„Es geht um Authentizität und Spaß an der universitären Forschung“
>> Damit ist auch die Frage „Warum Halle?“ ebenso schnell wie ehrlich beantwortet. „Halle hat mir die Möglichkeit gegeben, meine Vorstellungen von Lehre und Forschung umzusetzen und etwas Grundlegendes aufzubauen“, erklärt Richter, der vorher am Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) eine Assistenzprofessur innehatte. Mit der Versorgungsforschung an sich kam er schon relativ früh während seines Soziologiestudiums in Bielefeld in Kontakt, auch wenn es zu Beginn der 2000er Jahre dort noch gar keine Disziplin unter dem Begriff „Versorgungsforschung“ gab. Doch hatte er das Glück, im Rahmen seines Studiums verschiedene Veranstaltungen zu Gesundheitspolitik und zu den gesellschaftlichen Ursachen von Gesundheit und Krankheit zu besuchen, die bei ihm ein starkes Interesse weckten. Verfestigt hat sich dieses Anfangsinteresse dann durch seine Tätigkeit als studentische Hilfskraft an der Bielefelder Fakultät für Gesundheitswissenschaften bei Professor Dr. Klaus Hurrelmann und Professor Dr. Bernhard Badura, beides Wegbereiter der Versorgungsforschung in Deutschland. Richter: „Da war für mich klar, dass ich genau an dieser Schnittstelle von Soziologie, Gesundheitswissenschaften und Medizin arbeiten möchte – und das in der Wissenschaft.“
Und das dann eben in Halle, immerhin die größte Stadt Sachsen-Anhalts auf dem 31. Platz der deutschen Großstädte. Und: Hier gibt es eine lange Tradition sozialmedizinischer und medizinsoziologischer Forschung mit einem starken Bezug zur gesundheitlichen Versorgung. Geprägt wurde diese seit 1995 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 von dem kurz danach (2013) verstorbenen Prof. Dr. rer. soc. Wolfgang Slesina.
Dessen Erbe konnte und wollte Richter fortführen und ausbauen, aber durchaus auch eigene Impulse setzen, da das IMS an sich eine relativ junge Einrichtung ist und erst 2011 mit seinem Dienstantritt aus der ehemaligen Sektion für Medizinische Soziologie am Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik hervorgegangen ist. Von ursprünglich zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern ist das Institut relativ schnell auf aktuell 15 Mitarbeiter angewachsen ist, was eine große Herausforderung und Verpflichtung für Richter ist.
Das liegt insbesondere auch darin begründet, da Richter eine sehr dezidierte Meinung davon hat, wie Forschung und Lehre an einer Universität aussehen sollen. Zum einen geht es ihm, wie er sagt, um „Authentizität und Spaß an der Wissenschaft“, doch andererseits auch ganz konsequent um die Freiheit und Unabhängigkeit universitärer Forschung. „Inzwischen haben wir das IMS glücklicherweise so aufstellen können, dass wir die Forschung stärker an unseren Interessen und weniger dem Geld ausrichten müssen“, sagt Richter. Er befindet sich damit absolut im Einklang mit einem Metaziel der Versorgungsforschung: „Ich verfolge das Ziel, eigene Themen zu setzen und damit die gesundheitliche Lage der Bevölkerung zu verbessern.“ Und dabei auch noch die Möglichkeit zu haben, Studierende und Mitarbeiter* aus-, fortbilden und beschäftigen zu können.
„Ich bin froh, dass wir es ermöglichen können, Doktoranden mit mindestens 75% und Post-Docs mit 100% zu beschäftigen – auch wenn dies eine ständige Gratwanderung mit sich bringt“, erklärt dazu Richter. Der sich, wie er auch zugibt, in der gegenwärtigen, prekären Situation der Hochschulen durchaus von einigen „Visionen relativ früh verabschieden“ musste. Hierzu zählen beispielsweise Zeit für die eigene Forschung, einen geringen Verwaltungsaufwand und die Schwierigkeit, die internationale Publikationstätigkeit mit der Versorgungspraxis vor Ort zu verknüpfen. Oft sei es zudem schwer, ein offenes Ohr für die Versorgungsforschung zu finden.
Vom Durchschnittsalter der Mitarbeiter her, zeigt sich das Haller IMS als ein junges, unkompliziertes Institut, das sich forschungspolitisch stärker an der Grundlagenforschung orientiert. So sind fast 70% der IMS-Projekte von der DFG gefördert. Das Hallenser Institut ist in seinem Profil und der Ausrichtung der Themenschwerpunkte vielleicht „etwas exotischer als andere Einrichtungen im Feld“. So ist der Anteil an „klassischer“ klinischer Versorgungsforschung am IMS relativ klein. Zudem stehen vor allem Fragen des Zugangs und der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen stärker im Mittelpunkt als Fragen der Qualität dieser Leistungen.
Inhaltlich liegt der Fokus des Instituts für Medizinische Soziologie stark auf den sozialen, ökonomischen und politischen Determinanten der Gesundheit und der gesundheitlichen Versorgung, die eigentlich in allen Forschungsprojekten des IMS behandelt werden. Dies zwar mit großem Gewicht auf den Bereich der Versorgungsforschung, doch auch auf anderen Forschungsschwerpunkten mit einem stärkeren Populationsbezug, wie die Lebenslaufforschung und die Kinder- und Jugendgesundheitsforschung. So leitet das IMS beispielsweise den deutschen Teil der WHO-Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC). Richter: „Methodisch bin ich froh, dass wir quantitative und qualitative Expertise im Haus haben und Projekte in beiden Bereichen durchführen. „Diese Ausrichtung ermöglicht es uns, Forschungsthemen mit Hilfe einer ausbalancierten Mischung an verschiedenen Forschungsmethoden zu bearbeiten.“ Das mache die Arbeit reizvoll und man hat die Möglichkeit, in jedem Projekt etwas Neues zu lernen.
Als größten Erfolg in der noch kurzen Geschichte des IMS bezeichnet Richter den Fakt, dass das von ihm geleitete Institut die erste DFG-Forschungsgruppe im Bereich der Medizinischen Soziologie/Gesundheitswissenschaften einwerben konnte, die im Juli dieses Jahres unter seiner Leitung gestartet ist. Auch sieht er die Leitung der
HBSC-Studie durchaus als eine Auszeichnung seines Teams an; ebenso stehe das Institut im intramuralen LOM-Ranking (leistungs-orientierte Mittelvergabe) der Einrichtungen an der Haller Fakultät gut da und könne mit der naturwissenschaftlichen Forschung sehr gut mithalten. <<