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„Versorgungsforschung muss aktiver werden“

Wohl zum ersten Mal in Deutschland stiftet ein Dienstleister einen Lehrstuhl. Dieser soll sich mit dem Themenkreis „Multimedikation und Versorgungsforschung“ beschäftigen und ist am Institut für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt angesiedelt. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit der Lehrstuhlinhaberin, Prof. Dr. Marjan van den Akker, dem Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, und dem Stifter, Roland Lederer von INSIGHT Health.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2167

>> Herr Lederer, dass Unternehmen Stiftungslehrstühle ins Leben rufen, ist zwar selten, aber nichts Ungewöhnliches. Wenn das allerdings ein Dienstleister tut, hat das ausgesprochenen Seltenheitswert. Was hat Sie bewogen, eine derart langfristige Investition zu tätigen?
Wer, wie ich, fast das ganze Leben lang mit Daten gearbeitet hat, fragt sich eines Tages: Was hat es gebracht? Welcher Nutzen wurde gestiftet? Und vor allem: Welchen tieferen Sinn hat das Ganze? Ich für meinen Teil habe mir selbst die Antwort gegeben, dass Daten an sich keinen großen Wert haben, sondern nur das, was man aus ihnen macht und welche Erkenntnisse man aus ihnen zieht. Diesen Ansatz verfolgen wir seit Jahrzehnten bei unseren Kunden aus allen Bereichen des Gesundheitssystems und unterstützen sie mit individuellen Lösungen auf Basis unserer Daten zum Arzneimittelmarkt. Einen Teil dieser Arbeit möchte ich nun verstetigen.

Sie haben sich dafür entschieden, am Institut für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main einen Lehrstuhl für Multimedikation und Versorgungsforschung einzurichten, was insbesondere zwei Fragen aufwirft: a) warum Frankfurt und b) wieso die Kombination Multimedikation und Versorgungsforschung?
Ich lebe seit vielen, vielen Jahren in Hessen in Waldems-Esch nahe Frankfurt und stehe der Region und auch der Lokalpolitik nahe. Damit ist der erste Teil der Frage recht schnell beantwortet. Der zweite Teil ebenso: Mich verbindet mit Professor Gerlach eine sehr lange Zeit, in der wir uns oft über viele drängende Fragen ausgetauscht haben, die das Gesundheitssystem bewegen. Und oft sind wir mit dem gegenseitigen Versprechen auseinander gegangen, selbst aktiv zu werden und einige dieser Fragen aktiv anzugehen. Genau das habe ich getan.

Herr Prof. Gerlach, Sie leiten seit 2004 als Direktor das Institut für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Was hat Sie bewogen, das Angebot von Herrn Lederer anzunehmen, was war für Sie ausschlaggebend, dies zu tun?
Wir beschäftigen uns in unserem Institut schon seit langem mit den Themen Multimorbidität und Multimedikation. Bereits unter der Leitung von Dr. Christiane Muth wurden zahlreiche Forschungs- und Lehrprojekte durchgeführt und eine tolle Zusammenarbeit auch mit internationalen Arbeitsgruppen etabliert. Das Angebot von Herrn Lederer kam zur rechten Zeit und passt perfekt zu zwei weiteren Professuren im Institut: Altersmedizin (Prof. Johannes Pantel) und Chronische Krankheit und Versorgungsforschung (Prof. Andrea Siebenhofer-Kroitzsch). Die neue Professur kann hier nahtlos anknüpfen und ist insofern für alle Beteiligten am Standort Frankfurt ein echter Glücksfall.

Die Krux von Stiftungslehrstühlen ist meist, dass ihre finanzielle Basis für einige Jahre gesichert ist. Wie geht es denn danach weiter?
Die Professur ist zunächst auf sechs Jahre, also bis 2025, angelegt. Das ist genug Zeit, um durch gute Arbeit deutlich zu machen, warum das Thema wichtig ist und welche konkreten Beiträge zur Verbesserung der Versorgung möglich sind. In Kooperation mit Insight Health und der Barmer werden wir die Professur mit einer jährlichen Veranstaltungsreihe, dem Frankfurter Forum Multimorbidität und Multimedikation, FM², begleiten. Wir rechnen fest damit, dass die Bedeutung des Themas im Rahmen des demografischen Wandels und der steigenden Komplexität medikamentöser Therapien weiter zunimmt und wir viele überzeugende Argumente für eine Verstetigung der Professur haben werden.

