanentes. Niklas Luhmann, der große Systemtheoretiker, habe einmal postuliert, dass es technische, organismische (hier medizinische), soziale und psychische Systeme gebe. Pfaff: „Man muss sich darum im Klaren sein, dass eine Versorgungsinnovation fast immer alle Systeme betrifft.“ Dies aber bedeute, dass man immer auch alle Systeme im Auge haben müsse und zudem das Ganze eine interdisziplinäre Angelegenheit zwischen Ingenieuren, Medizinern, Soziologen, Betriebswissenschaftlern und Psychologen ist. Was – und das vermisse man oft in Innovationsfondsanträgen oder integrierten Versorgungsplänen – „immer mitgedacht werden muss“. Denn jede Innovation werde und müsse in bestehende technische, medizinische, soziale und psychische System implementiert werden, wobei sich ein jedes System dagegen wehren kann. Doch werde, das erkläre hohe Drop-out-Raten und lange Umsetzungszeiten von Innovationen, meistens zu sehr in einer einzigen Systemkategorie gedacht, anstatt von vorneherein alle vier Ebenen der Systeme mitzudenken.
Das große Problem dabei: Wer alle vier Systeme mitdenken will, um ein umfassendes Gesamtbild einer Innovation zu bekommen, braucht viermal so viele Daten: biomedizinische, technische, psychosoziale und sozioökonomische. Pfaff: „Das alles ergibt eine beachtliche Komplexität, die erst einmal intellektuell geleistet werden muss.“ Wohl gemerkt: im Vorfeld!
Ist eine Innovation erst einmal positiv evaluiert, geht es ebenso komplex weiter. „Die große Herausforderung bei Innovationen ist, dass man sie nicht bloß vordenken, sondern sie nachher auch noch implementierten, in bestehende Organisationen einbauen muss“, legte Pfaff die zu überspringende Latte gerade für sektorübergreifende integrierte Versorgungsformen noch einen Tick höher. Und bei jedem Schritt, jeder Ebene geht immer etwas verloren (Abb. 1.), weshalb Systemtheroretiker zwischen Innovation und eingebauter Innovation, und damit zwischen reiner und realer Wirkung unterscheiden. Wobei offen bleibe, wie viel von der ursprünglichen Innovation beim Einbau eigentlich verloren geht und ob die intendierte Wirkung überhaupt noch erzeugt sein kann.
Darum, und daher präferiert er einen eigens dafür formulierten Translationsfonds, müsse man sich immer folgendes überlegen: „Wenn ein Projekt scheitert, kann es entweder an der Innovation selbst liegen, oder die Idee war gut, wurde aber schlecht implementiert.“ Nun aber sei im Gesetz (SGB V § 92a) formuliert worden, dass die positiv evaluierten Innovationsfonds-Projekte der Neuen Versorgungsformen in die Regelversorgung überführt werden müssen. Der damit intendierte Sprung in die Regelversorgung, sei ein Punkt, der – so Pfaff – „noch nicht so richtig durchdacht worden“ sei; inklusive von der tatsächlichen medizinischen Notwendigkeit, möglichen Alternativen mit demselben Nutzen und der Frage der Wirtschaftlichkeit. Pfaff: „Wenn man diese drei Kriterien, um in die Regelversorgung zu kommen, wirklich anlegt, sind das schon massive Hürden.“
Aber vielleicht sind die ja auch ganz normal. Zumindest nach Worten von Pfaff, der als Vorsitzender des Innovationsausschusses wohl als einziger den Überblick hat, und sagt: „Der Innovationsfonds trägt aus meiner Sicht zu einer evidenzbasierten und wettbewerbsorientierten Versorgungsentwicklung bei.“ Da über die Auswahl der Projekte Wettbewerb stattfindet, müsse es nun einmal auch Verlierer geben – anders wäre das ja auch kein Wettbewerb, sondern reine Subvention. Doch müsse man dem Innovationsfonds auch eine gewisse Lernerfahrung zugestehen, denn dieser sei doch selbst „seine eigene Sozialinnovation“. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis: Stegmaier, P.: „Auf der Spur von zwei Sozialinnovationen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (01/19), 24-25.; doi: 10.24945/MVF.01.19.1866-0533.2117