„Horizontale Integration der Leitstellen in der Fläche“
http://doi.org/10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2184
>> Wenn sich zwei Knowhow-Träger auf Augenhöhe in ein einem Experten-Interview untereinander austauschen, ist das schon ein Erlebnis und Erkenntnisgewinn an und für sich. So geschehen bei dem Fachgespräch zwischen Prof. Dr. Reinhard Busse, dem Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität in Berlin, und dem Sachverständigenrats-Vorsitzenden Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach anlässlich der DKVF-Plenarsitzung „Bedarfsgerechte Ausgestaltung der Notfallversorgung“. Wenn dann dieses interessante Format noch getoppt wird, umso mehr. Dies ermöglichte die anschließende Podiumsdiskussion, die das eben gehörte und vermittelte – aber eigentlich als bekannt vorauszusetzende – Wissen um das Sachverständigenratsgutachten 2018 zur „Bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung“ von der theoretischen auf die Realversorgungsebene brachte: Ausgewiesene Kenner des ambulanten Sektors (Dr. Dominik Graf von Stillfried vom Zentralinstitut der Kassenärztlichen Vereinigung), des Rettungsdienstes (Dr. Janosch Dahmen von der Berliner Feuerwehr) und der stationären Notaufnahme (Prof. Dr. Rajan Somasundaram von der Charité).
„Wir haben in den letzten Jahren be-obachtet, wie sich diese Gewichtungen verschoben haben“, gab von Stillfried in seinem Eingangsstatement einen Einblick in die Entwicklung der Notaufnahmezahlen der letzten Jahre. Als 2012 die Praxisgebühr abgeschafft worden sei, wären die Inanspruchnahmen sowohl im Bereitschaftsdienst als auch in den Notaufnahmen deutlich nach oben gegangen. Dies hätte mit einem leichten Anstieg bis zum Jahr 2015 angehalten, wobei ab 2016/17 im Bundesdurchschnitt ein Rückgang bei den Notaufnahmen entlassenen Fällen, jedoch in etwa gleicher Größenordnung ein Anstieg bei den Bereitschaftsdienstfällen zu beobachten gewesen sei. Das sei aus Sicht des Zi maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die seit dem Jahr 2013 existente gesetzliche Verpflichtung der KVen, in Krankenhäusern Portalpraxen und Bereitschaftsdienstpraxen einzurichten, auch umgesetzt wurde. Auch wären ab 2015 in den KVen Bereitschaftsdienstreformen erfolgt, was einen leichten Rückgang der Aufnahmezahlen im Bereitschaftsdienst erklären würde. Von Stillfried: „Wir haben gerade ganz aktuelle Zahlen aus den KVen bekommen, aus denen man erkennen kann, dass die Substitution der Notaufnahme durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst bei den Krankenhäusern, an denen mit der KV eng kooperierende Bereitschaftsdienstpraxen eingerichtet worden sind, eindeutig der Fall ist.“ Dass das funktioniere, zeigten von Stillfrieds Worten zufolge die Zahlen einer Minderheit von Krankenhäusern, die daran nicht teilnehmen, denn hier sei ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen gewesen.
Eine einzige Leitstelle für Berlin
Warum sei es denn überhaupt so, dass heute so viel mehr Leute den Rettungsdienst als noch vor drei Jahren anrufen würden. Das fragte Busse Dr. Janosch Dahmen von der Berliner Feuerwehr, die in Berlin eine wichtige Doppelfunktion inne hat: Zum einen betreibt sie selbst zu 70% den Rettungsdienst, zum anderen koordiniert und beaufsichtigt sie den Einsatz aller anderen Leistungserbringer, überwiegend den von Hilfsorganisationen und der Bundeswehr.
