Ergebnisse eines sektorenübergreifenden Workshops
http://doi.org/10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2090
>> Seltene Erkrankungen gehören überwiegend zu den erblichen Erkrankungen. Sie sind häufig lebensbedrohlich und können im Falle einer Nichtbehandlung zu chronischer Invalidität führen. Etwa 80% der Seltenen Erkrankungen sind genetischen Ursprungs, selten sind sie heilbar. Nach offiziellen Angaben leben in Deutschland etwa vier Millionen Menschen mit einer der weltweit bis zu 8.000 unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen, in der gesamten EU etwa 30 Millionen Menschen.2 Allerdings betreffen die einzelnen seltenen Erkrankungen nur wenige Menschen. Aus diesem Grund bedarf es einer besonders engen Zusammenarbeit aller Versorgungspartner, um sie zu diagnostizieren und so zu behandeln, dass die betroffenen Menschen am Alltag und auch Berufsleben teilhaben können. Seltene Erkrankungen sind häufig angeboren. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, die Erkrankungen zu erkennen und eine frühe Invalidität oder auch den frühen Tod dieser Menschen zu verhindern.
Das Bundesgesundheitsministerium nennt für die Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen als zentrale Herausforderung die Überwindung der regionalen Versorgungshürden:3 So erschwert die geringe Anzahl an Patientinnen und Patienten mit einer Seltenen Erkrankung die regionale Entwicklung von Versorgungsstrukturen (Experten, Versorgungszentren) und den damit einhergehenden intensiven Dialog zwischen den an der Versorgung beteiligten Partnern (Zentrum / Facharzt / Hausarzt /
Pflege). Gerade in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern müssen Patienten mitunter erhebliche Wegstrecken überwinden, um eine Therapie durchzuführen. Diese Situation bremst die Durchführung und Bereitstellung adäquater Therapien bzw. Medikation, die Durchführung klinischer Studien, und hat in der Konsequenz häufig die Folge, dass sich die betroffenen Patienten mit ihrer Erkrankung häufig alleine gelassen fühlen.
Nach Angaben des Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gibt es „nur“ in Rostock an der Universitätsmedizin ein Zentrum, das sich mit seltenen Erkrankungen beschäftigt.4
Für die Behandlung von Patienten mit Morbus Fabry gibt es jedoch kein eigenes Zentrum. Es finden Tage der Seltenen Erkrankungen statt.5
Morbus Fabry – eine seltene
Multiorganerkrankung
Morbus Fabry ist eine seltene lysosomale Speicherkrankheit. Ursache der Erkrankung ist der Mangel bzw. Defekt des Enzyms „alpha-Galaktosidase A“. Ein Mangel an diesem Enzym führt zur Ansammlung von Globotriaosylceramid (GL3 oder Gb3 abgekürzt) in den Lysosomen – d.h., dass Zellen Abfallprodukte des Zellstoffwechsels (zuckerhaltige Fettstoffe) nicht abbauen und sich diese unerwünschten Stoffe in den Zellen anhäufen. Männer sind meist schwerer betroffen als Frauen, da die Erkrankung auf dem X-Chromosom liegt und Männer nur ein X-Chromosom haben. Die Erkrankungshäufigkeit liegt bei schätzungsweise 1:30.000 bzw. 1:40.000 Patienten in Deutschland. Für Mecklenburg-Vorpommern würde dies circa 40 Patienten bedeuten. Im Rahmen von Neugeborenen-Screenings wurden erheblich höhere Häufigkeiten gesehen. Die Diagnostik von Morbus Fabry erschwert sich durch die vielfältige Symptomatik. Sie treten oft schon im Kindes- oder Jugendalter auf und betreffen Haut, Nieren, Herz und das Nervensystem. Experten sprechen daher oft von der „Multiorganerkrankung Fabry“.
