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Finanzierung geeigneter Betreuungs- und Behandlungsverfahren bei Opioidabhängigkeit durch den Morbi-RSA

04.04.2019 10:20
Im Jahr konsumieren schätzungsweise etwa 200.000 Menschen in Deutschland illegale opioidhaltige Substanzen (Wittchen et al. 2011). Dieser Konsum kann zur Opioidabhängigkeit führen, einer lebenslangen chronischen Krankheit (Wittchen et al. 2011), die mit psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten wie Hepatitis C und HIV assoziert ist. Auch wenn vollsynthetische Opioide wie die Betäubungsmittel (BTM-)pflichtigen Schmerzmittel Oxycodon oder Fentanyl ebenfalls zunehmend Probleme in Bezug auf die Entwicklung von Suchtverhalten aufwerfen, bleibt Heroin das größte Problemfeld der Opioidabhängigkeit. Heroin wird auch als dasjenige Suchtmittel angesehen, das mit dem höchsten Suchtpotenzial und der höchsten Mortalität verbunden ist (Gable 2006). Die Behandlung der Opioidabhängigkeit erfolgt in der Regel mit verschiedenen Substitutionstherapien, bei der die illegalen Opioide durch die ärztliche Abgabe gesetzes- und richtlinienkonform verordneter Medikamente ersetzt werden. Bei inadäquater Behandlung, die ohne Substitutionstherapie nur aus Entgiftungsmaßnahmen, Fernhalten von der Substanz etwa im Zuge des Justizvollzugs und seltenen Beratungsgesprächen besteht, entwickeln die betroffenen Patienten ein „Drehtürsyndrom“, also häufige und regelmäßige Einweisungen in ein Krankenhaus, und versterben oftmals an einer Überdosis-induzierten Atemlähmung oder an Folgekomorbiditäten mit starker Unterernährung. Die Substitutionstherapie ermöglicht die Entkriminalisierung und Stabilisierung der psychosozialen Situation des Patienten, die systematische Behandlung von Infektionskrankheiten, sowie das Einwirken auf die Rahmenbedingungen und die gezielte langfristige therapeutische Arbeit an Komorbiditäten wie Persönlichkeitsstörungen und Depressionshintergründen. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland 78.800 opioidabhängige Patienten in Substitutionstherapie (Bericht zum Substitutionsregister 2018).

http://doi.org/10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2093

Abstract

Die Versorgung opioidabhängiger Versicherter ist für die gesetzlichen Krankenkassen mit hohen Ausgaben verbunden, führt aber bei jedem Zweiten der opioid-abhängigen Patienten zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Ansätze zur Verbesserung dieser Versorgung sind aus Sicht der gesetzlichen Krankenkassen mit zusätzlichen Ausgaben verbunden. Die Refinanzierung von Investitionen in solche geeignete Betreuungs- und Behandlungsverfahren kann für Krankenkassen durch Kosteneinsparungen, z.B. Verringerung von Krankenhausausgaben, erfolgen. Alle Ausgaben müssen zudem aus den Einnahmen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) finanziert werden. Deshalb werden in diesem Beitrag die Einnahmen für Versicherte mit Opioidabhängigkeit aus dem Morbi-RSA ermittelt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Krankenkassen im Schnitt rd. 9.014 Euro für opioidabhängige Versicherte in Therapie erhalten. Dies übersteigt die Behandlungsausgaben um rund 39%, sodass opioidabhängige Versicherte positive Deckungsbeiträge aufweisen. Darüber hinaus könnten die Einnahmen um weitere 10%, oder rund 44 Mio. Euro pro Jahr, gesteigert werden.

Financing of appropriate treatment and special support of opioid dependence through the morbidity-based risk adjustment system (Morbi-RSA)
Health care of opioid-dependent patients is associated with high costs for statutory health insurances (SHI). However, the current state of health care reality does not provide satisfactory results for up to 50% of opioid-dependent patients. Approaches to improve the health care situation of these patients are initially associated with additional costs for SHIs. Lower long-term costs (for instance due to the reduction of hospital expenditures) must refinance these investments in appropriate treatments. Furthermore, all health care expenditures have to be covered by the income form the the morbidity-based risk adjustment system (Morbi-RSA). In the present paper, income from the Morbi-RSA for insureds with opioid dependence will be analyzed and examined, whether these incomes are sufficient to re-finance appropriate treatments and special support. Results reveal that the SHIs receive on average about 9,014 Euro for opioid-dependent insureds which exceeds treatment costs by 39%. Thus a positive contribution margin is given. Furthermore, additional 44 mio. Euro a year, around 10% of annual SHI income, could be achieved for these patients if therapy interruptions are avoided. This represents a potential for refinancing appropriate treatments and special support for opioid-dependence.