Herr Lederer, Multimedikation ist alles andere als selten. Man nimmt an, dass über die Hälfte der Patienten über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente dauerhaft einnehmen. Könnten Sie das mit Ihren Daten nicht etwas genauer sagen?
Unsere Patientendaten zeigen seit vielen Jahren ein solches Bild, wenn auch letztlich die genaue Zahl der Patienten mit Multimedikation von den Einstufungs- und Analysekriterien abhängt. Fest steht jedoch, dass Polypharmazie bei alten Menschen an der Tagesordnung ist. Und wir sehen auch, dass diese Bevölkerungsgruppe häufig potenziell inadäquate Arzneimittel erhält. Hier sind beispielsweise Sedativa, Antidepressiva und auch bestimmte Schmerzmittel zu nennen.

Frau Prof. van den Akker, es gibt zwar die Forta-Liste, die 296 Substanzen bzw. Substanzklassen für 30 Indikationsbereiche, die älteren Patienten besonders häufig verordnet werden, in die Kategorien A bis D einordnet, aber keine Leitlinie. Warum ist die Multimedikation auch anno 2019 noch ein derart unerforschtes Feld?
Seit 2013 gibt es eine deutsche hausärztliche Leitlinie zum Thema Multimedikation und auch in anderen europäischen Ländern wurden zeitgleich entsprechende Leitlinien publiziert. Diese Leitlinien sollen vor allem das Bewusstsein zum Umgang mit Multimedikation und dem Medikationsmanagement bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten stärken, sowie die Einbeziehung von Patienten und Angehörigen in die Entscheidungsfindung bzgl. ihrer Medikation. Hierbei sind Tools wie die Forta-Liste natürlich extrem hilfreich, aber mit der zunehmenden Zahl von Arzneimittel-Verordnungen sind genaue Interaktionen kaum noch vorhersehbar. Auch gab es in der Vergangenheit mehrere Interventionsstudien zur Verbesserung des Multimedikationsmanagements, diese waren leider bisher ohne großen Erfolg. Aus meiner Sicht bestätigt dies die hohe Komplexität in der Versorgung.

Hand aufs Herz: Verordnen Ärzte vielleicht nicht doch viel zu schnell zu viele Medikamente?
Nein, das würde ich Ärzten nicht vorwerfen. Die Weiterbildung unserer Generalisten und vor allem Spezialisten ist zunehmend auf Subspezialitäten fokussiert. Patienten mit Multimorbidität, das bedeutet ja Mehrfacherkrankungen, besuchen oft für jede ihrer Erkrankungen einen anderen Fachspezialisten. Den Fachspezialisten fehlt dann oft eine vollständige Übersicht der verordneten Medikation. Aufgrund der Unvollständigkeit kann es zu Mehrfachverordnungen kommen und auch somit zu 10 oder mehr verschiedenen Medikamenten. Aber auf der anderen Seite kann es auch zu einer bewussten und wohlbegründeten Multimedikation kommen. Dabei ist es äußerst wichtig, dass die Patienten mit ihren Präferenzen bei der Aufbereitung des Medikationsplans einbezogen werden und die Entscheidungen mit dem Patienten abgestimmt werden.

Herr Prof. Gerlach, sind Ärzte ohne eine sorgfältig gepflegte, online verfügbare Patientenakte nicht völlig hilflos, wenn es darum geht, zu einer möglichst optimalen Medikation zu kommen?
In der Tat müssen Ärzte bislang viel zu häufig improvisieren. Ohne eine sinnvoll strukturierte, automatisch durchsuchbare elektronische Patientenakte, die mit definierten Schnittstellen sektorenübergreifend und möglichst auch international insbesondere in allen Praxen, Kliniken und Apotheken genutzt wird, werden wir das Problem nicht wirklich in den Griff bekommen. Die gleichzeitige Gabe verschiedenster Arzneimittel bei Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen, genetischen Voraussetzungen und Stoffwechselfunktionen ergeben zu komplexe Interaktionsmuster, die ein einzelner Arzt nicht mehr überblicken kann.

