Bei jedem Masterplan des Gesundheitswesens muss gelten: Wissenschaft vor Wirtschaft
http://doi.org/10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2178
>> Umgangssprachlich wird Sicherheit wie ein objektiver Zustand empfunden. Die Politik spricht von Sicherheit, wir diskutieren über Arzneimittelsicherheit und nutzen im Straßenverkehr Sicherheitsgurte. Aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei Sicherheit jedoch nicht um einen objektivierbaren Zustand: Sicherheit ist die subjektive Wahrnehmung objektiver Risiken (2, 3). Mit der Sicherheitsschleife (safety loop) haben wir dargestellt (Abb. 1), dass eine bedeutende Beziehung zwischen dem subjektiven Empfinden objektiver Risiken, d.h. der „Gefühlten Sicherheit“ und dem Effekt dieser subjektiven Empfindung auf die Veränderung von objektiven Risiken besteht (4, 5). Abb.1 erklärt, dass die Kommunikation (verbal oder non-verbal) die bedeutendste Stellschraube für die Wahrnehmung objektiver Risiken ist. Damit wird die Bedeutung der Sicherheitsschleife für die Diskussion von Geschäftsmodellen im Gesundheitssystem klar. Da alleine die Bewerbung des Geschäftsmodells „Gefühlte Sicherheit“ vermittelt und diese Wahrnehmung das objektive Risiko des Patienten beeinflusst, wird klar, dass gesundheitliche Risken zunehmen, wenn die Aussagen eines Geschäftsmodells nicht zutreffen.
Das entstehende Dilemma beruht auf dem Fehlen einer akzeptierten Methode zum Nachweis der Alltagstauglichkeit (Real World Effectiveness). International wird die Ansicht vertreten, dass Randomized Controlled Trials (RCT) die besten Verfahren sind, um valide Daten im Gesundheitssystem zu erheben. Diese Aussage trifft für den Nachweis der „efficacy“, d.h. dem „proof of principle“ zu, allerdings nicht für den Nachweis der Alltagstauglichkeit. Unter den experimentellen Bedingungen eines RCT werden alle bekannten Stör- oder Risikofaktoren durch die Definition der Ausschlusskriterien gezielt vermieden. Damit lässt sich der proof of principle erbringen, nicht aber der Versorgungsalltag abbilden, weil Stör-und Risikofaktoren Teil des Versorgungsalltags sind.
In der letzten Dekade haben wir mit verschiedenen internationalen Gruppen ein System erarbeitet, das Pragmatic Controlled Trial (PCT), mit dem Effekte verschiedener Interventionen unter Alltagsbedingungen (ohne Randomisation) miteinander verglichen werden können (6, 7, 8). Das Verfahren beruht auf dem Bayes Theorem, das verfügbare Informationen nutzt, um eine Hypothese Schritt für Schritt zu bestätigen. Im zweiten Weltkrieg wurden Schlachten gewonnen und ein Geheimcode (Enigma) durch Anwendung dieses Theorems entziffert (9). Somit war das Theorem des presbyterianischen Pastors und Mathematikers Thomas Bayes (1701-1761) die erste Methode, mit der lange vor Entwicklung der Randomisation bereits gezeigt werden konnte, dass sich Koinzidenzen sehr wohl eignen, um durch eine intelligente Nutzung kausale Zusammenhänge abzuleiten (10).
Diese nicht-experimentellen Methoden sind zwingend erforderlich, um „big data“ zu analysieren. Wenn Prognosen zu Analysen verbreitet werden, wird häufig vergessen, dass „big data“ lediglich ein „charmantes natürliches Chaos“ darstellen: Jeder Patient unterscheidet sich von allen anderen und nahezu keine Therapie ist mit einer anderen absolut identisch. Deshalb besteht die erste Herausforderung darin, bei der Analyse von „big data“ zunächst Algorithmen zu entwickeln, mit welchen Patienten und auch die Interventionen in weitgehend homogenen Gruppen für spätere Vergleiche zusammengefasst werden können. Dazu muss eine exakte Fragestellung in eine Sprache übersetzt werden, die von Computern verstanden wird.