Keywords
SHI data analysis, morbi-RSA, opioid dependence, substitution therapy, buprenorphine, methadone, levomethadone

Dipl.-Volksw. Tobias Vogelmann / Dipl.-Psych. Ronald Schwarz / Dipl.-Betriebsw. (FH) Daniel Trümper

Literatur:

Bericht zum Substitutionsregister, Januar 2018. https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Substitutionsregister/Bericht/_node.html (Zugriff: 14.08.18)
Bode, K. / Vogel, R. / Walker, J. / Kröger, C. (2017): Health care costs of borderline personality disorder and matched controls with major depressive disorder: a comparative study based on anonymized claims data. In: The European Journal of Health Economics, 18(9):11-25-1135.
Gable, RS. (2006): The Toxicity of Recreational Drugs. In: American Scientist, 94: 206-208.
Guidelines for the Psychosocially Assisted Pharmacological Treatment of Opioid Dependence. World Health Organization 2009. http://www.who.int/substance_abuse/publications/opioid_dependence_guidelines.pdf (Zugriff: 15.08.18)
Häuser, W. / Schubert, T. / Scherbaum, N. / Tölle, T., (2018): Guideline-recommended vs high-dose long-term opioid therapy for chronic noncancer pain is associated with better health outcomes: data from a representative sample of the German population. In: PAIN 159·(1): 85-91.
Kähm, K. / Laxy, M. / Schneider, U. / Rogowski, W.H. / Lhachimi, S.K. / Holle, R. (2018):. Health Care Costs Associated With Incident Complications in Patients With Type 2 Diabetes in Germany.In: Diabetes Care, 41(5): 971-978.
Reimer, J. / Vogelmann, T. / Trümper, D. / Scherbaum, N. (2018a): Economic impact of opioid dependence in Germany – A cost of illness study focusing on patients in opioid maintenance treatment, ISPOR Europe 2018, PMH32, November 2018.
Reimer, J. / Vogelmann, T. / Trümper, D. / Scherbaum, N. (2018b): Impact of buprenorphine dosage on occurrence of relapses in patients with opioid dependency, 27. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin, 04.11.2018
Wittchen, H. U. / Bühringer, G. / Rehm, J. (2011): Ergebnisse und Schlussfolgerungen der PREMOS-studie (predictors, moderators and outcome of substitution treatment). In: Suchtmedizin in Forschung und Praxis, 13(5).
Wittchen, H. U. / Bühringer, G. / Rehm, J. / Soyka, M. / Träder, A. (2011): Der Verlauf und Ausgang von Substitutionspatienten unter den aktuellen Bedingungen der deutschen Substitutionsversorgung nach 6 Jahren. In: Suchtmedizin in Forschung und Praxis, 13(5).

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Zitationshinweis: Vogelmann, T., Schwarz, R., Trümper, D.: „Finanzierung geeigneter Betreuungs- und Behandlungsverfahren bei Opioidabhängigkeit durch den Morbi-RSA“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 02/19, S. 65-70, doi: 10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2093

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Finanzierung geeigneter Betreuungs- und Behandlungsverfahren bei Opioidabhängigkeit durch den Morbi-RSA

Im Jahr konsumieren schätzungsweise etwa 200.000 Menschen in Deutschland illegale opioidhaltige Substanzen (Wittchen et al. 2011). Dieser Konsum kann zur Opioidabhängigkeit führen, einer lebenslangen chronischen Krankheit (Wittchen et al. 2011), die mit psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten wie Hepatitis C und HIV assoziert ist. Auch wenn vollsynthetische Opioide wie die Betäubungsmittel (BTM-)pflichtigen Schmerzmittel Oxycodon oder Fentanyl ebenfalls zunehmend Probleme in Bezug auf die Entwicklung von Suchtverhalten aufwerfen, bleibt Heroin das größte Problemfeld der Opioidabhängigkeit. Heroin wird auch als dasjenige Suchtmittel angesehen, das mit dem höchsten Suchtpotenzial und der höchsten Mortalität verbunden ist (Gable 2006). Die Behandlung der Opioidabhängigkeit erfolgt in der Regel mit verschiedenen Substitutionstherapien, bei der die illegalen Opioide durch die ärztliche Abgabe gesetzes- und richtlinienkonform verordneter Medikamente ersetzt werden. Bei inadäquater Behandlung, die ohne Substitutionstherapie nur aus Entgiftungsmaßnahmen, Fernhalten von der Substanz etwa im Zuge des Justizvollzugs und seltenen Beratungsgesprächen besteht, entwickeln die betroffenen Patienten ein „Drehtürsyndrom“, also häufige und regelmäßige Einweisungen in ein Krankenhaus, und versterben oftmals an einer Überdosis-induzierten Atemlähmung oder an Folgekomorbiditäten mit starker Unterernährung. Die Substitutionstherapie ermöglicht die Entkriminalisierung und Stabilisierung der psychosozialen Situation des Patienten, die systematische Behandlung von Infektionskrankheiten, sowie das Einwirken auf die Rahmenbedingungen und die gezielte langfristige therapeutische Arbeit an Komorbiditäten wie Persönlichkeitsstörungen und Depressionshintergründen. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland 78.800 opioidabhängige Patienten in Substitutionstherapie (Bericht zum Substitutionsregister 2018).

