HIV: Von einer tödlichen zur chronischen Erkrankung
http://doi.org/10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2083
>> Anfang der 80er Jahre traten in den USA erstmals atypische Pneumonien und seltene Formen von Hautkrebs in einer ungewöhnlichen Häufigkeit auf. Waren die Symptome primär bei bestimmten Risikogruppen zu beobachten, wurden die Krankheitsbilder schon bald in allen Teilen der Bevölkerung diagnostiziert. 1982 bekam der Immundefekt den Namen „Acquired Immune Deficiency Syndrome“ (erworbenes Immunschwäche-Syndrom), kurz AIDS. Die Erkrankung AIDS wird durch eine Ansteckung mit dem HIV-Erreger (Human Immunodeficiency Virus) verursacht. Das Virus vermehrt sich in den CD4-Helferzellen, die die Immunabwehr steuern, und zerstört diese letztlich. Mit dem progredienten Abfall der CD4-Zellzahl im Blut steigt das Risiko opportunistischer Infektionen dramatisch an. Bei unbehandelter HIV-Infektion beträgt die mediane Überlebenszeit von der Erstinfektion bis zum Auftreten von AIDS ca. 10 Jahre, danach noch ca. 18 Monate. Über einen Zeitraum von 20 Jahren liegt die Mortalität der HIV-Infektion ohne Behandlung bei nahezu 100% (vgl. Der Allgemeinarzt, 2014). Ein rechtzeitiger Therapiebeginn geht hingegen mit einer nahezu fast normalen Lebenserwartung einher.
Grundlage der HIV-Therapie ist die Verhinderung der Vermehrung des Virus im Körper. Einige der antiretroviralen Arzneimittel fangen das Virus ab, wenn es in die Zelle eintreten will. Andere verhindern, dass HIV sein Erbgut einbaut und somit die Zelle steuern kann. Wieder andere sorgen dafür, dass die Zelle keine neuen Viren produziert. Aufgrund der hohen Mutationsrate werden stets verschiedene Medikamente gleichzeitig eingesetzt, weshalb man von einer HIV-Kombinationstherapie spricht (vgl. Deutsche Aidshilfe, 2019). So kombinieren die pharmazeutischen Hersteller zunehmend zwei, drei und mittlerweile auch vier Substanzen in einem Präparat zur einmal täglichen Einnahme. Ziel ist die Vermeidung von Resistenzen, welche durch eine optimale Einnahme der antiretroviralen Medikamente einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg einer HIV-Therapie ist.
Der Beginn der HIV-Therapie
Das erste Arzneimittel im Kampf gegen HIV war Zidovudin, ein nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor, der 1987 auf dem deutschen Markt eingeführt wurde. Die Monotherapie führte jedoch schnell zu Therapieversagen durch Resistenzen, so dass die Kombination zweier Nukleosidanaloga als wirksamer erachtet wurde. Nach dem 1996 eingeführten zweiten wichtigen Vertreter dieser Gruppe, dem Lamivudin, erfolgte der erste therapeutische Durchbruch mit der neuen Wirkstoffklasse der Protease-Inhibitoren wie bspw. Ritonavir. Durch die Kombination mit zwei anderen Wirkstoffklassen kommt es zu einer Erhöhung der Wirkstärke, was als sogenannte hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) bezeichnet wird. Anfang 1998 wurde mit Nevirapin eine dritte Wirkstoffklasse, die nicht-nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren, eingeführt. Damit standen für Patienten die ersten Therapieoptionen zur Verfügung, wobei trotz einmal täglicher Dosisgabe von Nevirapin und einer deutlich gestiegenen Auswahl bei der Kombinationstherapie, die Anzahl der täglich einzunehmenden Tabletten weiterhin sehr hoch war (vgl. Ärztezeitung). Werden die Absätze im Pharma-Großhandel dieser frühen HIV-Medikamente über den Zeitraum der letzten 10 Jahre betrachtet, lassen sich Trends in der Therapie ableiten. Die 12 Monosubstanzen, die zwischen 1987 und 1999 auf den deutschen Markt kamen, werden zum Teil noch in einer Kombinationstherapie verordnet. Jedoch hat sich die Abgabe von 20,1 Mio. Standardeinheiten (SE = Umrechnung der Packungen in z.B. Einzeltabletten, Einzelampullen, etc.) in 2008 auf 7,4 Mio. im letzten Jahr reduziert. Nur die Monosubstanzen Nevirapin und Ritonavir, welches mittlerweile in niedriger Dosierung als Booster genutzt wird, haben weniger als 30% verloren (Quelle: NPI – 10 Jahre, INSIGHT Health).
