„Wir brauchen Core Outcome-Sets für den Transfer“
http://doi.org/10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2151
>> Herr Prof. Schmitt, um die Übertragung von Forschungsergebnissen zu unterstützen, ist die sogenannte „Implentation Science“ gefordert, zu der es auf dem kommenden Deutschen Kongress für Versorgungsforschung (DKVF) 38 von insgesamt 520 Abstracts gibt. Ist das viel oder wenig?
Um ein Abstract einzureichen, muss man zuerst einmal gute, hochwertige und vorzeigbare Forschungsergebnisse vorweisen können, die man dann in einem zweiten Schritt in die Routineversorgung transferieren und diesen Transfer wiederum wissenschaftlich begleiten kann. Angesichts der in Deutschland doch recht jungen Wissenschaftsrichtung „Implementierungsforschung“ sind 38 Abstracts, die auf dem kommenden DKVF in Sessions und auch einigen Postern zu sehen sein werden, schon recht beachtlich. Auch sind die 38 Abstracts in der Rubrik „Implementierungsforschung und Ergebnistrans-fer“ nicht die einzigen, die sich mit dieser Thematik befassen, denn auch bei Themen wie Patient-reported Outcomes, Lebensqualität oder Datennutzung und Datenverfügbarkeit ist der Ergebnistransfer implizit. Damit findet sich das Thema Transfer und Übertragbarkeit in verschiedensten Sessions wieder.
Wäre eine Meta-Session „Implementation Science“ nicht besser gewesen, um dieses Thema prominenter in den Fokus des Kongresses zu stellen, der sich doch explizit mit dem lernenden Gesundheitswesen beschäftigen will?
Wir haben bei diesem Kongress erstmalig die Autoren gebeten, selbst zuzuordnen, ob ihr Beitrag eher praxisrelevante Ergebnisse zeigt, auf Methoden fokussiert ist oder mehr dem Ergebnistransfer zuzuordnen ist. Diese Einordnung kann schon schwer fallen und die Grenzen sind teilweise fließend. Erstaunlich finde ich, dass weit über die Hälfte – immerhin rund 350 – der Autoren auf tatsächliche, praxisrelevante Ergebnisse oder den Ergebnistransfer fokussiert ist. Mit anderen Worten heißt das, dass Versorgungsforschung auf dem Weg aus der primär methodenorientierten Forschung zu praxisrelevanten Ergebnissen ist, wobei es künftig mehr denn je darum gehen wird, den Transfer in die Routineversorgung zu erforschen und zu beschreiben.
Der Innovationsfonds beendet gerade die erste Finanzierungsrunde, womit die ersten Evaluationen anstehen und dann womöglich die Implementierung. Finden sich Projekte des Innovationsfonds auch auf dem DKVF?
Aber sicher, in den verschiedensten Sessions. Wir sind auch in Gesprächen mit dem G-BA bzgl. eines gemeinsamen Workshop-Formats beim DKVF zum Thema Ergebnistransfer. Im Abschluss befindliche Projekte Neuer Versorgungsformen aus dem Innovationsfonds sollen hier vorgestellt und die jeweiligen Übertragungs- und Transferstrategien diskutiert werden. Zukünftig brauchen wir transparente Kriterien und übergreifende Pfade für den Transfer.
Da nun bald die ersten Evaluationen vorliegen werden, wäre das sicher auch dringend angesagt.
Obwohl der Transfer innovativer Versorgungskonzepte in die Regelversorgung im Moment in aller Munde zu sein scheint, gibt es leider bis dato keine etablierten Pfade, auf denen ein Transfer bei den doch recht komplexen Interventionen, mit denen wir uns derzeit beschäftigten, sicher funktioniert. Das ist bei Arzneimitteln, aber auch bei Medizinprodukten ganz anders, weil es hier seit Jahrzehnten etablierte Strukturen und Prozesse gibt.
Könnte nicht die Versorgungsforschung eine Art Transmissionsriemen oder gar die Funktion eines Enablers einnehmen?