>> Die Versorgung von opioidabhängigen Versicherten ist für gesetzliche Krankenkassen mit hohen Kosten verbunden. So zeigt eine aktuelle Studie auf Basis deutscher GKV-Daten (Reimer et al. 2018a), dass die Kosten für Versicherte mit Opioidabhängigkeit doppelt so hoch sind wie die Kosten für einen durchschnittlichen GKV-Versicherten: Die durchschnittlichen Behandlungskosten für opioidabhängige Patienten in Substitutionstherapie betragen in Deutschland demnach rd. 7.470 Euro pro Patient und Jahr. Dabei gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Substitutionstherapien: Die Durchschnittskosten für Versicherte in Buprenorphin-Substitutionstherapie sind signifikant niedriger als die Durchschnittskosten für Versicherte mit Levomethadon-Substitutionstherapie. Kommt es in der Substitutionstherapie zu Rückfällen der Patienten, scheiden diese also aus der Substitutionstherapie aus und konsumieren wieder illegale Drogen, steigen die Kosten aus Sicht der GKV weiter an, wobei dieser Anstieg hauptsächlich durch Kosten der stationären Behandlung („Drehtüreffekt“) getrieben werden.
Die Jahrestherapiekosten für opioidabhängige Versicherte liegen auch deutlich über den Kosten von Versicherten mit klassischen Volkskrankheiten und können somit vielfach auch als Hochkostenfälle klassifiziert werden: So liegen die für die GKV-Ausgaben für Diabetes Mellitus pro Jahr und Patient bei ca. 4.949 Euro (Kähm et al. 2018) und bei Depression bei 3.638 Euro (Bode et al. 2017). Die Ausgaben zur Versorgung von opioidabhängigen Versicherten entsprechen in etwa den Ausgaben von chronischen Schmerzerkrankten, die sich in einer verordneten Langzeit-Opioid-Therapie befinden (Durchschnittkosten für diese Versicherten: 7.603 Euro, Häuser et al. 2018).
Hochgerechnet auf die 78.800 substituierten Patienten in Deutschland entstehen der GKV so jedes Jahr rund 588 Mio. Euro Behandlungskosten für die Versorgung von opioidabhängigen Patienten.
Trotz dieser hohen Behandlungskosten zeigen Studien, dass die Therapie bei rund 32 bis 45% der opioidabhängigen Versicherten zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führt, da Patienten die Therapie häufig abbrechen und rückfällig werden, inhaftiert werden oder versterben (Wittchen et al. 2011). Insbesondere bei einer niedrig dosierten Therapie erleiden rd. zwei Drittel aller Patienten innerhalb von vier Jahren einen Rückfall (Reimer et al. 2018b).
Ansätze zur Verbesserung dieser Versorgungsrealität, beispielsweise Case Management oder Angebote der besonderen Versorgung, sind aber aus Sicht der GKV zunächst mit weiteren Kosten verbunden. Die Refinanzierung dieser Investitionen erfolgt zum einen durch die Verringerung von vermeidbaren Folgekosten, wie beispielsweise der Verringerung ambulant-sensitiver Krankenhausfälle durch die Vermeidung von Rückfällen. Andererseits müssen sich alle Investitionen der GKV daran messen, wie sich das Verhältnis von Einnahmen und Leistungsausgaben entwickelt. Führen Investitionen in neue Betreuungs- und Behandlungsangebote dazu, dass eine abgestimmte engmaschige Betreuung zu weniger Therapieabbrüchen führt und damit die Behandlungskontinuität gesteigert wird, so ist dies für Krankenkassen im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) tendenziell vorteilhaft: Zum einen führen Therapieabbrüche zu weniger Morbi-RSA-Zuschlägen, da Diagnosen und Arzneimittelverordnungen nur noch lückenhaft vorliegen. Zum anderen erhöht eine dauerhafte, also nicht abgebrochene oder unterbrochene medizinische Betreuung die Dokumentationsvollständigkeit -qualität, da die Behandlungsdiagnosen bei der Gabe von Arzneimitteln in der Patientenakte dokumentiert werden. Beides führt dazu, dass eine hohe Therapietreue der Patienten tendenziell positive Auswirkungen auf die Einnahmen der GKV aus dem Morbi-RSA haben.
Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die Einnahmen für opioidabhängige Versicherte mit und ohne Substitutionstherapie aus dem Morbi-RSA zu analysieren, die Höhe der derzeitigen GKV-Zuschläge zu ermitteln und zu überprüfen, ob Krankenkassen unter Berücksichtigung der prognostizierten Einahme- und Ausgabeseite künftige Investitionen in die Finanzierung geeigneter Behandlungs- und Betreungsverfahren tätigen können.
Hintergrund zu den Einnahmen aus der
GKV-Perspektive
Im Jahr 2018 erhielt jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe von 3.033,68 Euro zugewiesen, was den durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV entspricht. Diese Grundpauschale wird anschließend durch Zu- und Abschläge angepasst, unter anderem durch Zuschläge für die Verwaltung und Zu- und Abschläge nach Alter und Geschlecht (AGG). Grundlage für den Ausgleich der 80 Erkrankungen bilden ICD-10 verschlüsselte stationäre und ambulante Diagnosen der Versicherten. Von den über 15.000 ICD-10-Codes wurden im Jahr 2018 3.776 Codes für eine oder mehrere der 80 Krankheiten berücksichtigt. Die ICD-10-Diagnosen werden über Diagnosegruppen (DxG) einzelnen Morbiditätsgruppen (MG) zugeordnet und anschließend innerhalb von Erkrankungen in hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG) hierarchisiert.
Je nach HMG, dem Alter des Patienten und dem damit häufig verbundenen Schweregrad einer chronischeren Erkrankung, den in der betreffenden Region vorhandenen Versorgungstrukturen sowie speziellen Versorgungsangeboten der Kasse stellt sich das Verhältnis von Ausgaben und Einnahmen jeweils anders dar. Kassen handeln wirtschaftlich rational. Dies bedeutet im Zuge des Fallmanagements und bei der Entscheidung über eine Investition in gezielte Versorgungs- und Betreuungsmaßnahmen den Grundsatz walten zu lassen: Nur das, was sauber diagnostiziert wird, kann langfristig proaktiv und zum Wohle des Patienten gezielt behandelt werden.
Methode
Zur Ermittlung der Morbi-RSA-Zuschläge für opioidabhängige Versicherte wurde eine Kohortenstudie durchgeführt, die auf anonymisierten Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) aus dem Jahr 2015 basiert. Die Studie wurde mit Daten der Gesundheitsforen Leipzig GmbH unter Nutzung der Forschungsdatenbank der Vilua Healthcare GmbH durchgeführt.
Aus 3 Millionen vorliegenden Versichertenpseudonymen wurden Versicherte selektiert, bei denen mindestens eine gesicherte ambulante oder stationäre ICD-10-Kodierung F11.2 (Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide: Abhängigkeitssyndrom) im Jahr 2015 kodiert wurde und die mindestens 18 Jahre alt waren. Die Versicherten wurden anschließend einer von zwei Gruppen zugewiesen: Versicherte mit mindestens einer Verordnung von Buprenorphin, Methadon oder Levomethadon auf Basis der abgerechneten ATC- oder PZN-Codes im Jahr 2015 wurden der Gruppe der Versicherten mit Substitutionstherapie im Jahr 2015 zugeteilt. Hierfür wurden die folgenden ATC- und PZN-Codes verwendet:
• ATC-Codes N07BC01, N07BC21, N07BC51 und PZN-Codes 02567113, 02567136 (Substitutionstherapie mit Buprenorphin)
• ATC-Codes N07BC02 und PZN-Code 09999086 (Substitutionstherapie mit Methadon)
• ATC-Code N07BC05 und PZN-Code 02567107 (Substitutionstherapie mit Levomethadon)