Im Februar 2018 haben wir im Deutschen Ärzteblatt beklagt (11), dass die Entscheidungsträger im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) die Bedeutung der Alltagstauglichkeit (effectiveness) von Gesundheitsleistungen nicht anerkennen (12). In der Erwiderung auf unseren Kommentar wären sachliche Argumente hilfreich gewesen, um unsere eigenen Aussagen nochmals zu überdenken (11). Das Institute of Clinical Economics (ICE) e.V. hat sich auf die Fahne geschrieben, Methoden zu entwickeln und zu verbreiten, mit welchen der Mehrwert von Gesundheitsleistungen unter Alltagsbedingungen gesteigert und beschrieben werden kann (www.clinical-economics.com). Wir suchen Partner, die uns mit fundierten wissenschaftlichen Beiträgen unterstützen, um wissenschaftlich fundierte Kommentare zum Masterplan des Gesundheitssystems abgeben zu können, bevor wirtschaftliche Konzepte diskutiert werden. Dazu haben wir die Unterschiede von Wissenschaft und Wirtschaft aus unserer Perspektive zusammengestellt.
Der Unterschied von Wissenschaft und Wirtschaft
Wirtschaft und Wissenschaft sind gleichbedeutend. Wirtschaft wird
durch Wissenschaft gerechtfertigt und Wissenschaft wird durch die Wirtschaft finanziert. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist unvermeidbar, aber nicht unproblematisch. Durch die Umkehr der asymmetrischen Beziehungen können wirtschaftliche, aber keine Ziele die Gesundheitsversorgung erreicht werden. Soweit nicht gekennzeichnet, haben wir in Tab. 1 eigene Definitionen verwendet, weil es für die verwendeten Termini keine einheitlich akzeptierten Definitionen gibt.
Das bisher nicht erreichte Ziel sollte sein, für die Definition unterschiedlicher Inhalte auch unterschiedliche Termini zu finden.
Zwei aktuelle Hinweise unterstützen die dringende Empfehlung, wirtschaftliche Konzepte mit belastbaren Daten zu unterstützen: Nicht überall, wo „Wissenschaft draufsteht, ist Wissenschaft drin“. John Ioannidis von der Stanford Universität hat dazu eine ganze Serie beachtenswerter Aufsätze geschrieben. Seine Arbeit aus dem Jahr 2005 „Why most published research findings are false (13) gehört zu den meistzitierten Publikationen. Das Magazin „Stern“ hat in der Ausgabe Nr 37, vom 5. September 2019 einen Ärzte-Appell gegen das Diktat der Ökonomie in unseren Krankenhäusern unter dem Titel „Rettet die Medizin“ publiziert, der initial von 215 Ärzten als Einzelpersonen und 19 Organisationen unterzeichnet wurde. Der Apell enthält drei Forderungen:
• „Das Fallpauschalensystem muss ersetzt oder zumindest grundle-gend reformiert werden.
• Die ökonomisch gesteuerte gefährliche Übertherapie sowie Unter-versorgung von Patienten müssen gestoppt werden. Dabei bekennen wir uns zur Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns.
• Der Staat muss Krankenhäuser planen und gut ausstatten, wo sie wirklich nötig sind. Das erfordert einen Masterplan und den Mut, mancherorts zwei oder drei Kliniken zu größeren, leistungsfähigeren und personell besser ausgestatteten Zentren zusammenzuführen.“
Dieser Appell wird sich nur unter sozial verträglichen Bedingungen umsetzen lassen. Niemand wird ihn unterstützen, wenn sie/er verunsichert wird. Der Appell wird von allen Patienten, bei welchen ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient besteht, uneingeschränkt unterstützt werden. Neben diesen Rahmenbedingungen sind die Voraussetzungen zu schaffen, die bereits in den nachfolgenden sieben Diskussionspunkten angesprochen wurden (1). Wir unterstützen einen Teil dieser Statements und begründen unseren Standpunkt, sofern er abweicht.
Die sieben Diskussionspunkte des BMC
1. Erstattung digitaler Anwendungen
Wenn für Arzneimittel und digitale Gesundheitsanwendungen ähnliche Auflagen gelten sollen, ist zumindest mit der Kostenerstattung der letzteren der Nachweis des Mehrwerts zu fordern, der durch die Verfügbarkeit dieser Gesundheitsanwendung entsteht.
2. Erweiterung der Zugriffsberechtigung auf die Telematik Infrastruktur
Diese Forderung ist zu unterstützen, wenn die Opportunitätskosten der zusätzlich finanzierten Leistungen, z.B. von Managementgesellschaften oder Patientenedukation, den zu erwartenden Mehrwert nicht nur versprechen, sondern nachweisen.