Bereits im Alter von vier bis acht Jahren (also schon in der Kindheit) können die ersten erkennbaren Beschwerden beim Morbus Fabry auftreten. Diese sind zum Beispiel brennende Schmerzen in Händen und Füßen und auch Magen-Darm-Probleme oder auch die verminderte Fähigkeit zu schwitzen. Mit zunehmendem Lebensalter sind dann mehr und mehr Organe von der Fabry-Erkrankung betroffen. Es drohen vorzeitige Herzinfarkte oder Schlaganfälle und Nierenversagen. Der individuelle Verlauf der Fabry-Erkrankung ist nicht vorhersagbar. In dieser Beziehung ist jeder Fabry-Patient anders. Auch gibt es verschiedene Verlaufsformen des Morbus Fabry, abhängig vom Alter, Geschlecht, genetischer Variation und epigenetischen Faktoren. Bei einigen Patienten sind fast nur Herz-Symptome (Herzvariante) erkennbar, während klassische Krankheitszeichen an Augen und Haut oder Schmerzen fehlen können. Insgesamt kommt es in der Krankheitsentwicklung bei Morbus Fabry daher zu Funktionsstörungen vieler Organe, die zum Schlaganfall, Herzinfarkt bzw. Rhythmusstörungen oder zur Dialysepflicht bzw. Nierentransplantation führen können. Ohne eine Therapie versterben die Patienten bis zu 15 bis 20 Jahre früher als die Normalbevölkerung. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht das Fortschreiten der Erkrankung:6
Da Morbus Fabry selten vorkommt und das Krankheitsbild von Patient zu Patient variiert, erfolgt die korrekte Diagnose oft erst mit einer Verzögerung nach vielen Jahren. So landen die Patienten z.B. bei Fachärzten der Dermatologie, Nephrologie, Kardiologie oder Gastroenterologie. Es gibt auch Patienten, die beim Augenarzt durch Linsen- und Hornhauttrübungen auffallen. Diese Ärzte beurteilen häufig nur die für sie relevanten Symptome und sehen sie nicht im Kontext der Multiorganerkrankung Morbus Fabry. Hinzu kommen Unterschiede im Krankheitsverlauf zwischen Frauen und Männern. Bei Frauen zeigen sich die Krankheitssymptome häufig um bis zu sechs Jahre später und sind teilweise weniger stark ausgeprägt als bei Männern. Dies führt dazu, dass sich die korrekte Diagnose der Erkrankung bis zu 16 Jahre verzögern kann. Der Patient hat nach dieser Leidenszeit den Nachteil einer spät initiierten Therapie, so dass Krankheit und Organschäden schon weit vorangeschritten sein können.
Therapieprinzipien bei Morbus Fabry
Die Erfolgsgeschichte zur Behandlung von Morbus Fabry beginnt mit der Enzymersatztherapie, die seit 2001 in Deutschland verfügbar ist. Diese kausale Therapie ist lebenslänglich in Form von Infusionen des Enzympräparates durchzuführen. Durch das hinzugegebene Enzym können die in den Zellen der betroffenen Organe gespeicherten Abfallprodukte des Zellstoffwechsels abgebaut werden. Die beiden zur Verfügung stehenden Enzymersatztherapien unterscheiden sich hauptsächlich in der Dosierung des Enzyms α-Galactosidase.
Derzeit stehen drei Therapieoptionen zur Verfügung, von denen lediglich zwei das fehlende Enzym komplett ersetzen: Agalsidase alfa („Replagal“) sowie Agalsidase beta („Fabrazyme“).
Beide Enzymersatztherapien7 sind Infusionslösungen und im Intervall von zwei Wochen zu verabreichen. Die Dosierung erfolgt entsprechend des Körpergewichtes des Patienten. Bei der Infusionsgabe sind u.a. die Antikörperlast und potenzielle allergische Reaktionen des Patienten zu beachten. Die dritte Therapieoption ist die orale Verabreichung von Chaperonen, die bei geeigneten Mutationen (ca. 30% sind sog. „amenable“ Mutationen) eine Fehlfaltung des mutierten Gens korrigieren können können; Miglastad („Galafold“). Die Jahrestherapiekosten pro Patient liegen bei allen drei Therapieoptionen zwischen ca. 230.000 bis 250.000 Euro. Über alle Patienten und Produkte hinweg betragen die Therapiekosten für die gesetzliche Krankenversicherung derzeit ca. 120 Mio. Euro/Jahr.