Versicherte, bei denen keine der oben genannten Verordnungen vorlagen, wurden als Versicherte ohne Substitutionstherapie definiert. Versicherte, die 2015 eine andere Substitutionstherapie als Buprenorphin, Methadon oder Levomethadon erhielten, wurden ausgeschlossen.
Versicherte, die die Einschlusskriterien erfüllten, wurden zunächst hinsichtlich ihrer erreichten Morbi-RSA-Zuschläge ausgewertet. Hierfür wurden die demografischen Daten sowie die Leis-tungsdaten des Jahres 2015 mit dem Morbi-RSA-Grouper für das Jahr 2018 und die Anzahl der erreichten HMG sowie die Höhe der Zuweisungen ermittelt.
Für die häufigsten Morbiditätsgruppen wurde anschließend ermittelt, ob es eingebüßte Zuweisungsansprüche gab, da einige Voraussetzungen der HMG nicht erfüllt waren. Dies wäre für Krankenkassen besonders ungünstig, da zwar Ausgaben für Versorgungsleistungen getätigt wurden, aber kein Ausgleich dieser Ausgaben durch den Morbi-RSA erfolgte.
Zur Ermittlung von Zuweisungseinbußen wurde wie folgt vorgegangen:
Bei Diagnosegruppen (DxG), die als Aufgreifkriterien Arzneimittel obligat vorsehen, wurden Zuweisungseinbußen eingerechnet, wenn für Versicherte mind. eine für die jeweilige DxG relevante Diagnose und Arzneimittelverordnung vorlagen, jedoch die notwendigen Behandlungstage nicht erreicht wurden oder keine quartalsgleiche Verordnung vorlag. Bei DxG, die Arzneimittel wegen klinischer Relevanz vorsehen, wurden ergänzend Versicherte eingerechnet, die das M2Q-Kriterium nicht erfüllten. Bei DxG ohne Arzneimittelzuordnung wurden Zuweisungseinbußen für Versicherte ermittelt, die genau eine für die DxG relevante Diagnose hatten und diese nicht im letzten Quartal 2015 gestellt wurde. Zudem wurden Zuweisungseinbußen aufgrund unspezifischer Depressionsdiagnose ermittelt, da diese in die HMG057 (jährlicher Zuschlag rd. 511 Euro) führen und nicht wie spezifische Depressionsdiagnosen in die HMG058 (jährlicher Zuschlag rund 1.093 Euro) und sich die Spezifizierung der Depressionsdiagnose positiv auf die Versorgung der Versicherten auswirken kann, da sich die Therapievorschläge, beispielsweise der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression, an der spezifischen Depressionsdiagnose (leicht, mittel, schwer) orientieren.
Zudem wurde in einer Subgruppe die Höhe der Zuschläge von Versicherten untersucht, die im Jahr 2015 Zuschläge für vier oder weniger HMGs erhalten haben. Der Grund für diese Stratifizierung war, dass multimorbide Versicherte ohne Substitutionstherapie Komorbiditäten haben könnten, die die Substitutionstherapie erschweren oder unmöglich machen und dies dazu führen kann, dass der Vergleich zwischen Versicherten mit und ohne Substitutionstherapie verzerrt wird.
Ergebnisse
Zuweisungsunterschiede von Versicherten mit vs. ohne Substitutionstherapie
Insgesamt erfüllten 2.446 volljährige Versicherte die Einschlusskriterien einer Opioidabhängigkeit, hiervon waren etwa 63% der Versicherten in Substitutionstherapie (n = 1.542 Versicherte) und 37% ohne Substitutionstherapie (n = 904 Versicherte). Dieses Verhältnis von ca. 2/3 Versicherten in Substitutionstherapie wird auch in anderen Studien mit Krankenkassendaten berichtet (Reimer et al. 2018a). Die durchschnittlichen jährlichen Zuweisungen betrugen 8.789 Euro je Versicherten, wobei die Versicherten im Durchschnitt 3,07 HMG erreichten. Dabei erreichen rd. 80% der Versicherten mit Substitutionstherapie mindestens drei verschiedene HMGs.
Die Ergebnisse hinsichtlich der Zuweisungshöhe zeigen, dass die Krankenkassen im Schnitt 9.014 Euro Zuweisungen für Versicherten mit Substitutionstherapie erhalten haben, für Versicherte ohne Substitutionstherapie lagen die mittleren Zuweisungen bei 8.431 Euro, das heißt Versicherte in Substitutionstherapie lösen 583 Euro höhere Zuweisungen aus als Versicherte ohne Substitutionstherapie. Dieser Unterschied ist statistisch hoch signifikant (p<0,01; zweiseitiger Zweistichproben-t-Test). Auf die gesamte GKV hochgerechnet ergeben sich so Unterschiede im Bereich der Zuweisungen in Höhe von 10.982.000 Euro zwischen Versicherten in Substitutionstherapie gegenüber Versicherten ohne Substitutionstherapie (vgl. Abb. 1).
Bei Versicherten, die vier oder weniger HMG erreichten, ergaben sich im Durchschnitt 7.497 Euro Zuweisungen für Versicherte in Substitutionstherapie und 5.744 Euro für Versicherte ohne Substitutionstherapie. Versicherte in Substitutionstherapie mit vier oder weniger HMG, lösen also 1.753 Euro (rd. 23%) höhere Zuweisungen aus als Versicherte ohne Substitutionstherapie mit vier oder weniger HMG.
Am häufigsten lösen die opioidabhängigen Versicherten in Substitutionstherapie Zuschläge für Alkohol- oder drogeninduzierte Psychose (HMG051) sowie Alkohol- oder Drogenabhängigkeit (HMG052) aus. Zwischen den Versicherten mit und ohne Substitutionstherapie zeigen sich dabei deutliche Unterschiede: So werden Versicherte mit Substitutionstherapie häufiger in die mit der Opioidabhängigkeit assoziierten HMGs eingruppiert (HMG051: 31,1%; HMG052: 67,3%), als Versicherte ohne Substitutionstherapie (HMG051: 19,6%; HMG052: 61,0%). Als Komorbiditäten werden häufig die HMG für Hepatitis C ohne Dauermedikation (HMG251, 33%), spezifische Depression (HMG058, 24%), Persönlichkeitsstörungen (HMG230, 17%) und unspezifische Depression (HMG057, 13%) ausgelöst (vgl. Abb. 2).