Herr Lederer, Sie als Herr der meisten Daten, die im Gesundheitsbereich gesammelt werden. Können Sie das veri- oder falsifizieren?
Wenn wir die Patienten in unseren Daten anhand ihrer Medikationshistorie verfolgen, dann gibt es hier kein Vertun: Zahlreiche Arzneimittel werden auch oft von unterschiedlichen Fachärzten verordnet. Dabei sind rezeptfreie Medikamente noch nicht einmal berücksichtigt. Was nichts anderes bedeutet, als dass Ärzten mit Sicherheit die nötige Transparenz fehlt. Die Einführung von elektronischen Medikationsplänen, dem eRezept und der elektronischen Patientenakte ist daher dringend notwendig. Doch hat man diese Instrumente erst einmal etabliert, müssen dann auch entsprechende Konsequenzen folgen, wenn die dann vorhandene Transparenz nicht zu einer verbesserten, adäquateren Medikation führen sollte. Damit komme ich wieder auf mein Eingangsstatement zurück: Daten nutzen nur, wenn wir es schaffen, Erkenntnisse daraus zu ziehen. Und zwar die richtigen.

Frau Prof. van den Akker, gehen wir kurz auf den ersten Part Ihres Lehrstuhls ein, die Multimedikation, um dann gleich zum zweiten Part, der Versorgungsforschung zu kommen. Ist denn genau bekannt, was Multimedikation im Körper, im Organismus bewirkt und was dies – z.B. durch mögliche unerwünschte Nebenwirkungen – für patientenindividuelle, aber auch gesellschaftlich und ökonomisch relevante Folgen hat?
Es ist nicht nur die Konstellation der Multimedikation, die für Ärzte schwer zu überblicken ist, erschwerend kommt speziell bei älteren Patienten noch die Änderung der physiologischen Prozesse im Körper und damit auch eine Änderung der Wirksamkeit, Effektivität und Interaktionen der Medikamente hinzu. Darüber hinaus können im Falle eines fehlenden Überblicks neue Medikamente verschrieben werden, um Beschwerden aufgrund unerkannter Nebenwirkungen zu „behandeln“, sog. Verschreibungskaskaden. Damit wird die Zahl der verschriebenen Medikamente noch größer, demzufolge die Therapietreue der Patienten oft niedriger. Interaktionen zwischen den Medikamenten können Beschwerden wie Müdigkeit, Schwindel, Übelkeit und Stürze auslösen, und erhöhen somit das Risiko für z.B. ungeplante Krankenhausaufenthalte.
Herr Prof. Gerlach, wie kann ein Allgemeinarzt das richtige Maß zwischen notwendiger und unerwünschter Medikation finden, eingedenk auch dessen, dass jeder Patient noch x verschiedene OTC-Medikamente einnehmen kann?
Wir konnten in Studien tatsächlich zeigen, dass die tatsächliche Einnahme von Arzneimittel durch Patienten extrem stark von dem abweicht, was Ärzte in ihrer Dokumentation notiert haben. Die Einnahme von OTC-Medikamenten ist dabei ganz wesentlich, aber nur einer von vielen Gründen. Nur wenn die Informationen zukünftig möglichst lückenlos elektronisch verfügbar sind, können einerseits intelligente Analysetools und andererseits an das Alltagshandeln einer Praxis sowie individuelle Patientenpräferenzen angepasste, einfach nutzbare Unterstützungssysteme entwickelt werden. Das wird eine der Aufgaben sein, mit denen sich die neue Professur beschäftigen wird.