Die Versorgungsforschung muss sich auch methodisch weiter entwickeln, um eine möglichst hohe, aber auch passfähige Evidenz für den Transfer komplexer Interventionen in die Regelversorgung sicherzustellen. Ich persönlich – aber die Diskussion dazu ist innerhalb der Versorgungsforschung noch in vollem Gange – bin nicht so ganz davon überzeugt, dass wir hier die gleichen Kriterien wie für Arzneimittel oder andere einfache Interventionen anlegen können.
RCT oder Nicht-RCT scheint hier die Frage zu sein.
RCTs haben eine besonders hohe Güte und liefern besonders hochwertige Evidenz – das trifft natürlich auch in der Versorgungsforschung zu. Wir brauchen aber nicht immer und überall eine randomisierte kontrollierte Studie, sondern müssen zuerst die Frage beantworten, wie viel Evidenz auf welchem Level tatsächlich notwendig ist, um mit hinreichender – nicht scheinbar absoluter – Wahrscheinlichkeit von der Wirksamkeit und Sicherheit einer komplexen Intervention ausgehen zu können. Diese Frage ist jedoch alles andere als trivial. Wir haben es bei komplexen und vielleicht auch noch sektorenübergreifenden Interventionen häufig mit sich verändernden Kontexten zu tun, die nicht immer in den Rahmen einer klassischen RCT passen. Es gibt aber auch Designs mit Randomisierung, die in vielen Bereichen der Versorgungsforschung anwendbar sind. Aber auch nach dem Transfer einer neuen Versorgungsform in die Regelversorgung sollte diese aus unserer Sicht zumindest vorübergehend weiter monitort werden.
Dann folgt nach der Evaluation eines Innovationsfonds-Projekts eine weitere?
Im Zweifel wird das wohl so sein müssen. Vielleicht muss man nicht so umfassend evaluieren wie im Innovationsfonds-Projekt an sich, doch wird schon ein Monitoring stattfinden müssen, wie sich ein geänderter Kontext der tatsächlich zur Regelversorgung gewordenen Projekt-Intervention bewährt und auf Dauer verhält. Das wird unterschiedlich zu einem Projekt-Setting sein, weil sich erst im wahren Regelversorgungs-Umfeld herausstellen wird, was tatsächlich in der Fläche funktioniert und was nicht.
Das ist doch für die beobachtende Versorgungsforschung nichts so arg Neues.
Das sicher nicht, aber für die intervenierende Versorgungsfor-schung. Sobald es um Interventionen geht, reden wir fast automatisch auch über den jeweiligen Kontext der Förderung, die nicht mit der normalen Regelversorgung vergleichbar ist, weil sich in einem Projektumfeld meist besonders motivierte Leistungserbringer zusammengefunden haben. Dazu kommt noch, dass jedem Partner eines solchen Förderprojekts bewusst ist, dass sein Tun und Handeln methodisch anspruchsvoll evaluiert wird, was ganz automatisch dazu führt, dass die Leistungserbringung eine andere als die in der Regelversorgung sein wird.
Wie geht man mit diesem Bias um?
Indem man nach dem Transfer von innovativen Konzepten in die Regelversorgung zumindest stichpunktartig und zeitweise ein Monitoring mitlaufen lässt, wobei Qualitätsmanagement vielleicht der bessere Begriff wäre.
Nach welchen Kriterien denn?
Diese gibt es noch nicht. Dazu haben wir jedoch eine interessante DKVF-Session mit Dr. Paula Williamson, Professorin für Medical Statistics am Institute of Translational Medicine und Associate Pro-Vice Chancellor for Strategy der University of Liverpool, die in ihrem Vortrag auf Core Outcome-Sets eingehen wird. Dieses Thema stammt aus der evidenzbasierten Medizin und beschreibt ein Set an Ergebniskriterien und Outcomes, die in allen klinischen Studien einheitlich gemessen werden sollten.
Was aber bisher nicht passiert.
Was leider viel zu oft nicht passiert, was aber auch kein großes Wunder ist, weil man sich dazu international auf zu messende Endpunkte einigen müsste, die obendrein auch noch patientenrelevant sein sollten. Doch gibt es international immerhin schon über 300 dieser Core Outcome-Sets, aber nur wenige aus Deutschland.
Warum?