Zuweisungspotenziale
Die Analyse der HMGs für chronische Hepatitis C ohne Dauermedikation (HMG251) zeigt, dass im Falle der Hepatitis C ohne Dauermedikation bei 81 der 1.542 Versicherten mit Substitutionstherapie zwar eine relevante Diagnose für die Zuordnung zur HMG251 vorlag, jedoch die zweite Diagnose zur Erreichung des M2Q Kriteriums fehlte. 12 Versicherte erreichten die niedriger hierarchisierte HMG026 (Leberzirrhose) und ein Versicherter die niedriger HMG256: Hepatische Enzephalopathien. Bei einer Erreichung der HMG251 durch alle betroffenen Versicherten ständen insgesamt in der Stichprobe weitere 853.483,31 Euro als Zuweisungen für Behandlungen zur Verfügung. Bei chronischer Hepatitis C mit Dauermedikation (HMG288) erreichten 37 Versicherte keinen Zuschlag, obwohl eine relevante Diagnose und mindestens eine Verordnung vorlagen. Hier liegen die durch Zuweisungen erzielbaren Gegenfinanzierungen bei einer HMG-Erreichung aller betroffenen Versicherten in der Stichprobe bei 30.606,94 Euro.
Bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (HMG230) lösten 58 Versicherte den HMG-Zuschlag nicht aus, obwohl mindestens eine ambulante Diagnose vorlag. Dies entspricht rund 21% aller Versicherten mit mindestens einer Diagnose. Bei Zuweisungen von derzeit 1.028,78 Euro pro Jahr könnten in der Studienstichprobe weitere 59.669,24 Euro gegenfinanziert werden, wenn alle betroffenen Versicherten den Zuschlag erhalten würden.
Die Ergebnisse für alle untersuchten HMG können Abbildung 3 entnommen werden.
Insgesamt erreichten 693 Versicherte mindestens eine HMG nicht, obwohl einige Voraussetzungen hierfür vorlagen. Es ist anzunehmen, dass Krankenkassen für die Behandlung Ausgaben entstanden sind, diese aber nicht durch den Morbi-RSA ausgeglichen werden konnten.
Die eingebüßten Zuweisungen aufgrund verfehlter HMG betragen in der betrachteten Stichprobe 1.468.252 Euro.
Hinzu kommen 202 Versicherte mit Substitutionsbehandlung, bei denen eine unspezifische Depressionsdiagnose vorlag, die vermutlich eine Ausweichdiagnose darstellt und im Zuge detailierterer Anamnese und Dokumention klarer gefasst werden könnte. In diesem Falle wäre mit 117.564 Euro mehr Zuweisungen, entsprechend 202 Versicherten * 582 Euro, zu rechnen.
Diese Studie basierte auf einer Stichprobe von rd. 3 Mio. Versicherten. Für eine Generalisierung wurde eine Extrapolation auf die gesamte GKV vorgenommen. Hierfür wurde ein Hochrechnungsfaktor analog der Größe der verwendeten Datenbank von 20,84 verwendet: Für die gesamte GKV ergeben sich in der Gruppe der Versicherten mit Substitutionstherapie rd. 30.597.000 Euro eingebüßte Zuweisungsansprüche im Jahr durch eine nicht kontinuierliche Behandlung, für die der GKV bereits Kosten entstanden sind. Hinzu kommen bei dieser Hochrechnung ca. 2,45 Mio. Euro pro Jahr, die bei einer detailierteren Depressionsdiagnose und Dokumentation erstattbar wären.
Fasst man (1) Zuweisungsunterschiede zwischen Versicherten mit vs. ohne Substitutionstherapie, (2) bestehende Zuweisungseinbußen bei Substitutionspatienten aufgrund verfehlter HMG-Zuschläge und (3) Zuweisungspotenziale im Falle einer detailierteren psychiatrischen Depressionsdiagnose und Dokumentation im Zuge der Substitution zusammen, so ergeben sich mit dieser Berechnungslogik Mittel in Höhe von 44.028.000 Euro im Jahr, die zur Refinanzierung adäquater Behandlungen opioidabhängiger Patienten zur Verfügung ständen. Die größte finanzielle Auswirkung hat dabei das Verfehlen von HMG-Zuschlägen, beispielsweise aufgrund abgebrochener Behandlungen (über 30 Mio. Euro), gefolgt von der Differenz zwischen Versicherten mit vs. ohne Substitutionstherapie (fast 11 Mio. Euro) und der vermutlich unzureichenden Anamnese und Dokumentation von Depressionen mit über 2 Mio. Euro.