Wichtig ist ein adäquates Monitoring der Patienten, um einerseits durch einen rechtzeitigen Therapiebeginn die Progredienz der Erkrankung zu bremsen und andererseits den Therapieerfolg zu kontrollieren. Zu diesem Zweck werden die Patienten jährlich einer Check-up Untersuchung unterzogen (bei Chaperon-Therapie halbjährliche Intervalle), die die Nieren, das Herz, das Nervensystem, die Schmerzsymptomatik etc. und biochemische Parameter erfasst. Das Monitoring ermöglicht Entscheidungen bezüglich eines Therapiestarts und gegebenenfalls einer Therapieanpassung.
Als neues Tool gibt es mit FASTEX (Fabry STabilization indEX)8 einen Score, der die klinische Stabilität durch Auswertung von sieben klinischen Parametern im Zeitverlauf ermittelt. Kontinuierlich dokumentierte Faktoren im FASTEX sind Parameter zur Beobachtung von Schmerzen und zerebrovaskulären Ereignissen, die Beobachtung der Niere im Hinblick auf die Entwicklung von Proteinurie und glomerulärer Filtration sowie des Herzens bezüglich Indikatoren der Herzinsuffizienz.
Patientenversorgung im Flächenland
Morbus Fabry ist – wie oben beschrieben – eine Multiorganerkrankung. Deshalb ist es erforderlich, in interdisziplinärer Zusammenarbeit ärztlicher Fachdisziplinen Symptome korrekt und zeitnah zu differenzieren, die richtige Diagnose zu stellen und entsprechende Therapie einzuleiten. Unter dieser Perspektive erfolgte die Diskussion von Versorgungsaspekten für das Flächenland Mecklenburg-Vorpommern.
Eine Herausforderung ist die frühzeitige Dia-
gnosefindung. Dies betrifft jedoch nicht nur ein Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern, sondern ganz Deutschland. Hürden sind in diesem Bereich z.B. fehlendes Wissen in der Ärzteschaft über die Erkrankung, fehlende Vernetzung für interdisziplinäre Beratungen, Therapie- und Regressängste oder auch Distanz gegenüber Diagnostikinitiativen aus den Bereichen der Labormedizin oder der Pharmaindustrie aufgrund fehlendem Wissen von Ärzten zur Datenneutralität und der strikten Trennung zwischen Labor und Therapieentscheidung.
Zu den Lösungsansätzen zählen daher zunächst die breite Information über Morbus Fabry in den ärztlichen Fortbildungen, z.B. als festes Element der jährlichen Fortbildungswoche der Ärztekammer. Weiterhin ist die Information und Mitwirkung von Patienten im Hinblick auf ein Familienscreening wichtig. Bei Morbus Fabry als genetisch übertragener Erkrankung finden sich im familiären Umfeld von Patienten potenziell weitere Patienten. In begründeten Fällen und der Mitwirkung von Patienten und deren Angehörigen ist die genetische Diagnostik der direkte und schnelle Weg, um potenzielle Fabry-Familienmitglieder zu identifizieren und rechtzeitig zu therapieren. So gibt es Konstellationen, dass im Umfeld eines Fabry-Patienten weitere 5 bis 10 Familienmitglieder von der Erkrankung betroffen sein können. Hier können Kostenträger unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation aktiv an der Familienansprache mitwirken.
Die weitere Herausforderung besteht darin, die Möglichkeiten der Morbus Fabry-Therapie strukturell in Mecklenburg-Vorpommern zu etablieren. Ein Problem ist hierbei auch eine adäquate Vergütung für die ärztliche Leitung und die Etablierung angemessener Abrechnungsmodalitäten für die Infusionen in den Praxen und für die Heimtherapie. In einem Flächenland entfallen mit der Heiminfusion lange Anreisezeiten/Krankentransporte für die zweiwöchentlichen Infusionen.