Bisher wurde das Thema in Deutschland – anders als in vielen anderen Ländern – noch nicht so zentral platziert, aber die DFG hat es z.B. in die Ausschreibung zu Klinischen Studien aufgenommen. Aus meiner Sicht sind gerade jetzt, wo es um die Evaluation von Innovationsfonds-Projekten geht, die Core Outcome-Sets ein ganz zentrales Thema für den Transfer und nicht nur für die klinische Forschung. Dazu brauchen wir ganz dringend sowohl einheitliche Kerndatensätze als auch Outcome-Sets. Nur damit werden wir vergleichend den Erfolg des Transfers und bspw. auch Versorgungsqualität messen können.
Weil ansonsten im Endeffekt Äpfel mit Birnen verglichen werden und zudem jeder seine Endpunkte selbst definiert, was Metaanalysen unmöglich machen wird.
Das aber hätte man sich schon vor der ersten Ausschreibung überlegen müssen, nun wird man nur noch nachsteuern können.
Als Nichtmediziner würde ich sagen, dass es einen modulhaften Aufbau von Core Outcome-Sets geben muss, bestehend aus solchen, die bei allen Indikationen gleich sind, ergänzt durch jeweils indikationsspezifische.
Der internationale Konsens geht von vier Bereichen aus, aus denen man sich innerhalb einer Disziplin auf jeweils ein Outcome einigen soll. Der erste wären pathophysiologische Manifestationen, der zweite patientenberichtete Outcomes, der dritte gesundheitsökonomisch relevante Outcomes und die letzte die Sterblichkeit, die man aber auch breiter als Sicherheitsparameter auffassen kann.
Das wäre doch schon mal ein probates Kernset für den Innovationsfonds.
Das ist ein wirklich schönes Modell, weil man bei jedweder Intervention wissen muss, wie es sich in Punkto Sicherheit, Gesundheitsökonomie, patientenberichtete und pathophysiologische Outcomes verhält.
Wäre es zudem nicht auch sinnvoll – anders als bei der flächendeckenden Einführung der DMP – gleich von vorneherein ein Step-Design zu verwenden?
Das ist genau das, was das Netzwerk Versorgungsforschung dazu empfohlen hat. Doch man braucht nicht nur ein passendes Studien-design, sondern eben auch die richtigen Kriterien, nach denen monitort werden kann.
Ist das die Aufgabe der Versorgungsforschung?
Wer soll es denn sonst machen? Die Versorgungsforschung hat als einzige Wissenschaftsrichtung die richtigen Instrumente dafür. Nun müssen diese im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung auch angewandt werden.
Dies immer gemeinsam mit allen anderen Playern.
Anders wird das nicht gehen. Versorgungsforscher können Moderatoren und versierte methodische Begleiter, vielleicht auch manchmal Initiatoren sein. Doch sind immer andere Berufsgruppen für einen Prozess mitverantwortlich, den wir evaluieren und monitoren und dazu beitragen können, das Gesundheitssystem Stück für Stück zu verbessern.
Demnach kann die Versorgungsforschung im Zuge des Innovationsfonds endlich beweisen, dass sie in der Lage ist, diese Moderatorenrolle auch auszufüllen.
Genau das muss sie tun. Beim Innovationsfonds hat das Netzwerk Versorgungsforschung diese Rolle ganz bewusst eingenommen, auch in Verantwortung dafür, einen möglichst großen Impact des Innovationsfonds in die Regelversorgung zu erzeugen.
Wenn sie diese moderierende Rolle nicht einnehmen würde …
… wüsste ich gar nicht, warum es die Versorgungsforschung überhaupt geben sollte. Das habe jedoch nicht ich, sondern Professor Josef Hecken bei einem Meeting zwischen dem G-BA und dem DNVF-Vorstand gesagt, bei dem ich zugegen war. Da hat er auch Recht, denn das wird nach den vielen und auch wichtigen Jahren der Beschäftigung mit Methoden und Memoranden eine der ganz zentralen Aufgaben der Versorgungsforschung sein. Letzten Endes wird der Erfolg unseres Wissenschaftsfelds davon abhängen, wie gut uns diese evidenzgeleitete Transferbegleitung gelingen wird.