3. Weiterführung des Innovationsfonds
Mit diesem Punkt wird beklagt, dass die Begrenzung der Förderung auf 15 Vorhaben einer unklaren Logik folgt: Kleinere Projekte sollen einen vergleichbaren Erkenntnisgewinn wie größere erzielen können. Die Aussage, dass die angestrebten Fallzahlen häufig nicht erreicht werden und die fehlende Beschreibung erreichter Problemlösungen fehlt, ist erheblich bedeutender.
Die Aussage, dass durch die Anwendung eines anderen Studien-designs geringere Fallzahlen erforderlich seien, wäre mit konkreten Daten belegt worden, wenn den Autoren dieses Satzes dessen Tragweite bewußt gewesen wäre.
Ausdrücklich unterstützen möchten wir den Vorschlag, die themen-offenen Beiträge und die Laufzeit der Projekte nicht zu begrenzen. Aus Sicht des ICE e.V. sollte jeder Vorschlag - für einen Fachexperten verständlich – auf maximal einer Seite beschreiben
a) welches Versorgungsproblem mit dem beantragten Projekt gelöst wird,
b) welche Daten und Methoden dazu benötigt werden und
c) durch welche Hinweise die Machbarkeit des Projekts bestätigt werden kann.
Fakten sind von Erwartungen durch Literaturzitate zu unterscheiden. Wenn allgemein bekannte Literaturzitate verwendet werden, verkürzt sich die Bearbeitungsdauer durch den Verzicht auf die Prüfung der Validität.
Wenn genehmigte Projekte allerdings nicht nur in Ausnahmefällen, z.B. wegen unzureichender Rekrutierung, scheitern, sind Mängel bei der Begutachtung zu hinterfragen, weil von einem Fachgutachter erwartet werden kann, diese Mängel zu erkennen, die im Falle eines Studienabbruchs nahezu immer ethische und wirtschaftliche Probleme bedingen.
Als erheblicher Mangel in der Begutachtung wird empfunden, wenn Projekte, die mit hohem Aufwand konzipiert wurden, ohne wissenschaftliche Begründung abgelehnt werden. Es entstehen erhebliche Zweifel, ob tatsächlich ein Peer Review angewandt wurde. Zudem sinkt bei unbegründeter Ablehnung die Motivation, sich an einer weiteren Ausschreibung zu beteiligen.
Wenn eine Weiterführung des Investitionsfonds vorgesehen ist, sollten:
• bei jedem Projekt die oben genannten Punkte a – c von einem Fachexperten beurteilt werden.
Wenn keine Mängel vorliegen, kann das Projekt auf die Liste der potentiell geförderten Projekte übernommen werden:
• bei bestehenden Mängeln sollte vermerkt werden, ob diese korrigierbar sind.
• bei nicht korrigierbaren Mängeln werden diese zur Begründung der wissen-schaftlichen Ablehnung des Projekts genannt. Die nachvollziehbare Begründung schließt eine Förderung in der laufenden Antragsphase aus. Die Absage kann mit Begründung sofort erfolgen.
• bei korrigierbaren Mängeln werden Vorschläge zur Optimierung unterbreitet. Wenn diese fristgerecht nachgereicht werden, wird das Projekt auf die o.g. Liste gesetzt; andernfalls erfolgt eine Absage.
Beide Entscheidungen werden mit Angabe der Gründe publiziert. Die potentiell förderungswürdigen Projekte werden in einer Liste anhand der bestehenden Interessenskonflikte geordnet. Interessenskonflikte sind im Bereich der Versorgungsforschung leicht zu erkennen und zu benennen.
4. Kompetenzen der Geschäftsstelle
Die Versorgungsforschung ist ein relativ junges, lernendes Forschungsgebiet. Die Geschäftsstelle sollte deshalb in der Lage sein, Fehler bei der Konzeption oder der Umsetzung eines Projektes sowie bei der Evaluation und Interpretation der Daten zu erkennen. Wenn eine Idee förderungswürdig erscheint, könnte die Effizienz des gesamten
Förderprogramms erheblich gesteigert werden, wenn alle verfügbare Expertise aufgeboten würde, um die erkannten Mängel zu beseitigen, solange sie noch korrigierbar sind. Es entstünde eine völlig neue Kultur der Projektförderung, welche die bereits bei der Antragstellung investierten Ressourcen nützen würde.