Die HIV-Therapie ab der
Jahrtausendwende
Der nächste Betrachtungszeitraum umfasst die Medikamente, die zwischen 2001 und 2008 in den deutschen Markt eintraten. Die Zulassung für die erste Dreifachkombination aus Abacavir, Lamivudin und Zidovudin fand im Jahr 2001 statt. Im Folgejahr wurde Tenofovir in der EU zugelassen, das stets in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln angewendet wird. 2003 erhielt mit Enfuvirtid der erste Fusionshemmer, der das Verschmelzen der Zellmembran mit dem Virus verhindert, die Zulassung. Unabhängig vom Markteintritt neuer Substanzen setzte sich ab 2007 das Single-Tablet-Regime, das ein Kombinationspräparat mit drei antiretroviralen Wirkstoffen und gegebenenfalls einen Booster beinhaltet, zunehmend durch (vgl. Deutsche Apotheker Zeitung). Für Patienten stellt die einmal tägliche Einnahme eine wesentliche Therapievereinfachung dar. Ebenfalls 2007 wurde der Proteasehemmer Darunavir eingeführt, hinzu kam der erste Integrase-Inhibitor Raltegravir im Jahr 2008. Beide Substanzen sind feste Bestandteile der HIV-Therapie und wachsen von jeweils über 700.000 Einheiten in 2008 auf mehr als 2 bzw. 4 Mio. SE im Jahr 2018 (Quelle: NPI – 10 Jahre, INSIGHT Health).
Eine weitere Dreifachkombination aus Efavirenz, Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil als Single-Tablet-Regime kam 2008 auf den Markt. In dieser Zeit bekamen der erste CCR5-Hemmer Maraviroc sowie der nicht-nukleosidische-Inhibitor der zweiten Generation Etravirin ihre Zulassung. In den letzten 10 Jahren verringerte sich der Absatz der zwischen 2001 und 2008 eingeführten Substanzen um 2,1 Mio. auf 21 Mio. SE. Die rückläufigen Zahlen können die Folge von Neueinführungen sein, in denen z. T. einzelne innovative Substanzen in den Kombinationen ersetzt oder ergänzt werden. Als Beispiel sind Kombinationen von Tenofovirdisoproxil mit Efavirenz und/oder Emtricitabin zu nennen, die von 2008 bis 2014 ihren Absatz auf 9,9 Mio. SE vergrößern konnten. Letztlich hat sich der Absatz aber in den letzten vier Jahren halbiert, da Tenofovir zunehmend in anderen Kombinationen auf den Markt kam (Quelle: NPI – 10 Jahre, INSIGHT Health).
Marktentwicklung von
Kombipräparaten ab 2012
In den letzten Jahren dominieren die Kombipräparate mit drei und vier Wirkstoffen deutlich. So kam 2012 die Dreifachkombination Emtricitabin + Rilpivirin + Tenofovirdisoproxil (NNRTI + NRTI) erstmals auf den deutschen Markt. Ein Jahr später folgte mit Elvitegravir + Cobicistat + Emtricitabin + Tenofovirdisoproxil (InI + NRTI) die erste Vierfachkombination. 2016 dann der Markteintritt eines weiteren Single-Tablet-Regimes mit den vier Wirkstoffen Tenofoviralafenamid, Emtricitabin, dem Integrasehemmer Elvitegravir sowie dem Wirkverstärker Cobicistat (InI + NRTI). Wie in Abbildung 1 dargestellt, wächst der Markt der InI + NRTI bis 2018 auf 7,5 Mio. SE an, wobei alleine die Vierfachkombination mit Tenofoviralafenamid einen Anteil von fast 50% ausmacht. Seit 2017 steht eine weitere Vierfachkombination aus PI + NRTI zur Verfügung: Darunavir + Cobicistat + Emtricitabin + Tenofoviralafenamid. Die in 2018 zugelassene Substanz Bictegravir verzichtet auf den pharmakogenetischen Booster, wird momentan nur in Kombination mit Emtricitabin und Tenofoviralafenamid vermarktet (InI + NRTI) und konnte von Juni bis zum Jahresende 2018 einen Absatz von mehr als 850 Tsd. SE verzeichnen.