Anders als in anderen Teilen Deutschlands gebe es laut Dahmen in Berlin eine einzige Leitstelle, die zentral den Gesamtbereich der Notfallrettung steuert. Dies sei schon eine Besonderheit, wäre aber der Versorgungszuständigkeit von knapp vier Millionen gemeldeten und einer sehr hohen Zahl an Touristen und Besuchern geschuldet. Der Zuwachs der Inanspruchnahme der Notfallsystems sei indes kein Phänomen, das in Berlin und in Deutschland gleichsam zu beobachten sei, laut Dahmen „Zuwächse, die in teilweise ähnlich dramatischer Art eigentlich alle Rettungsdienstsysteme der westlichen Welt in den letzten Jahren beschäftigen“. Dies habe seiner Meinung nach weniger mit lokalen Phänomenen oder Gesetzgebungen zu tun, sondern mehr mit grundsätzlichen Veränderungsprozessen unserer Gesellschaften. Dahmen: „Wir erleben, ausgehend von sehr auto-
nom organisierten Gesellschaftsstrukturen vor 100 oder 200 Jahren, einen stärker werdenden Zergliederungsprozess. So wäre alleine in den letzten Jahren in Berlin ein Anstieg von Singlehaushalten auf 50 Prozent zu verzeichnen gewesen, was nichts anderes heißen würde, als dass jeder Zweite in der Stadt ohne unmittelbare Sozialstruktur im Wohnumfeld alleine wohnt. Dazu gebe es einen sehr starken Anstieg an älteren Menschen, die in überproportionalem Umfang alleine, einsam und oft auch arm in der Gesellschaft besonders vulnerable Gruppen darstellen würden. „Damit einhergehend sehen wir ein überproportionales Notrufaufkommen überall da, wo Netzwerkstrukturen gesellschaftlich in Auflösung begriffen sind oder nicht mehr so gut greifen wie in der Vergangenheit“, erklärte Dahmen.
Zu beobachten seien aber auch weitere Phänomene, bedingt durch Anreizmodelle und Zuständigkeitsfragen, die eine Verschiebung von Verantwortungsbereichen im Bereich der institutionellen Versorgung auslösen würden. Daher wünschte er sich, um der Verantwortung besser gerecht werden zu werden. „mehr Pfeile im Köcher“, weil zunehmend klarer werde, dass nur mit den beiden Angebotsformen Rettungswagen und Notarzt die nachvollziehbaren Erwartungen und Bedürfnisse Berlins nicht vernünftig außerhalb des Krankenhauses bedient werden könnten.
Auf die ergänzende Frage Busses hin, wer denn entscheide, in welches der 40 Berliner Krankenhäuser („das beste? „das nächste?“) ein Patient gefahren würde, antworte Dahmen mit einem Verweis auf eine in Berlin erstellte zentrale Matrix, in der nicht nur alle Kliniken registriert sind, sondern in der auch deren jeweils vorgehaltene Kapazitäten vorgehalten werden. Diese werde durch die Gesundheitsverwaltung als Aufsichts- und Planungsbehörde für die Krankenhausbedarfsplanung gemeinsam mit der Berliner Feuerwehr abgestimmt und regelmäßig aktualisiert. „Wir stehen als Land Berlin im Moment in dem Prozess, dass das bundesweit an verschiedenen Stellen schon eingesetzte webbasierte Interdisziplinäre Versorgungsnachweis-System IVENA eHealth für die Zuweisung von Notfallpatienten eingeführt wird“, gab Dahmen einen Blick in die nahe Zukunft. Dieses System sei jedoch nicht nur eine neue technische Grundlage, sondern verbunden mit einer Maßnahme, welche die Zuweisungskriterien deutlich verschärfen würde.