Vorbild für das regelmäßige Therapiemonitoring ist ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum, wie z.B. das Fabry-Zentrum Münster an der dortigen Universitätsklinik.9 Ein solches Zentrum vereinigt lokal die Interdisziplinarität von insbesondere Kardiologie, Nephrologie und Neurologie, es leistet die breite Patienteninformation und individuelle Beratung sowie die Erreichbarkeit für Ärzte in der näheren und weiteren Region. Außerdem besteht die Möglichkeit, spezifische Kontaktansprechpartner in den Regionen zu etablieren. Das Zentrum fördert die weitgehend ambulante Versorgung von Patienten und ermöglicht eine mit niedergelassenen Ärzten abgestimmte Therapie. Schließlich ist das Zentrum ein Anker für die Selbsthilfegruppe der Patienten. Zur Unterstützung der Patienten gehören auch die Hilfestellung beim Schriftwechsel mit Krankenkassen, Ämtern und Behörden sowie Fortbildungsveranstaltungen für Patienten und Ärzte, insbesondere für Hausärzte.
Ein weiterer Diskussionspunkt war die Etablierung regionaler Strukturen zur Versorgung der Morbus Fabry-Patienten in Mecklenburg-Vorpommern. Zustimmung unter den Teilnehmern fand die Idee, ein regionales interdisziplinäres Konsil zu etablieren. Dieses Konzil könnte gleichermaßen bei inhaltlichen Fragen der Patiententherapie, des Therapiemonitorings und organisatorischen Fragen unterstützen. Möglich wäre die Etablierung eines „Leit“-Arztes Fabry innerhalb eines interdisziplinären Teams aus Neurologie, Kardiologie und Nephrologie. Räumlich ließe sich ein solches Expertenteam z.B. an einem Zentrum für seltene Erkrankungen an einem Universitätsklinikum oder an ein Dialysezentrum anbinden.
So gibt es im Land in allen größeren Städten Dialyseeinrichtungen.10 Förderlich für diese Anbindung ist, dass die Therapie häufig in Dialysezentren stattfindet. Diese haben die ärztlichen und organisatorischen Voraussetzungen zur Umsetzung der Infusionstherapie und haben den Vorteil – im Vergleich zur Heimtherapie – der vorhandenen Präsenz und Erreichbarkeit eines Arztes – speziell bei potenziellen allergischen oder sonstigen Komplikationen der Infusionsgabe.
Auch lässt sich die gegenseitige Konsultation der unterschiedlichen Fachdisziplinen durch moderne Kommunikationsformen der Telemedizin unterstützen, wie Web-Konferenzen oder Telekonsile. Anregungen hierfür gibt es im Land z.B. innerhalb der vom Innovationsfonds geförderten Telemedizinprojekte.
Zielführend ist insgesamt, die Fabry-Kompetenz an vorhandene Versorgungsstrukturen anzuknüpfen und dort ein interdisziplinäres Fabry-Konsil zu etablieren. Nicht förderlich sind spezielle Selektivverträge nach §140a SGB V
aufgrund der relativ hohen Transaktionskosten im Vergleich zur Anzahl der einzuschließenden Patienten. Neben dem eher ambulanten Fokus an Dialyseeinrichtungen besteht die Option, bestehende Hochschulambulanzen für die ambulante Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen zu erweitern. Diese wären als Fabry-Fokus in die generelle Klinikstrategie einzubinden. <<
Autor:
Dr. Günter Jost,
Geschäftsführer des UCEF
Das Unabhängige Centrum für empirische Markt- und Sozialforschung GmbH (UCEF) in Rostock entwickelt unter Leitung von Dr. Günter Jost Lösungen für ein breites Themenspektrum für den Gesundheitsmarkt, über Markt- und Sozialforschung und Stadt- und Regionalforschung, bis hin zur Prognostik und Modellentwicklung.
Im Gesundheitsmarkt ist eines der Forschungsschwerpunkte des UDEF die Versorgungs-
forschung auf Grundlage von Massendaten zur ambulanten und zur stationären gesundheitlichen Versorgung geworden. Dazu kommen Analysen zur Morbidität und Demografie, Planungsmodelle und Planungstools bis hin zu eigenen, regionalisierten Prognoseverfahren.
Darüber hinaus veranstaltet das UCEF seit vielen Jahren einen sektorenübergreifenden Gesprächszirkel im Bereich der Gesundheitsversorgung zu zentralen Herausforderungen der Patientenversorgung in Mecklenburg-Vorpommern.
Zitationshinweis:
Jost, G.: „Ergebnisse eines sektorenübergreifenden Workshops“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (02/19), S. 44-46; doi: 10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2090