Insgesamt entspricht dies 863 Euro Zuweisungspotenzial je
opioidabhänigen Versicherten. Intensivere Betreuung und Behandlung würde die mittleren Zuschläge von 8.789 Euro um 9,8% steigern, d.h. sich gut refinanzieren lassen.
Diskussion und Empfehlungen für die Praxis
Die Zuweisungen für opioidabhängige Versicherte in Substitu-tionstherapie sind mit rd. 9.014 Euro etwa dreimal so hoch wie die durchschnittlichen Morbi-RSA-Zuweisung in Höhe von 3.033 Euro. Verglichen mit den durchschnittlichen Gesamtkosten in Höhe von 7.473 Euro für Opioidabhängige in Substitutionstherapie übersteigen die Einnahmen der GKV somit die Ausgaben um 1.541 Euro, oder 20%. Bei opioidabhängigen Patienten in Substitutionstherapie kann es sich daher um ein versicherungsökonomisch attraktives Klientel aus Sicht der GKV handeln, da diese positive Deckungsbei-träge in Höhe von 1.541 Euro aufweisen.
Der Vergleich zwischen Versicherten mit und ohne Substitu-
tionstherapie zeigt, dass die Krankenkassen im Schnitt 9.014 Euro Zuweisungen für Versicherte in Substitutionstherapie erhalten, für Versicherte ohne dagegen 8.431 Euro. Bei Versicherten, die vier oder weniger HMG erzielen, werden für Versicherte in Substitutionstherapie sogar 1.753 Euro höhere Zuschläge erzielt. Auch eine gezielte Förderung des Zugangs zur Substitutionstherapie kann daher ökonomisch vorteilhaft sein.
Zudem entgehen den Krankenkassen durch suboptimale Versorgungsprozesse jährlich Einnahmen in der Höhe von ca. 44.028.000 Euro, rd. 863 Euro je Versicherten, obwohl Behandlungen erfolgen und den Krankenkassen durch die Versorgung Ausgaben entstehen. Die Erkrankungen, bei denen sich eine nicht regelmäßige Therapie am stärksten auswirkt, sind dabei Hepatitis C ohne Dauermedikation, COPD, Depression, Persönlichkeitsstörungen, chronischer Schmerz und HIV/AIDS.
Aus der vorliegenden Studie ergeben sich aus unserer Sicht folgende Implikationen und Handlungsempfehlungen: Zum einen könnten ambulante Kodierrichtlinien für eine höhere Dokumentationsqualität und -spezifität sorgen und dadurch die Refinanzierung der Versorgung durch einen zielgerichteten Ausgleich im Morbi-RSA erleichtern. Zum anderen sind Maßnahmen der Versorgungssteuerung bei der Behandlung der Opioidabhängigkeit nötig, um Therapieabbrüche zu verringern und durch eine abgestimmte Versorgung auch ambulant-sensitive Krankenhausfälle zu verringern. Dies könnte für Krankenkassen besonders attraktiv sein, da eine Verbesserung der Versorgungsqualität aus den Überschüssen des Morbi-RSA in Höhe von 1.541 Euro erfolgen kann und nicht, wie im Hochkostenfallmanagement sonst üblich, aus einer Situation von ohnehin negativen Deckungsbeiträge investiert werden muss.
Selbst wenn die Investitionen keinen Erfolg hätten, würde die Krankenkasse also immer noch von positiven Deckungsbeiträgen profitieren. Auch das Problem der adversen Selektion, also die Anwerbung von versicherungsökonomisch schlechten Risiken durch besondere Behandlungsprogramme und in der Folge eine weitere Verschlechterung der Finanzsituation, ist bei besonderen Behandlungs- und Betreuungsangeboten für Opioidabhängige nicht zu erwarten. Das Nutzen-Risiken-Verhältnis für die Investition in besondere Betreuungs- und Behandlungsverfahren erscheint bei Opioidabhängigen daher besonders günstig.