Das bisher übliche Verfahren, nicht geförderte Projekte ohne Begründung lediglich durch Mitteilung der negativen Entscheidung zu informieren, wird dem Aufwand nicht gerecht, den die Projektgruppen in die Antragstellung investiert haben
Es könnte überlegt werden, an Stelle von 15 Projekten, die über vier Jahre gefördert werden, eventuell 20 Projekte über zwei Jahre zu fördern, um nach zwei Jahren jene 10 Projekte auszuwählen, welche die meisten der präzise beschriebenen und konsekutiv abgearbeiteten Meilensteine erreicht haben. Diese 10 erfolgreichen Projekte werden über weitere zwei Jahre gefördert. Die verbleibenden 10 Projekte können je nach Fortschritt eine Förderempfehlung erhalten, und beim Nachweis belastbarer Ergebnisse sehr wahrscheinlich einen Sponsor finden.
Das überschaubare Feld der Versorgungsforschung könnte in Deutschland durch eine Professionalisierung der Förderungsstrategie erheblich erheblich transparenter und effizienter werden. Wenn Wissenschaftler, die in ihrer bisherigen Profession mit Wissenschaft, aber kaum mit Geschäftsmodellen zu tun hatten, die geeignetsten Geschäftsmodelle auszuwählen haben, ist zu befürchten, dass als Ergebnis dieses Selektionsverfahrens einige gute wissenschaftliche Projekte, aber kaum gute Geschäftsmodelle gefördert werden.
5. Standardisierung der Evaluation
Die in diesem Punkt geforderte Standardisierung der Evaluation trifft zielsicher den Kern des Problems, verwässert ihn aber durch ungeordnete Vorschläge zu den Details. Am Beginn jeder Innovation steht eine Idee. Diese ist in eine konkrete Fragestellung zu überführen. Nur wenn die Mehrzahl aller Leser aus der gewählten Formulierung einer Fragestellung dasselbe Projektziel (objective) erkennt, ist die Fragestellung hinreichend präzise formuliert. Aus präzisen Fragestellungen sind geeignete Endpunkte abzuleiten, die im Projekt gemessen werden. Wer Endpunkte misst, ohne die Risiken zu berücksichtigen, die im Versorgungsalltag einen oder mehrere der gemessenen Endpunkte verzerren können, wird am natürlichen Chaos des Versorgungsalltags verzweifeln
Mit der Wahl der Endpunkte beginnt die Qual, die geeignete Nachweismethode zu finden. Wir würden den Rahmen dieser Diskussion sprengen, wenn wir differenzierten, dass die Sensitivität und Spezifität der Nachweismethode nur die ersten beiden Eingangskriterien bei der Wahl des geeigneten Tests sind. Die klinische Relevanz des Testergebnisses wird deutlich, wenn sich nachweisen lässt, dass im Versorgungsalltag die weitere Konsequenzen unabhängig von erzielten Testergebnis abgeleitet werden.
6. Überführung von Innovationen in die Regelversorgung
Diese Entscheidungen sind immer von unterschiedlichen Wertvorstellungen geprägt und können deshalb nicht durch die Wissenschaft alleine gelöst werden – aber sicher auch nicht ohne sie.
7. Vermeidung von Interessenkonflikten des Systems
Die Förderung von Versorgungsinnovationen sollte ebenso einer Prüfung von Interessenskonflikten unterliegen wie die Diskussion über ein „free lunch“; es ist nicht sinnvoll, über die Konsequenzen eines Süppchens mit „G’schmäckle“ öffentlich zu diskutieren, aber die Fehlentscheidungen bei Finanzierung nicht durchführbarer Projekte in Millionenhöhe unter den Teppich zu kehren. Handeln & Haften sind auch bei der Vergabe von von Fördermitteln notwendig.
Bei all dem hat zu gelten: Die Optimierung der Gesundheitsversorgung lässt sich nicht an erfolgreichen Geschäftsmodellen, sondern an der Reduktion von Gesundheitsproblemen (Patient and Society Reported Outcomes) erkennen. <<
Zitationshinweis:
Porzsolt, F., Becker, S.: „Bei jedem Masterplan des Gesundheitswesens muss gelten: Wissenschaft vor Wirtschaft“ (05/19), S. 40-43; doi: 10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2178