Neue Zusammenhänge erkennen
http://doi.org/10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2183
>> Die Digitalisierung erleichtert uns den Alltag. Von der Terminplanung bis zum Zurechtfinden in einer Stadt werden mehr und mehr Prozesse digital abgewickelt. Dies gilt auch im Gesundheitswesen. Hier kann Digitalisierung Angehörige der Heilberufe unterstützen und gleichzeitig sogar die Qualität der Arbeit erhöhen: Dokumentation im Schockraum über eine automatisierte Spracherkennung, CT-Bilder, die bei Operationen als Hologramm über den Patienten visualisiert werden können oder elektronische neuronale Bypässe, die die Beweglichkeit von gelähmten Menschen wiederherstellen. Alles Beispiele, die zeigen, dass mit Digitalisierung Eingriffe individueller auf die Patienten abgestimmt werden können. Daraus lassen sich neue Erkenntnisse und Methoden entwickeln, von denen vor wenigen Jahren noch niemand zu träumen gewagt hätte. Zudem bieten sich erhebliche Chancen, Abläufe im medizinischen Alltag effizienter zu machen und somit Zeit- und Personalressourcen zu schonen. Gleichzeitig werden in kaum einem Bereich so viele Daten generiert, so viele neue Erkenntnisse gewonnen, wie in der Medizin und den Lebenswissenschaften. Es gilt, diese Daten zu nutzen, zu bündeln, damit zu forschen und die Erkenntnisse wieder der Versorgung zugutekommen zu lassen. Bevor dazu immer neue Daten erhoben werden, ist es effizienter und kontrollierbarer, vorhandene Datenschätze zu identifizieren und auf rechtssicherem Weg der Forschung zur Verfügung zu stellen. Einen solchen Datenschatz stellen die bei den Krankenkassen lagernden, zu Abrechnungszwecken erhobenen Daten dar. Bereits in den vergangenen beiden Legislaturperioden hat das Bundesministerium für Gesundheit einen Grundstein gesetzt, die Versorgungsforschung zu erleichtern: Beim DIMDI wurde die Datenaufbereitungsstelle aufgebaut und die Forschung mit Sozial-
daten in § 75 SGB Zehntes Buch Sozialgesetzbuch erleichtert. Nun ist es an der Zeit, Sozialdaten der Krankenkassen (sog. Abrechnungsdaten) in einem breiteren Umfang und deutlich schneller als bislang für die Versorgungsforschung zugänglich zu machen. Daher soll die Datenaufbereitungsstelle beim DIMDI zum Forschungsdatenzentrum weiterentwickelt werden. Dazu sollen die Abrechnungsdaten in pseudonymisierter Form beim Forschungsdatenzentrum gesammelt, aufbereitet und gespeichert werden. Auf Antrag können dann anonymisierte und aggregierte Datensätze zu Forschungs- und Planungszwecken genutzt werden.
Ein denkbarer weiterer Schritt wäre, dass wir die Versicherten in Deutschland dazu befähigen, ihre Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Forschungsvorhaben zur Verfügung zu stellen. Bei einer Regelung zur sogenannten Datenspende geht es nicht darum, zu entscheiden, was wichtiger ist: Datenschutz oder Gesundheitsschutz, sondern wie Datenschutz und Gesundheitsschutz in einen interessengerechten Ausgleich gebracht werden können. Der Datenschutz ist als Ausfluss des grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ein hohes Gut, das es zu wahren gilt. Daher ist rechtlich wie technisch genau zu überlegen, wie ein rechtssicheres Verfahren der Datenspende aussehen kann. Dabei sollten die Patientin, beziehungsweise der Patient, stets im Mittelpunkt stehen, denn es sind ihre Daten, die im Hinblick auf ihre Person erhoben und nun unter Wahrung des Datenschutzes weiterverarbeitet werden sollen. Auf der anderen Seite hat aber auch die Gesellschaft ein berechtigtes Interesse an innovativen Produkten und Methoden, die die Gesundheitsversorgung verbessern können. Die größten Fortschritte erzielen wir aber dann, wenn wir uns im Hinblick auf die Datennutzung öffnen und einen Weg finden, der es Forschern erlaubt, unter Wahrung höchstmöglicher Datenschutzstandards Gesundheitsdaten auszuwerten. Die Datennutzung bietet uns bislang ungenutzte Möglichkeiten, ganz neue Zusammenhänge bei Krankheiten zu entdecken, neue Ansätze für Diagnose- und Therapieoptionen zu erforschen und die aktuelle Versorgung zu überprüfen und dabei z.B. Verfahren zu standardisieren, um Arzneimittel auszuschließen, die bei bestimmter genetischen Disposition keine Wirksamkeit entfalten oder um schlichtweg Nebenwirkungen zu verringern. Diese Chance sollten wir nicht ungenutzt lassen.