Frau Prof. van den Akker, Sie haben sich schon seit Ihrer Promotion zum Thema „Multimorbidität bei Patienten in der Hausarztpraxis“ mit Prävalenz, Inzidenz und Faktoren der multiplen Pathologie befasst. Was wollen Sie mit und in Ihrem neuen Lehrstuhl erforschen?
Dieser neue Lehrstuhl ermöglicht es mir, Multimorbidität und vor allem auch Multimedikation im breiten Sinne zu erforschen. Durch die Alterung der Bevölkerung, aber auch durch eine verbesserte Dia-gnostik und entsprechende Behandlungsmöglichkeiten steigt die durchschnittliche Zahl der chronischen Erkrankungen und Dauermedikamente weiter an. Regelmäßige Untersuchungen von Prävalenz und Inzidenz bleiben wichtig, damit auch eine Einschätzung des weiteren Verlaufs gemacht werden kann. Zusätzlich sollten mit hochentwickelten statistischen Analysen Patientengruppen mit einem erhöhten Risiko auf relevante negative Folgen identifiziert und so gezielte und effektive Interventionen entwickelt werden. Wichtig ist mir, diese Interventionen mit betroffenen Patienten abzustimmen und die Patientenpräferenzen explizit miteinzubeziehen.

Herr Lederer, man muss es einmal ganz deutlich sagen: Ohne Ihr Engagement wäre „Monitor Versorgungsforschung“ nicht die mediale Heimat der deutschen Versorgungsforschung geworden, die es heute, zwölf Jahre nach Gründung, ist. Und schon gar nicht „das Medium mit dem gefühlt höchsten politischen Impact“, wie IGES-Chef Prof. Häussler anlässlich des 10-jährigen Geburtstags von MVF so treffend sagte. Was muss die Versorgungsforschung künftig selbst tun, um von einer rein deskriptiven hin zu einer gesellschaftlich relevanten Rolle zu kommen?
Sie muss mutiger werden. Die vergangenen Jahre waren sicher wichtig und wurden auch genutzt, um Methoden zu entwickeln, Memoranden zu formulieren und sich im Wissenschaftsgeschehen zu etablieren. Diese Arbeit haben die deutschen Versorgungsforscher auch gewissenhaft erledigt. Doch anders als ihre Kollegen aus den „alten“ etablierten Wissenschaftsbereichen, die oft schon seit 100 oder noch mehr Jahren existieren, hat die Versorgungsforschung ein großes Problem, das aber Chance zugleich ist: Durch die Digitalisierung wird alles viel schneller und transparenter als es früher war. Das heißt: Keiner kann sich mehr aus seiner Verantwortung stehlen, indem er sagt: „Es wurden schon derart umfangreiche Erkenntnisse veröffentlicht und jetzt sind Politik und Selbstverwaltung an der Reihe.“ Genau darum unterstütze ich „Monitor Versorgungsforschung“ von Beginn an. Dieses Medium hat in Deutschland etwas bewegt, indem es den Weg der Versorgungsforschung in die Politik und die Kassenlandschaft bereitet hat und immer wieder und unermüdlich auf die Notwendigkeit des Transfers hinweist. Das ist meine Erkenntnis aus vielen Jahren, in denen ich mit Wissensmanagement und Transfer beschäftigt habe: Wer etwas verändern will, kann das nicht delegieren und auf einen göttlichen Funken hoffen. Darum: Wenn Versorgungsforschung eine Zukunft haben will, müssen alle Beteilig-
ten aktiver werden und die ihnen fast auf Händen angebotene Rolle freudig annehmen.

Frau Prof. van den Akker, wie definieren Sie die Rolle der Versorgungsforschung 2020 ff?
Mir ist es wichtig, dass die Versorgungsforschung alle relevanten Gruppen, also sowohl Professionals als auch Laien, umfasst. Das heißt von unserer Seite, dass wir in der Forschung mit Kollegen der Allgemeinmedizin, Altersmedizin, Statistik sowie mit Pharmazeuten, Spezialisten der Inneren Medizin usw. zusammenarbeiten. Zunehmend wichtiger wird dabei auch die Rolle der Patienten und deren Angehörigen in der Forschung. Die Einbeziehung dieser Gruppen in die Versorgungsforschung wird sich positiv auf die gesellschaftliche und klinische Relevanz der Versorgungsforschung auswirken.

Frau Prof. van den Akker, Herr Prof. Gerlach und Herr Lederer, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier, Mitwirkung bei der Fragenvorbereitung: Prof. Dr. Reinhold Roski.

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis:

Van den Akker, M., Gerlach, F., Lederer, R., Stegmaier, P.: „Versorgungsforschung muss aktiver werden“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/19), S. 6-8; doi: 10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2167

Ausgabe 05 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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