„Sie wollen mehr Pfeile im Köcher“, antwortete Gerlach Dahmens Ausführungen. Das wären zum Beispiele die im SVR-Gutachten vorgeschlagenen Akutpflege- und Akutpalliativ-Careteams. Auch bringe IVENA eine wichtige Ergänzung des Triage- oder Ersteinschätzungssystems. Doch müsse man
jenseits der Optimierung bestehende Fehl-anreize beseitigen. So werde fast überall in Deutschland ein Rettungswagen-Transport (RTW) nur dann bezahlt, wenn anschließend
eine SGB-V-Leistung erbracht werde, weshalb eben viele RTW-Transporte in der Klinik enden würden. Gerlach: „Und wenn die Patienten erst mal da sind, werden eben auch viele in den kleineren Häusern aufgenommen.“ Diese Fehlanreizkette gelte es zu unterbrechen, indem dem Rettungsdienst ein eigener Leistungserbringerstatus verliehen werde, was ihn in die Lage versetzt, vor Ort Behandlungen durchzuführen und vor allem Transporte als Leistung separat abzurechnen, aber immer mit einer SGB-V-
Leistung zu verknüpfen. Dann könnten RTW-Transport auch über IVENA in eine Partnerpraxis gesteuert und dort weiter behandelt werden.
Eines jener Krankenhäuser, die die Berliner Feuerwehr überproportional häufig anfährt, ist die Berliner Charité. Während, wie Busse vorrechnete, in einem durchschnittlichen deutschen Krankenhaus im Laufe von 24 Stunden rund 40 Patienten ankommen, laufen laut Prof. Dr. Rajan Somasundaram, Leiter der Charité-Rettungsstelle, bei den Maximalversorgern Berlins 80 bis 90.000 Patientenkontakte pro Jahr auf, was um die 250 Patienten pro Tag ausmacht. Doch dass diese Patienten stationär aufgenommen würden, sei pauschal nicht zu beantworten. „Die großen Zentren sind überhaupt nicht daran interessiert, jeden Patienten aufzunehmen“, erklärte Somasundaram. Das liege zum einen daran, dass es für einen Kardiologen sehr viel attraktiver sei, in einem hochkomplexen Eingriff eine elektive Klappe einzubauen, als einen Notfallpatienten mit einer dekompensierten Herzinsuffizienz zu rekompensieren. Zum zweiten sei, damit wäre man bei der Ökonomie, der zweite Fall weniger finanziell
attraktiv ist und passe vielleicht auch nicht zum Leistungsspektrum des jeweiligen Hauses.
Was, so Busse, schon den Verdacht nahelege, dass hier gewisse ökonomische Anreize mit eine Rolle spielen würden. „Da muss man sich nichts vormachen: Ja, natürlich“, antwortete darauf Somasundaram, natürlich spiele die Ökonomie eine Rolle. Doch eine sehr unterschiedliche, je nach Disziplin. So nehme die Pädiatrie nie mehr als zehn Prozent ihrer Patienten stationär auf, während es im Bereich der Inneren Medizin teilweise Aufnahmequoten von 60 bis 70 Prozent gebe. „Diese Patienten sind auch zum Teil schwerstkrank“, erläuterte Somasundaram. Dies sei auch der hohen Leistung der niedergelassenen Ärzte zu danken, die diese Patienten so lange stabilisiert hätten, bis es eben gar nicht mehr anders geht. Dann wäre aber auch die Krankenhausaufnahme dringend angezeigt. Daher lautete Somasundarams Bitte: „Lassen Sie uns doch nicht den Patienten dafür verantwortlich machen, dass er zu uns in die Notaufnahme kommt, nur weil er glaubt, ein Notfall zu sein.“ Dies sei schon auch Ausdruck eines gewissen Drucks, erzeugt aus Not und Unsicherheit, wobei man dennoch edukative Elemente und Steuerungsmechanismen benötige, um der Über-Inanspruchnahme entgegenwirken zu können.