Die Zukunft der Medizin wird eine noch stärker datengetriebene Medizin sein. Das beste Beispiel dafür ist der Einsatz Künstlicher Intelligenz. Künstliche Intelligenz kann durch die Nutzung und Auswertung großer Datenmengen Ärztinnen und Ärzte bei der Entscheidung über Diagnosestellung und Therapiewahl unterstützen und dabei Therapien individueller und damit zielgerichteter am Patienten ausrichten. So können KI-Systeme bereits heute viel schneller und treffsicherer Tumore auf CT-Bildern erkennen und zum Beispiel anatomische Strukturen wie Rückenmark, Blutgefäße und Tumorgewebe markieren. Sogar Helligkeitsverteilungen innerhalb des Tumors lassen sich aufzeichnen, die mit bloßem Auge kaum auffallen. Auf diese Weise lassen sich Tumorzellen gezielter bestrahlen. Bei ausreichenden Bilddaten wird es künftig sogar möglich sein, Aussagen über Gewebemerkmale zu treffen, ohne eine Biopsie machen zu müssen. Künstliche Intelligenz soll und wird die Ärztin oder den Arzt dabei nicht ersetzen, sondern ihnen Zeit verschaffen und zu einer präziseren und persönlicheren Versorgung beitragen. Um Künstliche Intelligenz in der Gesundheitsversorgung so nutzbringend einsetzen zu können wie möglich, ist es entscheidend zu erfahren, welchen konkreten Nutzen welche KI-Anwendungen für wen haben und welche Herausforderungen es für einen breiten und vor allem sinnvollen Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen gibt.
Genau für diese Zwecke sind im Rahmen der KI-Strategie der Bundesregierung insgesamt 500 Mio. Euro zur Verfügung gestellt worden. Davon hat das Bundesministerium für Gesundheit 16,5 Mio. Euro erhalten, mit denen Projekte gefördert werden, die den konkreten Nutzen von Künstlicher Intelligenz für die Versorgung der Patientinnen und Patienten untersuchen. Die Projekte sollen rechtliche, technische, ökonomische, systemische und ethische Herausforderungen identifizieren, damit anschließend notwendige Maßnahmen ergriffen werden können, um den breiten und sinnvollen Einsatz von KI-Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen zu ermöglichen.
Wenn wir vom Einsatz von Künstlicher Intelligenz und von Datennutzung sprechen, können wir nicht an unseren Landesgrenzen Halt machen. Gerade in Bereichen wie der Krebsforschung, der personalisierten Medizin und der Bekämpfung seltener Erkrankungen ist eine Vernetzung der Datenhaltung innerhalb Europas sinnvoll.
So können wir die Datengrundlage erweitern und voneinander
profitieren. Deswegen möchte Deutschland mit der deutschen Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 die Weichen für einen gemeinsamen europäischen Gesundheitsdatenraum schaffen. Auf diese Weise können Register und Datenbanken europaweit vernetzt werden. Dies bietet eine zuverlässigere Grundlage für Forschungsvorhaben und hilft dabei, etwa auch bei seltenen Krebserkrankungen vergleichbare Fälle zu entdecken, Versorgungswege zu optimieren und neue Therapien zu entwickeln. Gemeinsam mit unseren Partnern in den anderen Mitgliedstaaten wollen wir an einem gemeinsamen Verständnis zur Datennutzung im Gesundheitswesen arbeiten. Damit wollen wir bei der Entwicklung von KI-Anwendungen wettbewerbsfähig bleiben und einen wertebasierten und patientenwohlorientierten europäischen Weg der Datennutzung etablieren. Auch hier benötigen wir perspektivisch gemeinsame Qualitätskriterien zur Überprüfung von KI-Anwendung. So bleibt Europa gegenüber den USA und China wettbewerbsfähig. Wir sind davon überzeugt, dass eine stärkere Vernetzung international wie national neue Erkenntnisse, Innovationen und Verfahren hervorbringen kann, von denen wir alle profitieren werden können. <<
Zitationshinweis:
Gebhart, T.: „Neue Zusammenhänge erkennen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/19), S. 14-15, doi: 10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2183