Der Markt im Überblick
Derzeit stehen für die antiretrovirale Therapie in Deutschland rund 110 Arzneimittel basierend auf 28 verschiedenen Substanzen aus sechs verschiedenen ATC-Klassen zur Verfügung. Im Jahr 2018 entfällt auf die ATC-Klasse J05C 2,2% des Gesamtumsatzes (nach ApU) im deutschen Apothekenmarkt, was insgesamt 762 Mio. Euro entspricht. Gegenläufig dem Trend steigender Umsätze im deutschen Pharmamarkt haben sich diese im HIV-Markt um 1,8% reduziert. In der 10-Jahres-Verlaufsbetrachtung des gesamten HIV-Marktes (ATC J05C) steigen die Absätze von 47 Mio. SE im Jahr 2008 auf mehr als 54 Mio. in 2013. In den Folgejahren zeigt sich eine kontinuierliche Abnahme bis auf ca. 46 Mio. SE in 2018 (Quelle: NPI – 10 Jahre, INSIGHT Health). Da, wie erwähnt, neue Kombinationstherapien zunehmend ihren Einsatz finden, ersetzten sie teilweise die Monotherapien, so dass als Folge die Anzahl der abgegebenen SE sinkt.
Wie Abbildung 2 verdeutlicht, zeigt die Betrachtung der HIV-Teilmärkte einen Anstieg des J05C5-Marktes auf 15%, wobei sich hierunter nur zwei Substanzen finden: Raltegravir und Dolutegravir, welches erst 2014 eingeführt wurde. Starke Veränderungen sind zudem im Markt der Protease-Hemmer festzustellen. Hier reduziert sich der Anteil am gesamten HIV-Markt an abgegebenen SE in 10 Jahren von fast 50% auf 17%.
Grund dafür sind die zahlreichen Monosubstanzen in diesem Teilmarkt, die deutlich weniger eingesetzt werden oder in neueren Kombipräparaten in eine andere ATC-Klasse wechseln. Der J05C9-Markt wächst rasant, erreicht in 2018 einen Anteil von 27% und besteht überwiegend aus Kombipräparaten mit zwei, drei und vier Wirkstoffen, die fast alle ihren Markteintritt in den letzten 5 Jahren hatten.
Fazit und Ausblick
Die Therapie einer HIV-Infektion hat sich im Laufe der Jahre stark verändert. Mussten zunächst eine große Anzahl von Medikamenten täglich eingenommen werden, so kann heute ein Kombinationspräparat den Virus in Schach halten. Die neuen antiretroviralen Arzneimittel wirken nicht nur besser, sie sind auch verträglicher (vgl. Haas, 2017). Auch die durchgeführten Marktanalysen verdeutlichen die zunehmende Dominanz dieser Gruppe in den letzten 10 Jahren. Die bisher durchgeführten Studien zur Steigerung der Adhärenz durch Single-Tablet-Regimes haben ebenfalls nachweisen können: Je einfacher und nebenwirkungsärmer die antiretrovirale Therapie, umso höher die Adhärenz der Patienten (vgl. Paetsch, 2015). Während die Suche nach einem Heilmittel gegen das Virus weitergeht, ist die Forschung parallel dazu bestrebt, komplexe Therapieregime zu vereinfachen und nebenwirkungs-
ärmere Präparate zu entwickeln. Noch müssen HIV-Medikamente täglich eingenommen werden, dies soll sich mit langwirksamen intramuskulären Injektionen ändern, die sich derzeit in klinischen Studien befindet. Neben der Verbesserung der komplexen Kombinationstherapien ist die größte Herausforderung die frühzeitige Diagnose der HIV-Infektion. Hier gibt die aktuelle Neuerung der Einführung eines Selbsttests für zu Hause Hoffnung. <<
Autorinnen: Esther Zöllner/Kathrin Pieloth*
Zitationshinweis:
Zöllner, E., Pieloth, K.: „HIV: Von einer tödlichen zur chronischen Erkrankung“, in: „Monitor Versorgungsfor-
schung“ (02/19), S. 14-15; doi: 10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2083