Die Versorgungsforschung wird damit von einem wissenschaftlichen Dienstleister zu einem wirklich gleichberechtigten Systempartner.
Da wollen wir hin. Erste Signale verschiedenster etablierter Stakeholdergruppen und auch der Selbstverwaltung zeigen schon jetzt, dass uns diese Rolle durchaus zugestanden wird.
Weil andere Stakeholder diese Rolle nicht einnehmen können oder wollen?
Die Rolle erfordert einen neutralen Status. Diesen hat in besonderem Maße die Versorgungsforschung. Leistungserbringer, Kostenträger und auch Patientenvertreter vertreten primär ihre Gruppe und haben teilweise eine eigene Agenda.
Weil sie entweder Profiteure, Bezahler oder Nutzer des Systems sind, die sich darin auch ganz kommod eingerichtet haben und gutes Geld verdienen. Jedwede Innovation bedeutet doch auch das Aufgeben oder zumindest Infragestellen bestimmter Pfründe, die man sich erobert hat.
Ich denke schon, dass heutzutage viele bereit für eine Weiterentwicklung sind.
Das sieht man an der gematik, erst nachdem das BMG 51 Prozent der Mehrheit übernommen hat ...
… kommt Schwung ins System. Man merkt aktuell ganz deutlich, dass da an vielen Fronten und bei vielen Thematiken gehörig aufs Gaspedal gedrückt wird. Das tut dem System aber auch ganz gut, weil damit Systeminnovationen eine bessere Chance bekommen.
Die woran gemessen werden?
Im Idealfall am Prinzip der Value-based Healthcare, also der wertebezogenen Medizin. Die Theorie der Harvard-Wissenschaftler rund um Professor Michael Porter, der dieses Prinzip beschrieben hat, besagt, dass man sogar bessere Ergebnisse für weniger Geld erzielen kann, wenn man die Versorgung sektorenübergreifend steuert.
Sektorenübergreifende Versorgung ist auch ein Thema auf dem kommenden DKVF, zu dem es immerhin 50 Abstracts geben wird.
Die sektorenübergreifende Versorgung ist ja quasi ein Dauerbrenner, da sie eigentlich bei jedem Gutachten vom Sachverständigenrat angemahnt wird. Sie ist auch ein großes Betätigungsfeld der Versorgungsforschung, weil nur sie herausfinden kann, wie nicht optimal eingesetzte Mittel durch bessere Prozesse, Versorgungspfade, Zusammenarbeit und Schnittstellenmanagement in eine effektivere Versorgung überführt werden können.
§ 12 SGB V verlangt aber nur eine zweckmäßige und ausreichende Versorgung, von der besten oder effektivsten ist da nicht die Rede.
Die Antwort darauf ist eben die Value-based Healthcare, die nur durch und mit einer gemeinsamen Verantwortung zum Erfolgsmodell werden kann. Hier steckt auch der Public-Health-Gedanke drin, auf den wir uns wieder stärker zurückbesinnen sollten.
Stichwort Verstetigung der Versorgungsforschungs-Förderung durch den Innovationsfonds ab 2019.
Die Versorgungsforschung soll bekanntlich künftig mit 20 Prozent der Gesamtsumme in Höhe von 200 Millionen pro Jahr gefördert werden. Kritisch sehe ich, dass eine Begrenzung auf maximal 15 Projekte pro Ausschreibungswelle gute und innovative Ideen ausschließen wird. Hier sollte man noch nachkorrigieren. Evidenzbasierte Leitlinien sind unbedingt zu unterstützen, aber deren Erstellung ist per se keine Versorgungsforschung. Erst wenn es um Leitlinienimplementierung geht, wären wir gefragt. Beim Innovationsfonds sollte zusätzlich über einen Transfer- und Monitoringfonds nachgedacht werden, damit die Überführung der Projekte in die Regelversorgung nachhaltig gelingt.
Herr Prof. Schmitt, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.
Zitationshinweis:
Schmitt, J., Stegmaier, P.: „Wir brauchen Core Outcome-Sets für den Transfer“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/19), S. 6-8; doi: 10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2151