Eine solche Versorgungssteuerung von Krankenkassen kann sich dabei auf die folgenden vier Bereiche beziehen:
Erstens eröffnet die Ende 2017 erfolgte Novellierung der Betäubungsmittelverordnung durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, die am 30.05.2017 in Kraft getreten ist, den Krankenkassen neue Perspektiven der Behandlung von Opioidabhängigen. Die Erweiterung der „Take-Home-Regelungen“ zusammen mit der eigenen neuen Gebührenordnungsposition könnte mehr Ärzte veranlassen, Substitutionsbehandlungen anzubieten. Das Gesetz fordert neben der Substitutionstherapie auch eine psychosoziale Stabilisierung des Patienten, die vom behandelnden Arzt zu prüfen ist. Dies erfordert auch den Einbezug und die Koordination anderer Professionen aus dem Bereich der psychosozialen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Betreuung neben der speziellen fachärztlichen Behandlung. Das hierfür notwendige Fallmanagement könnten die Kassen übernehmen und entsprechende Verträge zur integrierten Versorgung mit speziellen Leistungserbringern abschließen. Dadurch würden etwa behandelnde Hausärzte entlastet.
Zweitens, könnte eine besondere Bedeutung im diesem Kontext künftig auch in telemedizinischen Ansätzen, z.B. im Bereich der psychiatrischen Behandlung, liegen. Denkbar sind genauso Online-Trainings oder Telefon-Coachings etwa zur Steigerung der sozialen Kompetenz der Patienten und der Therapietreue in der Substitu-tionstherapie, da diese gerade in der Opioidabhängigkeit von essenzieller Bedeutung ist.
Drittens könnten Kooperationen zwischen Kliniken und Kassen, auch vor dem Hintergrund der neuen Regelungen zum Krankenhausentlassungsmanagement, den Übergang von der stationären Entgiftung in der Klinik zum Beginn einer Substitutionstherapie verbessern. Gerade an der Schnittstelle zwischen stationärem und ambulantem Setting kann es zu Informationsverlusten und hohen Koordinationsaufwendungen kommen. Case Manager der Krankenkassen und der Krankenhäuser könnten gemeinsam direkt an einen stationären Aufenthalt anschließende ambulante Kurzzeittherapien ermöglichen und den Übergang in eine Reha oder ärztliche Behandlung mit Substitution organisieren und somit eine lückenlose Behandlung des Patienten sicherstellen.
Schließlich könnte eine explizite Förderung des Zugangs zu einer regelmäßigen Substitutionsbehandlung durch die Krankenkassen erfolgen: Diese vermeidet zum einen kostspielige Rückfälle, zum anderen wird die Regelmäßigkeit der Diagnosedokumentation und der Arzneimittelverordnungen sichergestellt. Dies hat das Potenzial die Kosten zu reduzieren, da beispielsweise kostspielige ambulant-sensitive Krankenhausfälle durch Rückfälle vermieden werden können (Reimer et al. 2018a). Zum anderen können durch weniger Therapieabbrüche die Morbi-RSA-Einnahmen steigen, da so eine regelmäßigere Dokumentation der Diagnosen und eine regelmäßige Arzneimittelabgabe zu erwarten ist. Die beschriebenen Effekte könnten beispielsweise durch die Förderung sozial-psychiatrischer Einrichtungen oder Drogenberatungsstellen durch Krankenkassen geschehen oder ebenfalls durch spezielle Case-Management-Angebote für opioidabhängige Versicherte. <<

Ausgabe 02 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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