„Wir brauchen die telefonische Ersteinschätzung, die Beratung und die Abklärung. Aber ebenso die Steuerung der bedarfsgerechten Inanspruchnahme“, antwortete Gerlach. Doch könne man nicht mit einer Maßnahme das System mal eben verändern, schon gar nicht eines mit drei Sektoren samt seiner über 100 Jahre gewachsenen Struktur. Gerlach: „Wichtig ist mir, dass wir ein Ziel haben, auf das wir zusteuern können und wir bei jeder Maßnahme fragen können, ob wir damit Ziel näher kommen oder uns davon entfernen.“
Zwei der im SVR-Gutachten erwähnten Vorschläge sind die Integrierten Leitstellen (ILS) und die Integrierten Notfallzentren (INZ). Der Unterschied zwischen beiden ist der, dass dort, wo ein entsprechend ausgebildetes Zentrum vorhanden ist, die adäquate Versorgung auch erbracht werden soll. Aber nach Meinung von Stillfried erst dann, wenn der tatsächliche Bedarf erfasst worden sei. So will die KBV ab kommenden Jahr auch die digitale Selbsteinschätzung anbieten, die nicht nur eine Onlineinformation sein soll, sondern eine Art Notfall-App, die 24/7 zur Verfügung steht. „Wo ich skeptisch bin, ist die Frage, ob wir tatsächlich unbedingt einen größeren Vorteil davon haben, wenn wir alles unter ein Dach über die integrierte Leitstelle organisieren“, schränkte von Stillfried ein. Er verwies auf das gute Beispiel der elektronischen Schnittstelle bei der Brandenburger Leitstelle zwischen den Notfallnummern 112 und 116/117 mit klar definierten Abgabepunkten. Dabei hätten die Leitstellen selbst definiert, wann ein Fall nach strukturierter Befragung erkennbar kein Unfall ist und damit an die 116/117 übergeben wird. Von Stillfried. „Es gibt gute Ansätze, an denen man sehen kann, dass gerade die Digitalisierung hilft, die Koordination
besser hinzubekommen.“
Eine ähnliche funktionale Trennung hätten die integrierten Leitstellen auch, in denen das Personal, das den eigentlichen Notfall bearbeitet, nicht dasselbe ist, das einen Akutfall behandelt. Der entscheidende Punkt seien jedoch bei beiden Ansätzen – unabhängig davon, ob ein gemeinsames Dach drüber ist oder nicht – immer klar definierte Übergabepunkte.
Aber 250 Leitstellen für Deutschland
Darum stehe im Gesetzentwurf auch „gemeinsame Leitstellen“ und nicht integrierte. Das habe aber mehr damit zu tun, dass im Behördenjargon mit „Integrierte Leitstellen“ die zwischen Feuerwehr und Polizei gemeint sind. Er sei ja schon mit einer Ersteinschätzung und Einsteuerung in die Versorgungs-ebene plus einer technischen Integration der Leitstellen zufrieden. Doch fände Gerlach es dennoch besser, wenn die Steuerung in einer Organisation erledigt wäre, weil das für gemeinsame Leitung, Qualitätsentwicklung, Monitoring und Evaluation einfach besser sei, als wenn die Verantwortung in zwei Hoheitsbereiche aufgeteilt bliebe.
Berlin sei da schon auf dem richtigen Weg und in gewisser Weise eine Besonderheit mit der bundesweit größten Leitstelle. Doch gebe es zum Beispiel in Hessen für die dort lebenden rund sechs Millionen Einwohner auf der KV-Seite zwei Leitstellen und auf der des Rettungsdiensts weitere 27 – in jedem Landkreis eine. „Damit haben wir bundesweit 250 verschiedene Rettungsleitstellen“, rechnete Gerlach vor. Er forderte: „Wir brauchen eine horizontale Integration der Leitstellen in der Fläche.“ Er weiß indes auch genau, dass das überall nicht einfach sein wird. Zufälligerweise kenne er die Leitstelle des Landkreises Diepholz genau und er wisse nicht, wie „die das überhaupt umsetzen wollen, was wir hier diskutieren“. Von daher gebe es noch eine Riesenaufgabe in den Flächenländern. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier
Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Horizontale Integration der Leitstellen in der Fläche“ (06/19), S. 18-21, doi: 10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2184